Müll sammeln statt Mist bauen

Junge Männer aus St. Pauli gehen auf „Dreck Attack“, lernen reden und stecken sich hohe Ziele

(aus Hinz&Kunzt 180/Februar 2008)

Sieben Jugendliche aus St. Pauli wollen, dass ihr Stadtteil sauberer wird. Unter dem Namen „Dreck Attack“ putzen sie deshalb einmal pro Woche die Straßen. Ihr Engagement soll auch bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz helfen.

„Verdammte Scheiße!“, flucht Hinz&Kunzt-Fotograf Mauricio Bustamante und bringt das Problem damit auf den Punkt. Kaum zehn Minuten ist er in den Straßen von St. Pauli unterwegs und schon zum zweiten Mal in Hundedreck getreten. Für Özgür (Foto) ein weiterer Beweis, wie wichtig seine Arbeit hier ist.

Der Blick des 17-Jährigen ist konzentriert auf den Boden gerichtet. Sobald er Zigarettenkippen, Glasscherben oder eben Hundekot entdeckt, langt er mit seiner Greifzange routiniert zu und lässt alles in einem großen Müllbeutel verschwinden. „Dreck Attack“ steht hinten auf seiner neongelben Schutzweste, und der Name ist Programm: Özgür und sechs seiner Freunde zwischen 16 und 19 Jahren haben die Schnauze voll davon, wie schmutzig es in ihrem Viertel ist.

Die Stadtreinigung macht zweimal täglich sauber und kommt dem Dreck trotzdem nicht hinterher. „Direkt vor meiner Haustür stinkt es nach Hundescheiße“, beklagt sich Özgür. „Ich könnte kotzen.“ Tut er dann aber doch nicht. Stattdessen putzt er. Gemeinsam mit Kevin, Ömer, Timo, Christian, Yilmaz und Onur bildet er die Gruppe „Dreck Attack“ und rückt jede Woche für drei Stunden zum Müllsammeln aus.

Entwickelt haben die Jugendlichen diese Idee im Projekt „Big Point“ unter der Trägerschaft der Gemeinwesenarbeit St. Pauli-Süd e. V..

Sozialarbeiter Richard Krauß will den jungen Männern mit „Big Point“ helfen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Als der 36-Jährige vor zwei Jahren mit seiner Arbeit auf St. Pauli anfing, fiel ihm auf, dass nach Schulschluss viele Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren auf der Straße rumhingen. Die meisten von ihnen junge Männer mit Migrationshintergrund und ohne Zukunftsperspektive. „Da war klar, dass wir etwas tun müssen, damit sie nicht abrutschen.“

Krauß fragte rund 80 Jugendliche, ob sie Interesse an regelmäßigen Treffen und Hilfe bei der Suche nach Ausbildungsplätzen hätten. Mit jedem der jungen Männer machte er anfangs drei Termine aus – wer nicht zu allen erschien, wurde nicht in die Gruppe aufgenommen. „Die Motivation, Hilfe anzunehmen und etwas im Leben zu verändern, muss schon von den Jugendlichen selbst ausgehen“, so Krauß. „Ich arbeite nur mit den Zuverlässigen zusammen.“

In diesem Fall sind das also Özgür und Co. Die Eltern der meisten Jungs kommen aus dem Ausland, doch sie selbst sind in Hamburg geboren und auf St. Pauli aufgewachsen. Sie kennen sich aus der Schule oder sogar von noch früher: „Kevin und ich haben uns schon hallo gesagt, als wir noch im Bauch waren“, witzelt Özgür. Alle haben ihren Haupt- oder Realschulabschluss, einen Ausbildungsplatz finden sie trotzdem nicht. „Nach unzähligen Bewerbungsabsagen ist man dann schon frustriert“, meint der 16-jährige Timo. Das Angebot von Richard Krauß, den die Jungs mittlerweile kumpelhaft „Richie“ rufen, kam also genau zur richtigen Zeit. „Sonst würde ich jetzt rumhängen und Scheiße bauen“, glaubt Özgür.

