„Wir haben so viel verpasst“

Wenn Kinder ins Heim kommen, muss das kein traumatisches Erlebnis sein. Bei SME finden sie Geborgenheit und ein Zuhause. Zu ihren Eltern behalten sie Kontakt.

(aus Hinz&Kunzt 192/Februar 2009)

Drei Jahre ist es her, dass wir Manfred, Johanna, Benedikt, Karolin und Reinhard (Namen der Jugendlichen geändert) besucht haben. Wir wollten wissen, was aus ihnen geworden ist. Denn sie leben zwar im Heim, aber in einem ganz besonderen: SME im Schanzenviertel kümmert sich nicht nur um die Kinder, sondern hilft auch den Eltern. 

„17 Tage“, Manfred zählt noch mal nach, „17 Tage war ich in Frankfurt bei meiner Mutter.“ Er lächelt, wenn er davon erzählt, von dem Silvesterabend, den die beiden, Mutter und Sohn, verbracht haben, „am Main, wir beide ganz allein“. „Haha“, hänseln die andern, „allein, da waren Hundertausend andere auch noch.“ „Ja, Mann, aber wir sind da zu zweit hingegangen“, sagt Manfred. Und man spürt, wie sehr der 17-Jährige das genossen hat.

Vor ein paar Wochen erzählte er noch, dass er im Sommer ganz zu ihr ziehen wolle. Er denkt solche Gedanken gern. „Wir haben damals doch so viel verpasst“, sagt er. Für seine Verhältnisse verwegen fügt er hinzu: „Und wenn’s schiefgeht, sagt Jojo“ – das ist einer der Betreuer – „dann komm ich halt wieder. Und dann hilft SME mir weiter.“

Aber etwas ängstlich ist er auch. Kein Wunder: Als er zehn Jahre alt war, ist seine Mutter verschwunden, von einem Tag auf den anderen. Lange wusste Manfred nicht, wo sie ist und ob sie überhaupt noch lebt. Dann erfuhr er, dass sie ohne ihn ein neues Leben angefangen hatte. Sein Stiefvater kam schon mit sich nicht klar, und mit der Erziehung eines kleinen Jungen war er komplett überfordert.Manfred wurde eines Tages aus der Schule geholt und von einer Sozialarbeiterin bei SME abgegeben. SME steht für Stadtteilbezogene Milieunahe Erziehungshilfen. „Ich wusste gar nicht, was das ist.“ Eine traumatische Situation für Manfred, der jetzt auch noch vom Stiefvater getrennt wird. Es hat Jahre gedauert, bis er glauben konnte, dass die Betreuer bei SME ihn nicht demnächst verlassen oder dass er nicht rausgeworfen wird, wenn er mal Mist baut.

Jetzt, nach Weihnachten, kehren bei Manfred die Zweifel wieder: Vielleicht kann seine Mutter ihn nicht aushalten. Vielleicht lässt sie ihn wieder allein. Da kann sie ihm zigmal erzählen, sie sei nicht von ihm weggelaufen, sondern vom Stiefvater, der sie immer geschlagen habe. Dass sie immer vorgehabt habe, ihn nachzuholen. Gemacht hat sie es nie. Seit er aus seinem Weihnachtsurlaub zurück ist, hat seine vorsichtige Seite wieder Oberhand gewonnen: „Vielleicht bleibe ich doch hier“, sagt er. „Ich bin gerade in der Schule gut, alles läuft gut, und ich bewerbe mich jetzt um einen Ausbildungsplatz.“ Am liebsten bei der Feuerwehr. Ein bisschen hört sich das wie der Traum eines großen Jungen an.

Auch wenn SME offiziell ein Heim ist, ist die Wohnung in der Margaretenstraße für Manfred und viele andere Jugendliche so etwas wie ein Zuhause geworden. Wenn er 18 wird, würde er auch gerne weiterhin bleiben. Wie viele andere hofft er auf die Einzimmerwohnung, die direkt an die Jugendwohnung angrenzt. „Da kann man das Wohnen schon mal üben“, sagt Manfred. So wie Johanna, die gerade dort wohnt.

