Obdachlose in Berlin : Wie der Kältebus Leben rettet

Redakteur Benjamin Laufer ist eine Nacht mit dem Berliner Kältebus unterwegs gewesen. Der Bus bringt hilfsbedürftige Obdachlose in Unterkünfte. Nun soll auch in Hamburg ein Kältebus kommen. Foto: Mauricio Bustamante.

Seit 1994 fährt der Kältebus der Berliner Stadtmission im Winter durch die Hauptstadt und bringt hilflose Obdachlose in Notunterkünfte. Das könnte ein Vorbild für Hamburg sein.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Wie vielen Obdachlosen der Kältebus schon das Leben gerettet hat, kann Yannick Büchle nicht genau sagen. Aber zehn bis 15 Mal allein im vergangenen Winter habe er sich nach einer Nacht im Bus gedacht: Wären wir nicht gewesen, dann wäre es richtig knapp geworden. Der 22-Jährige packt eine Thermoskanne mit Tee und ein paar Schlafsäcke und Isomatten in den Kofferraum des dunkelblauen Mercedes Vito der Berliner Stadtmission.

Er wird diesen Bus in dieser Dezembernacht sechs Stunden lang durch die Hauptstadt fahren und damit Obdachlose aufsuchen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Weil sie so gebrechlich sind, dass sie es alleine nicht in eine Notunterkunft schaffen. Oder weil sie zu betrunken sind, um selbstständig dorthin zu gehen. „Für diese Menschen wollen wir da sein“, sagt Yannick. Und zwar ehrenamtlich und wie sich bald zeigt, aus tiefster Überzeugung.

Live aus dem Kältebus

Vor der Fahrt im Kältebus hat Redakteur Benjamin Laufer Fahrer Yannick Büchle im Livestream für unsere Facebook-Seite interviewt. Hier können Sie das Gespräch nachschauen:

https://www.facebook.com/HinzundKunzt/videos/220276228878772/?__xts__%5B0%5D=68.ARD9CAd1Kqxnb6qvFtirdPzvW6P5MqNo5pxcGWd0Nk5YgHqd9PCCUkc-nMs8XXPdNuV7k3MC32Xj2c7h-R2IUCNXKqRLT4fm9s6JMGWZIDz1stXIkySpczsPFd7Qs_94YgrYYwseQKDTB1fr9hWt1QFK2zzfUMZjqr45Gv10EH3UWOSZU88ZCECd0k3U_KOjDvb7SE9f_nZkYIxKUJDwvxi2jd-x8qGTHBRYY2Y64JhJ344DAx61DRef5nXOftSolVvVlcKK3dF7HyjTi_38HviUsxMo7qbSJFRLvPCOQESmdVnIJ5JZdYxfHTyVo08ezQ7vzoSLj4mmBeV5yHkHajkp&__tn__=-R

Punkt 21 Uhr. Yannicks Beifahrerin Brigitte Heib schaltet das Handy ein. Die Nummer 0178-5235838 haben sich inzwischen viele Berliner gemerkt oder ins Adressbuch gespeichert. Es dauert wirklich keine Minute, bis es klingelt. Die Rettungsstelle Hedwigshöhe hat einen Obdachlosen behandelt und möchte ihn entlassen – aber am liebsten nicht auf die Straße. Ob der Kältebus ihn in eine Notunterkunft fahren kann? Die 59-jährige Brigitte vertröstet den Anrufer auf später: Hedwigshöhe ist am Stadtrand und damit gerade sehr weit weg. Und weil der Obdachlose ja gerade im Warmen ist, ist dies kein Notfall.

Bis zu 100 Anrufe in kalten Nächten

Das Team muss abwägen: Gerade in kalten Nächten kommen schon mal 100 Anrufe rein. „Wenn es wirklich kalt ist, hetzt du von Auftrag zu Auftrag“, erzählt Yannick. Zwar fährt der Bus bei Bedarf auch durch die Außenbezirke, aber überall zu sein ist nicht zu schaffen. Deswegen versucht Brigitte schon am Telefon herauszufinden, ob der Obdachlose überhaupt in eine Unterkunft gebracht werden möchte. Und zum Glück gibt es seit einigen Jahren einen zweiten Kältebus in Berlin. Der fährt heute durch den Westen der Stadt. Kommt von dort ein Anruf rein, gibt Brigitte die Informationen per Telefon an das andere Team weiter.