Seit August vergangenen Jahres treffen sie sich zweimal die Woche, haben in dieser Zeit auch das „Dreck Attack“-Konzept entwickelt. Ansonsten klönen sie, kochen, machen Sport – und bereiten sich auf Bewerbungsgespräche vor, was den jungen Männern besonders viel Einsatz abverlangt. Untereinander sprechen sie wie viele Jugendliche auf der Straße, nennen sich „Digger“ und „Alter“, ihre Sätze sind abgehackt. Krauß ließ sie darum anfangs unter anderem Redeausschnitte aus

Büchern vorlesen, nahm alles mit der Videokamera auf. Beim Auswerten wurde den Jungs klar, wie schwierig es für sie ist, mit Erwachsenen „normale“ Gespräche zu führen – beispielsweise sich vorzustellen, Wünsche zu äußern oder geschickt zu argumentieren. „Wir lernen hier richtig reden“, fasst Özgür zusammen. „Das ist gut.“

Vor einem Jahr sahen seine Nachmittage ganz anders aus. Man habe durchaus „ganz klischeehaft“ oft „rumgegammelt“, gelegentlich Wasserpfeife geraucht oder aus Langeweile auch Gruppen aus anderen Stadtvierteln „angemacht“. Ins Detail will keiner der sieben gehen.

Diese Phase ist für sie abgehakt.

Obwohl die „Dreck Attack“-Gruppe heute erst zum dritten Mal sauber macht, haben sich die jungen Männer schon an ihre neue Rolle mit Vorbildfunktion gewöhnt. Gezielt sprechen sie Anwohner und Vorbeikommende an und laden zum Mitmachen ein. „Die meisten reagieren positiv“, findet Ömer. „Einige fragen aber auch, ob wir Ein-Euro-Jobber sind oder Sozialstunden leisten müssen“, ergänzt Timo. „Die können sich einfach nicht vorstellen, dass wir das freiwillig machen.“ Einmal wurden sie sogar als „blöde Schwuchteln“ beschimpft. Die jungen Männer kümmert das nicht: „Das sagen nur Leute, die nichts im Gehirn haben“, winkt Özgür ab.

Dass seine Jungs sich ihrer Arbeit nicht schämen, sondern dadurch sogar neues Selbstbewusstsein aufbauen, ist für Richard Krauß der beste Beweis für den Erfolg von Jugendprojekten. Nicht zuletzt im Kampf gegen zunehmende Gewalt in dieser Altersgruppe. Von Erziehungscamps und härteren Strafen hält er nichts, stattdessen müssten Jugendliche Zukunftsperspektiven angeboten bekommen. „Denn wenn sie im Leben etwas zu verlieren haben“, so Krauß, „dann geben sie sich auch Mühe, es nicht zu verlieren.“ Bei den jungen Männern von „Dreck Attack“ scheint es zu funktionieren. „Wirklich stolz bin ich aber erst“, fügt Krauß hinzu, „wenn alle das Projekt durchziehen und nicht nach ein paar Wochen wieder aufhören.“

Anlass zur Sorge hat er bislang nicht. Die Jugendlichen sind motiviert und freuen sich über erste Erfolge: „Rund um die Schule sieht es schon viel sauberer aus als beim letzten Mal“, findet Özgür. Auch in Sachen Berufsorientierung hat das Projekt die jungen Männer bereits vorangebracht. Ömer hat einen sicheren Praktikumsplatz, Timo beginnt gerade ein Ausbildungsvorbereitungsjahr. Krauß hofft außerdem, dass Firmen auf seine Jungs aufmerksam werden und freie Ausbildungsplätze melden. Özgür hat sich durch die Erfahrung, wie viel sich durch gute Jugendarbeit erreichen lässt, sogar besonders ehrgeizige Ziele gesetzt: Erst will er seinen Realschluss und das Abitur nachholen, anschließend studieren. Traumberuf: Sozialarbeiter.

Maren Albertsen

Weitere Artikel zum Thema