Johanna ist mit einem Bein schon draußen. Zumindest übt sie sich in Selbstständigkeit. Die 19-Jährige bekommt Haushaltsgeld, davon muss sie selbst einkaufen. Und sie muss die Quittungen zeigen und sagen, was sie eingekauft hat. Auch für Ordnung muss sie sorgen – und den Müll runtertragen. Aber das Ganze ist noch Selbstständigkeit mit Netz und doppeltem Boden. Ein bisschen zeigt sich das daran, dass die Wohnung zwei Haustüren hat: eine führt in den Hausflur mit eigener Klingel, die andere in die Jugendwohnung, in der die anderen leben. So hat sie noch ein Stück Zuhause und Geborgenheit. Die hat sie sich von Anfang an bei SME gesucht.

Sie und ihr Bruder Benedikt feiern dieser Tage ihr zehnjähriges Wohnjubiläum im Projekt. Sie sind beide freiwillig gekommen. Als Siebenjährige ist Johanna immer wieder zur Polizei gegangen und wollte auf die Zustände bei sich zu Hause aufmerksam machen. Immer wieder brachte die Polizei das Kind zu der sympathischen Mutter in die aufgeräumte Wohnung zurück.Dass die Mutter in Wirklichkeit völlig überfordert, ihr Lebensgefährte gewalttätig war und sogar die älteste Tochter Lara missbrauchte, durchblickten die Beamten nicht. Aber irgendwann haben es die Kinder geschafft, zu SME zu kommen. Erst Lara, dann Johanna und dann Benedikt.

„Mit meiner Mutter konnte ich jahrelang nicht reden“, sagt Johanna. „Die war irgendwie gar nicht ansprechbar.“ Mit Hilfe von SME hat sich nicht nur das Leben der Kinder verändert, sondern auch das ihrer Mutter. Mit Unterstützung der Betreuer brachte die Mutter den Mut auf, Strafanzeige zu stellen. Ihr Lebensgefährte kam ins Gefängnis. Inzwischen geht es ihr und den Kindern gut, auch wenn die Kinder unter der Woche weiterhin bei SME leben.Die Mutter, die früher immer so abwesend und schwach war, ist inzwischen viel selbstbewusster und so etwas wie die beste Freundin von Johanna geworden. „Mit ihr kann ich über alles sprechen“, sagt sie. Aber sie ist froh, dass sie im Projekt an der Margaretenstraße aufwachsen durfte. All das, was sie in den vergangenen Jahren geschafft hat, hätte sie unter den gegebenen Umständen nie hingekriegt. „Niemand hat mir zugetraut, dass ich den Hauptschulabschluss mache, und ich habe ihn geschafft“, sagt sie stolz. „Und dass ich den Realschulabschluss versuche, hätte erst recht keiner erwartet, ich auch nicht.“

Momentan absolviert sie die Hauswirtschaftsschule, auch wenn sie nicht mehr Köchin werden will. Das ist ihr bei einem Praktikum klar geworden.
Jetzt will sie Altenpflegerin draufsatteln. Ein Praktikum hat sie schon gemacht. „Ich unterhalte mich gern mit alten Menschen, ich kümmere mich gern um sie, und es macht mir auch nichts aus, sie zu waschen.“ Sie hält kurz inne. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Ich glaube, ich finde es schön, anderen Menschen zu helfen, vielleicht, weil ich weiß, wie wichtig es ist, Hilfe zu bekommen, wenn man Hilfe braucht.“

Benedikt, der Bruder von Johanna, hatte sich bei unserem Besuch vor drei Jahren eher bedeckt gehalten. Seine Schwester sprach für ihn. Gerade ist er 18 Jahre alt geworden, und die Erziehungskonferenz, die zu seiner Volljährigkeit einberufen wurde, hat beschlossen, dass der Junge am besten weiter in der Wohngruppe bleibt, in seinem Zimmer. Er muss jetzt selbst einen Mietanteil an die Behörde bezahlen. Stolz ist Benedikt darauf, dass er das auch kann. Er hat nach dem Hauptschulabschluss eine Metallbau-Lehre angefangen. Von seinem ersten selbstverdienten Geld hat er sich einen großen Fernseher gekauft. Ein Symbol für seinen Erfolg.

