Ika Sperling über ihren Vater : „Als hätte er permanent ein Leck“

Die Illustratorin Ilka Sperling hat eine Graphic Novel über Ihren Vater gezeichnet. Foto: MIguel Ferraz

Wie ist es, einen Angehörigen zu haben, der einer Verschwörungsideologie verfällt? Ika Sperling hat es erlebt und in ihrer autobiografischen Graphic Novel „Der Große Reset“ verarbeitet.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Sommer 2021. Die Studentin Ika ist auf Wochenendbesuch bei ihren Eltern im ländlichen Rheinland-Pfalz. Sie wird von der Schwester vom Bahnhof abgeholt, schmust mit dem Hund. In der Küche werkelt jemand, überall liegen Papiere herum. Es ist der Vater, und er ist kaum zu beruhigen, obwohl die Corona-Maßnahmen bereits gelockert worden sind: „Ihr glaubt einfach alles, was die Systemmedien euch vorkauen!“

Aussagen wie diese sind in Pandemiezeiten häufig gefallen. Sätze, die auch Jahre später noch präsent sind. Fast jede:r hat jemanden im Bekanntenkreis, der Ähnliches gesagt hat.

Doch Ikas Vater Mark geht einen Schritt weiter: Er hat konkrete Pläne, auszuwandern. Hat den Job ge­kündigt, das Haus verkauft. Die Emi­gration nach Paraguay, ein Land, in das man ohne Impfnachweis einreisen kann, ist beschlossen. Ika steht ein schweres Wochenende bevor – wieder mal.

Schon die ersten 27 Seiten von „Der Große Reset“ sind intensiv, be­unruhigend, surreal. Ika Sperling hat sie als Bachelorarbeit eingereicht, ­später wurde daraus eine Graphic Novel mit mehr als 170 Seiten.

Dunkle Bluse, Brille, Hose mit Schlag, ein unbekümmertes Wesen – Ika Sperling, die Autorin und Zeichnerin, hat viel gemeinsam mit Ika, der Hauptfigur des Buches. Obendrein hat die Autorin ähnliche Erfahrungen gemacht: Gemeinsam mit ihrer Familie musste sie lernen, mit einem Vater umzugehen, der sich langsam von seinem bisherigen Leben verabschiedet.

„Ich werde oft gefragt, wie viel im Buch echt ist“, sagt Sperling. „Kaum ­etwas davon ist genauso passiert, es sollte eine gute Geschichte ergeben. Aber was echt ist, sind meine Gefühle dazu. Und dann gibt es diese Dinge, die man sich nicht ausdenken kann.“

Es sind genau diese Szenen, die zu den berührendsten in „Der Große ­Reset“ gehören. Ika, wie sie neben der Schwester auf dem Bett liegend Handy­games spielt: zwei Erwachsene in fast kindlicher Pose. Ika, wie sie nach einer  fruchtlosen Diskussion über das Maskentragen in einer Arztpraxis neben ihrem Vater im Auto sitzt. Sie fahren schweigend, ehe der Vater ein Fast-Food-Restaurant ansteuert. Für Ika wird ungewollt
ein „Happy ­Meal“ bestellt; die Stimme am Drive-in-Schalter fragt: „Welches Spielzeug möchten Sie dazu?“ Ika, Mitte 20, ­bekommt eine kleine Plastikente, so als ließe sich damit ein Stück heile Kindheit heraufbeschwören.

Ika Sperling zeigt all das mit im Aquarellstil getuschten Bildern, sogenannten Panels, oft gehen die Sprechblasen über die Panels hinaus. Die Gefühle sind den Figuren überdeutlich anzusehen, sie reißen Mund und Augen weit auf. Vorbild: Mangas und Animes. Die japanischen Zeichentrickfilme entdeckte die Künstlerin als Kind auf Youtube: „Ich habe den Film pausiert, ein Blatt davor gehalten und die Figuren abgepaust.“

Sperlings erster Berufswunsch: Schriftstellerin. Doch sie leidet an Legasthenie, kann auch nach der Grundschule weder richtig lesen noch schreiben. Sie kämpft sich durch: „Fünf Jahre lang hatte ich täglich Lerntherapie. Ich musste jedes Wort lernen wie fremde Vokabeln. Dass das Wort ‚Fenster‘ mit ‚f‘ geschrieben wird, merke ich erst, wenn ich es schreibe.“

In der neunten Klasse wechselt sie auf das Landeskunstgymnasium Rheinland-Pfalz. Dort fühlt sie sich nicht mehr wie das „komische Manga-Kind“. „Ich habe mich gefragt: Wie heißt der Beruf, in dem man nur zeichnet? So bin ich auf Illustration gekommen.“

Ika Sperling arbeitet auf St. Pauli, wo sie neben Kolleginnen wie der bekannten Illustratorin Line Hoven einen Arbeitsplatz hat. Sperling ist 2017 nach Hamburg gezogen. Ihr Bachelor-Illustrationsstudium hat sie 2022
an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) abgeschlossen.

