Obdachlos und krank : Sashos Odyssee

Sasho ist krank. Aber nicht krank genug, um als Notfall zu gelten. Foto: Miguel Ferraz

Er ist 66 Jahre alt, obdachlos und krank. Das Beispiel von Sasho zeigt, wie schwer sich Hamburg mit der Gesundheitsversorgung von Obdachlosen tut.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Kein Notfall?

Anfang Oktober 2022 meldet sich Ronald Kelm bei Hinz&Kunzt. Der 61-Jährige hat das Gesundheitsmobil gegründet und versorgt mit anderen Medizinprofis ehrenamtlich Obdachlose. Kelm wirkt aufgebracht, redet schnell. So etwas habe er noch nie gesehen: „Wir haben gerade einen Mann behandelt, der einen Leistenbruch im Hodensack hat: Dem sind die inneren Organe und der Darm zwischen die Beine gerutscht. Das muss dringend operiert werden“, sagt Kelm. Das Pro­blem: „Weil das nicht als Notfall gilt, nimmt ihn kein Rettungswagen mit.“

Wir treffen den Mann. Sasho, 66 Jahre alt, Bulgare. Früher hat er als Fensterbauer in seiner Heimat und in Tschechien gearbeitet, erfahren wir mithilfe eines Übersetzers. Im Juli 2022 sei er in Hamburg gestrandet, mache seitdem Platte vorm Hauptbahnhof. Selbst mit Kleidung ist die bis zur Kniekehle hängende, sack­artige Beule, die vom Hodenbruch herrührt, nicht zu übersehen. Das Gesundheitsmobil ist nicht Sashos erster Kontakt mit dem Hamburger Gesundheitssystem. „Er wurde vorher schon in einem Krankenhaus untersucht, aber wieder entlassen“, berichtet Kelm. „Im Arztbrief stand, dass seine Verletzung kein Notfall ist und die Kostenfrage geklärt werden muss.“ Doch Sasho trägt keine Ausweispapiere bei sich. Schlechte Voraussetzungen für eine Behandlung. Schon 2009 hat die Diakonie den schwierigen Zugang zum Krankenversicherungsschutz „als Kernproblem“ osteuropäischer EU-Zugewanderter in Hamburg identifiziert. Sasho ist krank, aber es geht (noch) nicht um Leben und Tod. Wie hilft Hamburg Menschen wie ihm?

Hilfe für kranke Obdachlose

Vier Schwerpunktpraxen – drei von F&W, eine von der Caritas – behandeln obdachlose Menschen in Hamburg, hinzu kommt eine Sprechstunde im Diakonie-Zentrum für Wohnungslose und die ehrenamtliche „Praxis ohne Grenzen“. Die Caritas-Krankenstube bietet 15 Betten, vier weitere sind für Tuberkulose-Patient:innen und eins für Isolierungen reserviert. Die Caritas betreibt auch ein Kranken- und ein Zahnarztmobil. Ehrenamtlich organisiert sind Gesundheits­mobil und ArztMobil. In der neuen Bahnhofsmission wird es einen Pflegeraum für assistenzbedürftige Obdachlose geben. Die Tagesaufenthaltsstätte Mahlzeit bietet neben Sprech­stunden auch Wundversorgung an. sim

Ohne Versicherung

Drei Tage nach seiner ersten Begegnung mit Sasho steht Ronald Kelm wieder am Hauptbahnhof. Er hat einen Bulli für den Krankentransport organisiert. Ziel: die Schwerpunktpraxis in Hamburgs ältester Notunterkunft für Männer, dem Pik As. Dort empfängt Pflegefachkraft Jörg Wiltschek den Obdachlosen mit freundlichem Lächeln. Da auch Krätze-Verdacht besteht, rasiert er Sasho zuerst die Haare. Wiltschek verständigt sich mit Hand und Fuß: „Gleich kommt noch dein Bart ab und dann bist du ‚mladý muž‘, ein junger Mann!“ Die Gesichtszüge von Sasho entspannen sich. Nach dem Duschen wird seine trockene, aufgekratzte Haut eingecremt. Der Hodenbruch ist besonders empfindlich. „Das tut weh, das glaube ich“, sagt Wiltschek einfühlsam. Der Krankenpfleger sieht viele Obdachlose, deren Haut mit offenen Wunden übersät ist. Auch Läuse sind weitverbreitet. Wundpflege und Verbandswechsel gehören ebenso zu seiner Arbeit wie die Medikamentenausgabe. Mit einem Mittel ist es oft nicht getan: „Viele unserer Patienten haben multi­ple Erkrankungen“, sagt Wiltschek. Er holt frische Anziehsachen aus der hauseigenen Kleiderkammer für den Obdachlosen, dann geht Sasho in die Sprechstunde zu Martina Rüllmann.

