Dieter, 72, hat seinen Stammplatz vor Rewe in Geesthacht.
Eigentlich steht Dieter montags nie auf seinem Stammplatz. Neulich zum ersten Mal. „Da hat eine Kundin gefragt: ,Wieso bist du heute hier?‘“, erzählt der Hinz&Künztler. „Ich hab geantwortet: ‚Ich muss Geld verdienen!‘ Da sagt sie: ,Oh, das ist ja schön!‘“ Dieter lacht – und freut sich. Einen richtig guten Draht habe er zu seiner Kundschaft in Geesthacht. „Die wollen mich da nicht missen.“ Dann wird er ernst: „Den Weg dorthin von meiner Wohnung in Lohbrügge schaffe ich bald nicht mehr.“
Obwohl man es dem 72-Jährigen nicht ansieht: Dieter kämpft mit seiner Gesundheit. Von schwerer körperlicher Arbeit sind seine Knie kaputt. Zum Gehen braucht er einen Rollator. Er hat Diabetes und chronische Bronchitis. All das hat ihn nicht umgehauen. Aber 2005 bekam er die Diagnose Makuladegeneration. Noch erkennt er schemenhaft Köpfe und Umrisse. Aber nicht mehr lange, dann wird er vollständig blind sein.
Dieter stammt aus Neuruppin in Brandenburg. Schon immer hatte er Probleme mit Obrigkeiten. 1972 – mit 22 Jahren – versuchte er, aus der DDR zu fliehen. Er wurde gefasst. Zu seiner Aversion gegen den Staat kam sein lockeres Mundwerk. „Bei der Gerichtsverhandlung habe ich zum Staatsanwalt gesagt: ‚Machen Sie doch mal das Fenster auf, dann kommt bisschen Gerechtigkeit rein‘“, erzählt Dieter. Er wurde zu vier Jahren und sechs Monaten Knast verurteilt. „Mir ham’ se nichts geschenkt“, sagt er.
Nach seiner Haftentlassung malochte er im Schlachthof und später auf einer Kolchose. Als ein Kollege 1979 fragte, ob Dieter mit ihm einen Fluchtversuch wagen würde, machte er mit. Über Ungarn glückte der Plan diesmal.
Dieter verschlug es nach Hamburg. Hier arbeitete er wieder im Schlachthof. Als er Stress mit seinem Chef bekam, verlor er den Job und die vom Unternehmen gestellte Wohnung. Die für ihn viel zu hohe Miete hatte Dieter da schon länger nicht mehr bezahlt. „Ich hab das sausen lassen“, gibt er zu. Und Alkohol getrunken, „bis er mir aus den Ohren rausgekommen ist“.
Im Winter 1994 wurde Dieter obdachlos – und erlebte mit, wie ein Kumpel erfror, „weil der sich so viel reingeschüttet hatte“. Ein Schock für Dieter, der daraufhin unbedingt runter wollte von der Straße. Eine Sozialarbeiterin half ihm, in einem Hotel unterzukommen. Von da schaffte er es zurück in eine eigene Wohnung und eine Festanstellung. Eines Tages rief ihn die Buchhaltung zu sich wegen einer Gehaltspfändung. Bei der Schuldnerberatung fragten sie ihn: „Weißt du überhaupt, wo und wie viele Schulden du hast?“ Dieter musste passen. „Geld hat mich nie interessiert“, sagt er. Es waren 30.000 Euro.
Heute ist Dieter zwar schuldenfrei. Aber als 2005 seine Augenprobleme begannen, wurde er arbeitsunfähig. Die geringe Frührente reichte hinten und vorne nicht. So kam er 2013 zu Hinz&Kunzt. Bisher kam Dieter einigermaßen zurecht. Doch inzwischen liegt seine Sehkraft bei nur noch drei Prozent.
Glück im Unglück: Die Krankenkasse hat die Kosten für eine Spezialbrille mit integriertem Computer übernommen. Gerade übt Dieter, sie per Handzeichen und mit seiner Stimme zu steuern. So kann er sich zum Beispiel Texte vorlesen lassen. „Ich kriege das schon hin mit dem Gerät“, ist Dieter zuversichtlich. „Der Optiker hat gesagt: ,Ich werde dir alles beibringen.‘“