Am Thema ihrer Abschlussarbeit hatte sie lange gefeilt. Erst sollte es um biologische Feuchtpräparate gehen, dann um den letzten Mondfisch des Ozeanums Stralsund, wie Sperling mit ernster Miene erzählt. Bis ihr Line Hoven ein naheliegendes Thema vorschlägt.

„Ich habe riesigen Druck verspürt“, erinnert sich Sperling. „Ich saß zwei Jahre lang ständig heulend im Atelier. Line hielt die Probleme mit meiner Familie für ein Thema. Ich hatte aber keine Lust, mich auch noch in meinem Comic damit zu beschäftigen. 200 Seiten lang stehen Leute traurig in der Gegend rum? Wer will das lesen?“

Ika Sperling lässt sich überreden. Wochenlang sammelt sie kleine autobiografische Szenen auf Post-its, schnell gezeichnet. Auch Humor findet Platz, etwa wenn eine Familien­entscheidung per „Hühner-Bingo“ bestimmt wird: Es gewinnt, auf wessen Feld ein Huhn kotet.

Für den Vater entwickelt sie zunächst eine Platzhalterfigur. Ein Umriss, der zur Dauerlösung wird. Als durchsichtige Riesenblase mit Hang zum Schwurbeln geistert er durch „Der Große Reset“.

„Die Figur ist mit einer Flüssigkeit gefüllt und läuft das ganze Buch hindurch langsam aus“, so Sperling. „Eine Person an eine Verschwörungsideologie zu verlieren, ist, als würde sie ­permanent ein Leck haben. Sie verschwindet immer mehr, du kannst sie nicht festhalten. Und du weißt nicht, wo das Loch ist.“

„Reset“– das bedeutet, ein technisches Gerät zurück in den Ausgangs­zustand zu versetzen. Aber für Verschwörungsgläubige ist es mehr: Es ist die Sehnsucht nach einer vergangenen, vermeintlich unkomplizierteren, geordneten Welt. Ohne die Auswirkungen des globalen Kapitalismus, ohne aus der Not heraus entstandene Mi­grationswellen, ohne von „oben herab“ verordnete Regierungsentscheidungen. Für die Figur von Vater Mark lässt sich der ersehnte Ausgangszustand nur durch Auswanderung ­herstellen. Gleichzeitig ist der „Reset“ ein in rechten Zirkeln verbreiteter Glaube, nach dem eine globale Elite mithilfe einer inszenierten Pandemie eine neue Weltordnung plante.

Ika Sperling möchte der abstrusen Ideologie keinen Raum geben; eine entsprechende Szene im Buch hat sie wieder herausgenommen. Sie legt den Fokus auf die persönlichen, inner­familiären Auswirkungen, die der Glaube an solche Ideologien hat.

Die Autorin erinnert sich an ihren Vater: „Er war sehr oft ganz der Alte. Und dann wurde er auf einmal zu einer anderen Person und haute antisemitische Glaubenssätze raus! Ich konnte mit ihm nur eine Beziehung führen, wenn wir nicht darüber geredet haben. Im Buch ist es entspannter dargestellt, als es in Wirklichkeit war. Wenn ich das 1:1 erzählen würde, würde mir das niemand glauben.“

Die fiktionale Figur Mark bleibt ungreifbar und unbegreiflich, ein transparenter Geist, der mit seiner gelassenen Art in manchen Szenen sogar sympathisch wirkt. Der reale Vater von Ika Sperling ist inzwischen verstorben. 

„Was mich an der Beziehung be­lastet hat, ist jetzt in dem Buch“, sagt Ika Sperling. Und wirkt erleichtert dabei.

Artikel aus der Ausgabe:

Hamburg, kannst du Karneval?

Pünktlich zum Karneval wird aus einem Gottesdienst in Ottensen eine rheinische Prunksitzung. Hinz&Kunzt hat sich unter die Jecken gemischt. Außerdem: Tod und Trauer im Schwerpunkt. Ein Besuch im Hospiz. Bei einer Bestatterin. Und die Spurensuche nach einem verstorbenen Hinz&Künztler.

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Autor:in
Jan Paersch
Freier Kulturjournalist in Hamburg. Zwischen Elphi und Stubnitz gut anzutreffen - und immer auf einen Espresso.

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