Die Allgemeinmedizinerin behandelt schon seit fast zehn Jahren an ihrem freien Tag kranke Obdachlose. „Es ist schlicht eine Notwendigkeit“, sagt sie. „Viele trauen sich ja gar nicht in eine normale Praxis. Die Hälfte hat keine Versicherung.“ Nicht die einzige Hürde: Zwar gebe es mittlerweile niedrigschwellige Gesundheitsangebote, diese seien jedoch nicht miteinander vernetzt: „Untereinander haben wir keine Kommunikation, und das ist ein echtes Problem“, sagt Rüllmann. Vor allem für die Obdachlosen: „Die Leute holen sich ihre Medikamente mal von uns, dann wieder von anderswo.“ Das erhöhe die Gefahr von Unverträglichkeiten oder Überdosierungen. Die Ärztin weiß zudem oft nicht, wohin sie kranke Obdachlose nach einer Behandlung schicken soll. Die Krankenstube der Caritas auf St. Pauli, das einzige auf obdachlose Patient:innen spezialisierte stationäre Angebot, bietet gerade mal 15 Betten. Und die sind laut Rüllmann „fast immer belegt“. Praktiker:innen aus der Wohnungs­losenhilfe fordern seit Langem Krankenstuben für Obdachlose in jedem Bezirk. 

Notunterkunft statt Krankenhaus

Und Sasho? Die Ärztin rät, den Leistenbruch zu operieren, sobald die entzündete Haut abgeheilt ist. Nach Absprache mit dem städtischen Unterkunftsbetreiber Fördern & Wohnen (F & W) ist klar: Sasho wird zunächst per Taxi in die Friesenstraße ins städtische Winternotprogramm gefahren. Kranke Obdachlose dürfen dort auch tagsüber drinnen bleiben. Wer krank genug ist, entscheidet die Einrichtungsleitung in jedem Einzelfall gemeinsam mit Sozial­arbeiter:innen und medizinischen Fachkräften, so F & W. Ein Mal pro Woche sei ein Arzt vor Ort, zwei Mal täglich komme ein Pflegedienst. Der kranke Sasho hat nun immerhin erst mal ein Bett. 

„Blutige Entlassungen“

Problematisch: Obdachlose Patient:innen werden oftmals aus dem Krankenhaus entlassen, bevor sie genesen sind, so Axel Mangat von der Bahnhofsmission. Ohne Nachsorge landen sie wieder auf der Straße. Ein Grund für diese sogenannten „blutigen Entlassungen“: Die Behandlung ist oft teuer, viele Betroffene sind nicht krankenversichert. sim

„Es hat drei Tage und fünf Organisationen gebraucht, um den Mann von der Straße zu holen“, kritisiert Ronald Kelm das Krisenmanagement als zu schwerfällig: Gesundheitsmobil, Bahnhofsmission, die Beratungsstelle für wohnungslose EU-Bürger:innen plata, F & W als Unterkunftsbetreiber und die Schwerpunktpraxis waren involviert. Axel Mangat von der Bahnhofsmission bestätigt den zeitlichen Ablauf, sagt aber: „Drei Tage sind für den Mann total langsam und für uns extrem schnell.“ Es gebe Fälle, in denen seine Mitarbeiter:innen sich über Tage und Wochen aufreiben – nicht immer erfolgreich. Oft scheitere es schon an der Frage, wer die Person von A nach B fährt. „Egal, wie viel Energie wir aufwenden, unsere Wirkung verpufft manchmal, weil eine große Sache dann doch von so vielen kleinen Dingen abhängt“, sagt Mangat. Wie die Ärztin Martina Rüllmann beklagt auch der Leiter der Bahnhofsmission, dass es zu wenig Koordination zwischen Hilfseinrichtungen und der Stadt gibt. Ronald Kelm drückt es trockener aus: „Es ist alles ein großes Flickwerk.“