Für uns geht es durch den Regen nach Friedrichshain. Ein Passant hat einen Obdachlosen im Rollstuhl gemeldet, der in eine Unterkunft möchte, den Weg alleine aber nicht schafft. Und damit sind wir direkt an einer Grenze des Berliner Hilfesystems angelangt: Weil die Notunterkünfte anders als in Hamburg größtenteils von Ehrenamtlichen betreut werden, nehmen sie in der Regel keine Rollstuhlfahrer auf. Im Hamburger Winternotprogramm gibt es sogar extra barrierefreie Zimmer für Obdachlose mit Rollstuhl, die hier von Profis betreut werden. Leider würden die freiwilligen Helfer in Berlin es nicht schaffen, sie ins Bett zu hieven, erklärt Yannick. Der Kältebus fährt sie dann an andere warme Plätze, Bahnhöfe zum Beispiel. „Wir versuchen immer irgendwas“, sagt Brigitte. Jemandem einfach stehen zu lassen kommt für die beiden jedenfalls nicht in Frage.

Yanick Büchle schiebt den Obdachlosen Zenon in die Unterkunft. Foto: Mauricio Bustamante

Zenon, der bei kalten 10 Grad im Regen in seinem Rollstuhl vor einer Sparkasse sitzt, hat Glück im Unglück: Weil er ohne Hilfe ein paar Schritte gehen kann, bekommt er ein Bett in der Notübernachtung am Containerbahnhof, einer Wärmelufthalle mit 120 Schlafplätzen. Bis morgen früh hat er hier einen Platz im Trockenen – dann schließt die Unterkunft, so wie das Hamburger Winternotprogramm auch. Die Ehrenamtlichen vom Kältebus wissen, dass sie den Obdachlosen immer nur kurzfristig helfen: „Natürlich würden wir den Menschen gerne mehr anbieten als eine Nacht im Warmen“, sagt Yannick. „Aber das können wir einfach nicht leisten.“

Viele Obdachlose sind in besonders schlechter Verfassung

Der Kältebus fährt direkt weiter, in der nahen Rettungsstelle Lichtenberg wird ein verletzter Obdachloser entlassen und mit dem Bus in eine Notunterkunft in der Samariterstraße gefahren. In Hamburg wäre er jetzt auf die Straße entlassen worden. Im Bus liegt ein beißender Geruch in der Luft, der Mitfahrer auf der Rückbank konnte sich offenbar längere Zeit nicht Waschen. Es ist für die Ehrenamtlichen nicht immer angenehm, im Kältebus zu fahren, räumen sie ein. Aber das schreckt sie nicht ab. „Ich treffe hier ganz viele Menschen mit zerbrochenen Biografien“, sagt Yannick. „Für diese Menschen möchte ich da sein, weil es mir so gut geht, obwohl ich gar nichts dafür kann, dass es mir so gut geht.“

„Wenn wir uns als Kältebus den Menschen nicht annehmen, dann macht es in dieser Stadt niemand mehr.“– Yannick Büchle

Gesunde Obdachlose schaffen den Weg in die Unterkünfte allein. Viele derjenigen, die sie im Bus mitnehmen, sind nach Jahren auf der Straße in besonders schlechter Verfassung. Manche hätten sie sich sogar eingekotet oder eingepinkelt, erzählt Yannick. Aber auch das sei kein Grund, jemanden nicht mitzunehmen: „Wenn wir uns als Kältebus den Menschen nicht annehmen, dann macht es in dieser Stadt niemand mehr.“ Und auch eingekotete Menschen hätten das Recht auf eine würdevolle Behandlung, da müssten Berührungsängste eben zurückstehen. Die Kältebus-Besatzung schützt sich mit Gummihandschuhen und hat eine große Flasche Desinfektionsmittel dabei, mit der regelmäßig die ledernen Sitzbänke gereinigt werden.