„Mehr als die Hälfte meines Lebens bin ich jetzt hier“, sagt Benedikt, „ein bisschen ist das hier auch mein Zuhause.“ So hat er eben zwei davon. Denn auch die Wohnung seiner Mutter empfindet er seit einigen Jahren wieder als sein Zuhause. Aber auf „Hotel Mama“ darf er trotzdem nicht machen. Wer nach seinem 18. Geburtstag noch bleiben darf, hat eine „Mitwirkungspflicht“, die bedeutet: Du musst dich am Haushalt beteiligen, zur Schule oder zur Arbeit gehen.

Auffällig ist, wie gut sich die Kids ausdrücken können, auch und gerade, wenn es um Gefühle geht. Dabei ist Benedikt von Haus aus eher maulfaul. Aber auch er hat in dieser Hinsicht aufgeholt, spricht offen darüber, dass er früher Heimweh hatte, dass er aber lieber bei seinen Schwestern als „alleine“ zu Hause bleiben wollte. Dass er inzwischen ein tolles Verhältnis zu seiner Mutter hat, aber eben auch zu seinem Betreuer Jojo, von dem er weiß, dass er immer für ihn da ist. „Über Probleme zu reden, das lernst du hier“, sagt Benedikt. „Erst wirst du immer wieder angesprochen und zu einer Erklärung gedrängt, irgendwann ist man so geübt, dass man nur noch sagen braucht, was los war. Das geht dann ganz leicht.“ Das Reden allein ist es bei SME nicht. Die Betreuer wollen die Kinder dazu erziehen, „dass sie ihre Geschichte begreifen und akzeptieren und dass sie später in der Lage sind, für sich und ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen“, sagt Jojo Genuneit. Das ist manchmal ganz schön hart. „Wenn man Mist gebaut hat“, beispielsweise.

Vor drei Jahren zum Beispiel wurde Johanna von einer Jugendgang verprügelt. Mit dabei war ein Mädchen aus der anderen Kindergruppe. Die Betreuer riefen die Polizei, damit klar ist: Das war kein Kinderkram, für so etwas muss man sich verantworten. Und es gab eine Vollversammlung mit Kindern und Betreuern, in der die Tat besprochen wurde. Keine schöne Veranstaltung für die Schlägerin. Allerdings gab es auch die Betreuer, die das Ganze zusammen mit dem Mädchen durchgestanden haben. Prinzip: Ihr müsst die Suppe auslöffeln, die ihr euch eingebrockt habt – und da gibt es kein Pardon, aber wir helfen euch dabei. Und rausgeschmissen oder ausgegrenzt wird so schnell keiner.

Karolin ist so aufbrausend wie damals. Sie kommt rein, wirft sich aufs Sofa und schimpft über irgendjemanden, der sie doof behandelt hat. Die 17-Jährige wirkt so ablehnend, dass ich nicht sicher bin, ob sie überhaupt Lust auf ein Gespräch hat. Hat sie dann aber doch, und es dauert auch nur ein paar Minuten, bis sie sich wieder gefangen hat.

Aus ihrem Zimmer sind die Plakate von der Boygroup Tokio Hotel verschwunden. Stattdessen gibt es Fotos von Tieren oder selbstgezeichnete Bilder, richtig gute Bilder übrigens. Sie ist auf dem Sprung zu ihrer Mutter. Nach wie vor hängt der Hausfrieden zwar schief zwischen den beiden, weil Karolin das Gefühl hat, dass ihrer Mutter ihr neuer Mann wichtiger ist als ihre Kinder. Aber sie muss hin, sagt Karolin, weil sie bei ihrer Mutter sechs Sittiche hat, die sie versorgen muss. „Schließlich hab ich die ja auch angeschafft.“ Das, was sie bei ihrer Mutter vermisst, nämlich genügend Liebe und Aufmerksamkeit, vermisst sie auch oft bei anderen. „Viele sind genervt von mir, weil ich nur von Tieren rede“, so erklärt sie es sich, dass sie oft Stress mit anderen hat. Manchmal, da hat sie das alles satt: „Da hab ich das Gefühl, dass ich für andere nur ein dicker, fetter Pickel im Leben bin.“