Kein Einzelfall

Im Januar treffen wir Sasho erneut. Die gute Nachricht: Er sieht erholter aus. Die Krätze ist überstanden. Die schlechte Nachricht: Die Beule zwischen seinen Beinen ist immer noch da. Hat man sich im Winternotprogramm um die Behandlung gekümmert? Wurde versucht, ihn in ein Krankenhaus oder die Krankenstube der Caritas zu verlegen? F & W will sich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht äußern: „Da keine Schweigepflicht-Entbindung vorliegt, können wir keine Auskunft zu dem Fall geben.“ Auch sonst zeigt sich der Unterkunftsbetreiber schmallippig. Wie viele kranke Obdachlose nutzen derzeit das Winternotprogramm? Diese Zahlen würden nicht gesondert erfasst, erklärt F & W. Aus einer Senatsantwort auf eine Anfrage der Linksfraktion geht aber hervor, dass sich Mitte Dezember 66 kranke Obdachlose auch tagsüber im Winternotprogramm aufhielten, 52 von ihnen in der Friesenstraße. Dort werden insbesondere Plätze für Menschen freigehalten, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, etwa Rollstuhlfahrer:innen.

„Das Hilfesystem versagt“

Wie geht es nun für Sasho weiter? „Ich weiß nicht, was der Plan ist“, sagt der Obdachlose. Klar ist: Sein Bruch verheilt nicht von allein, muss operiert werden. Sollten sich Teile des Darms einschnüren oder verklemmen, bestünde Lebensgefahr. Dann ließen sich nur mit einer Notfalloperation schwere Komplikationen vermeiden. Darauf hatte Ronald Kelm vom Gesundheitsmobil bereits hingewiesen, als er Sasho zum ersten Mal gesehen hat – Anfang Oktober 2022. Dass der Obdachlose noch immer mit schwerem Hodenbruch herumläuft, macht Kelm fassungslos: „Dass er nach drei Monaten nicht operiert wurde, zeigt eindeutig, dass das Hilfesystem, für das sich die Sozialbehörde ja so gern lobt, versagt.“ 

Notfall-Fonds für ausländische Nichtversicherte

Für Ausländer:innen ohne Papiere und Krankenversicherungsschutz gibt es seit 2012 die Clearingstelle im Flüchtlingszentrum. Sie prüft, ob Hilfsbedürftige ins Regelversorgungssystem integriert werden können. Auf Antrag übernimmt sie Kosten für akute medizinische Behandlungen.
Die Sozialbehörde stellt dafür einen Notfall-Fonds zur Verfügung. 2021 suchten 643 Menschen hier Unterstützung, da­runter 162 EU-Bürger:innen, 28 Obdach­lose und 16 Personen, die in Wohnunterkünften leben. Niedrigschwellige Beratung bieten auch das Medibüro Hamburg, die Praxis Andocken und die Malteser Migranten Medizin im Marienkrankenhaus. sim
Artikel aus der Ausgabe:

Wenn Armut krank macht

Wie Armut psychisch krank macht, wie kranke Obdachlose in Hamburg zu wenig Hilfe bekommen und wie eine Community Health Nurse den Bewohner:innen auf der Veddel hilft – mit Zeit. Außerdem: KI-Kunstwerke generiert aus Schicksalen von Obdachlosen und beindruckende Bilder aus Georgien.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Simone Deckner
Simone Deckner
Simone Deckner ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Kultur, Gesellschaft und Soziales. Seit 2011 arbeitet sie bei Hinz&Kunzt: sowohl online als auch fürs Heft.

Weitere Artikel zum Thema