Brigitte Heib und Yannick Büchle fahren ehrenamtlich den Kältebus der Berliner Stadtmission. Foto: Mauricio Bustamante

23.15 Uhr, der Bus fährt durch den Osten der Stadt und das Handy klingelt erneut. Am anderen Ende ist eine Frau, die einen leblosen Obdachlosen an der Schönhauser Allee meldet. „Ich glaube, der ist tot“, sagt sie. Brigitte ist sofort klar: Das ist kein Fall für den Kältebus. „Dann rufen Sie bitte die 112 an“, sagt sie. Dort geht der Notruf nach Auskunft der Berliner Feuerwehr um 23.21 Uhr ein. Doch als der Rettungswagen eintrifft, sei die gemeldete „hilflose Person“ schon gar nicht mehr da gewesen. Ein Sprecher sagt, oft würden sich die Passanten nicht trauen, vermeintlich leblose Obdachlose anzusprechen. „Es kann durchaus sein, dass das eine schlafende Person war, die sich von dannen gemacht hat.“

Professionelle Retter und ehrenamtliche Kältebusfahrer arbeiten in Berlin Hand in Hand. Als der blaue Bus vor der S-Bahn-Station Warschauer Straße hinter einem Wagen der Bundespolizei hält, grüßt ein vorbeigehender Polizist freundlich durchs Fenster. „Das ist ganz cool“, freut sich Yannick über die Geste. Aber die käme ja auch nicht von ungefähr: „Wenn wir diese Arbeit nicht machen würden, müssten die sie machen“, sagt er.

Den Obdachlosen Dennis stattet das Kältebus-Team mit Schlafsack und Isomatte aus. Foto: Mauricio Bustamante

Dann steigen er und Brigitte aus. Zwei Passantinnen hatten angerufen, weil sie einen frierenden Obdachlosen getroffen haben. Von Yannick und Brigitte bekommt Dennis einen Schlafsack, eine Isomatte und einen Tee. Die Anruferinnen drücken dem Kältebus-Team Stirnbänder und Winterjacken in die Hand, als Spende für andere Obdachlose. Später werden die beiden sich erneut auf dem Handy melden, dann braucht ein anderer die Hilfe vom Kältebus.

Viel Unterstützung aus der Bevölkerung

Viele Berliner gehen mit offenen Augen durch ihre Stadt. Der Kältebus genießt in der Bevölkerung großen Rückhalt. Zwei Tage vor unserer Fahrt bedankten sich die Fahrer überschwänglich auf ihrer Facebook-Seite bei ihren Unterstützern. „Unserer Arbeit wird so viel Liebe entgegengebracht, das ist unglaublich!“, steht dort. Mehr als 1000 Menschen haben den Beitrag gelikt. Er endet so: „Das gibt uns die Kraft diese Arbeit Nacht für Nacht zu tun! Ihr seid unser Motor!“ Und auch das Benzin: Zu zwei Dritteln werden die Kosten für den Kältebus über Spenden finanziert. Nur ein Drittel kommt von der Stadt.

Als der Bus nachts um viertel vor 3 Uhr wieder auf das Gelände der Stadtmission fährt, hat er 88 zusätzliche Kilometer auf dem Tacho. 17 Anrufe sind in den sechs Stunden eingegangen, im Schnitt also alle 21 Minuten einer. Fünf Männer und zwei Frauen haben Yannick und Brigitte ins Warme gebracht. Eine verhältnismäßig ruhige Nacht für den Kältebus – aber es war ja mit 10 Grad auch nicht richtig kalt.

Ein Kältebus für Hamburg!

Es gibt in Hamburg viele Busse für Obdachlose: Der Mitternachtsbus der Diakonie bringt Suppe, warme Getränke und Schlafsäcke. Arztmobile versorgen sie medizinisch. Aber einen Kältebus, der die Kranken und Schwachen in die Unterkünfte fährt, so wie in Berlin, den gibt es nicht. Er könnte auch hier Leben retten. Joanna, Macij und Biggi: Das sind die bekannten Namen der Obdachlosen, die bislang in diesem Winter in Hamburg auf der Straße gestorben sind. Damit nicht noch mehr sterben, setzt sich Hinz&Kunzt nicht nur für die ganztägige Öffnung des Winternotprogramms für alle Obdachlosen, sondern auch für die Einführung eines Hamburger Kältebusses ein. Dazu gebe es im Senat „Überlegungen“, hieß es aus dem Rathaus in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion, die jedoch „noch nicht abgeschlossen“ seien. Immerhin: Ein „Nein“ war das nicht.
Autor:in
Benjamin Laufer
Benjamin Laufer
Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

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