Apropos Stress: Die Schule ist auch kein tolles Thema. Falls alles gut geht, will sie eine Ausbildung machen. Was, das weiß sie nicht genau. Zum Glück hat das noch etwas Zeit und zum Glück hat sie das Zeichnen. Und die Tiere …

Die Betreuer haben für den Stress, unter dem sie steht, großes Verständnis: „Karolin ist die realistischste von allen. Sie weiß, was auf sie zukommt im Leben“, sagt Betreuerin Yvonne. Und sie weiß, wie schwer es ist, all den Anforderungen gerecht zu werden. Aber sie versucht es mit aller Kraft: „Ihr Zimmer ist immer aufgeräumt, sie steht pünktlich auf, egal welchen Stress sie hatte und wann sie eingeschlafen ist, und wenn sie sich Geld leiht, zahlt sie es pünktlich zurück.“

Dass ich über SME als Heim schreibe, verletzt Karolin. Wer will schon, dass die Menschen, die sich um einen kümmern, dafür bezahlt werden. Aber im Grunde weiß sie, dass Maria, Jojo und Yvonne hinter ihr stehen. Zumindest für diese drei ist sie alles andere als ein „dicker, fetter Pickel im Leben“.

Kaum wiederzuerkennen ist Reinhard. Vor mir steht ein selbstbewusster, aufgeweckter 17-Jähriger. Bei unserem Gespräch im Herbst 2005 war er zwar lieb und angepasst, aber verhuscht und völlig geis­tesabwesend. Bei seiner Geschichte bestimmt nicht ungewöhnlich. Seine Mutter hatte ihn als drei Monate altes Baby quasi „verschenkt“, an ihre beste Freundin. Aber auch die hatte so ihre Probleme, war alkohol- und drogenabhängig. Sie liebte das Kind, aber so etwas wie Beständigkeit, Fürsorge und Geborgenheit hatte Reinhard nie kennengelernt. Als er seiner Pflegemutter im Alter von neun Jahren weggenommen wurde, hatte er fast ein schlechtes Gewissen. „Sie trank danach noch mehr“, erzählt er. „Früher nur am Wochenende.“
Über die Zeit damals sagt er heute: „Es ging mir nicht schlecht, es war einfach so.“ Was nicht stimmt. Über Jahre konnte er zu niemandem ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Auch die Schule überforderte ihn: Er vergaß alles, seine Hefte, seine Schulbücher. Die Betreuer hielten engen Kontakt zu den Lehrern, machten mit Reinhard Hausaufgaben, sogar ein zweiter Satz Schulbücher wurde angeschafft, ein Satz für „zu Hause“, ein anderer für die Schule.

Die Schule ist heute kein Schreckensthema mehr für ihn. Er geht jetzt auf die Fachschule für Sozialpädagogik und macht seinen Realschulabschluss nach. Und er erzählt, dass er jetzt echte Freunde hat. Menschen, denen er vertrauen kann. Er hat eine beste Freundin, mit der er fast täglich telefoniert.

Seine Pflegemutter, zu der er lange keinen intensiven Kontakt hatte, ist im vergangenen Jahr schwer erkrankt und gestorben. Das beschäftigt ihn. Es hat ihn berührt, dass sie im Krankenhaus, als sie schon nicht mehr ganz bei Bewusstsein war, immer wieder behauptete, er sei gerade da gewesen, selbst wenn das gar nicht stimmte. „Dass sie gestorben ist, das ging mir voll ans Herz“, gesteht der Junge. Und er kann heute sagen: „Ich weiß jetzt, dass ich ihr wichtig war und sie war es mir auch.“ Vor drei Jahren sah das noch ganz anders aus. „Wer ist dir denn wichtig im Leben ?“, hatte ich ihn gefragt, und der damals 14-Jährige dachte angestrengt nach, die Stirn in Falten gelegt, aber es fiel ihm beim besten Willen niemand ein.

Birgit Müller

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