Günter Wallraff : Asyl ohne Rückfahrkarte

Ende der 1960er Jahre begründete Günter Wallraff mit seinem Buch „13 unerwünschte Reportagen“ seinen Ruf als Autor kritischer Sozialreportagen. Sein Markenzeichen damals wie heute: Als Undercover-Journalist dahin gehen, wo es weh tut. In der ersten Reportage im Buch schildert Wallraff seinen mehrtägigen Besuch im HAmburger Obdachlosenasyl Pik As. Bei uns können Sie die Geschichte nachlesen.

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Günter Wallraff

Hamburg. Am Montag vor Weihnachten. Ich suche das Obdachlosenasyl. In der Neustädter Straße frage ich Passanten. ­­– „So was gibt’s nicht mehr, so was gab’s kurz nach dem Krieg.“ – „Nie gehört, Sie meinen wohl die Jugendherberge?“ – „Arbeiten gehen solltet ihr, dann hättet ihr auch ein anständiges Dach über dem Kopf!“ Ich frage weiter. Ohne Erfolg. Erst ein Polizist kann mir helfen. „Dort ist“, sagt er von oben herab, „der Eingang von Hamburgs billigstem Hotel.“ Seine ausgestreckte Hand weist auf ein Tor mit Eisenstreben. Dahinter, zwischen zwei schmutzigen, fensterlosen Hauswänden, ein schmaler Gang. Ich komme auf einen Hinterhof und stehe vor Pik As. Ein alter Bau. Eine rissige Holztür. Ich stoße sie auf und bin in der Empfangshalle. Hinter einer Sperre sitzen vier Männer in grauen Kitteln vor Karteikästen. Sie sehen aus wie Lageristen. In ihren Kästen sind keine Werkzeuge oder Ersatzteile registriert, sondern Personalausweisnummern, Herkunftsort, Obernachtungsgrund und Reiseziel der Untergebrachten.

Keiner hat in aufeinanderfolgenden Nächten ein Recht auf dieselbe Schlafstätte, steht auf einem großen Schild in der Halle. Die Aufgenommenen sollen sich hier nicht einleben. Auf einem zweiten Schild steht – rot unterstrichen: Unbefugten ist das Betreten der Übernachtungsstätte strengstens untersagt.

Der letzte der Männer ist für W zuständig. „Schon mal hier gewesen? Ausweis!” Er sucht in großen Karteikästen. Dann legt er eine Stammkarte für mich an. „Was willst du hier?“ – „Vorübergehend “, sage ich, „im Ruhrgebiet keine Arbeit mehr, vielleicht kann ich im Hafen…“ – „Ha, vorübergehend, das sagen alle. Ich will Ihnen was sagen: geben Sie mir drei Groschen und erscheinen Sie morgens gefälligst früher, sonst kannst du sehen, wo du eine Platte machst.“

Als ich zum Treppenhaus gehe, höre ich, wie er den Telefonhörer abnimmt. Er meldet sich mit „Neustädter Straße“ und gibt meinen Namen und meine Personalausweisnummer durch. Die Registratur von Pik As arbeitet mit der Kriminalpolizei Hand in Hand.

Auf der ersten Treppenstufe hocken drei Männer. Ein etwa 50 Jahre alter Stammkunde von Pik As und zwei kaum 20 Jahre alte Neulinge. Der ältere hält mich am Mantel fest. „Laß dir nieder. Oben in den Sälen ist nichts zu machen. Du wirst dir’s schon hier bequem machen müssen. Hier, zur Stärkung!“ Er greift zur Wermutflasche seines Nebenmannes und hält sie mir hin. Ich lehne ab. Er rückt zur Seite 1und läßt mich durch: „Du wirst ihn auch noch mal schätzen lernen, verdammt will ich sein, ja, das wirst du!“

Auf dem ersten Treppenabsatz liegt ein Mann verkrümmt in seinem eigenen Urin. Er ist etwa 60. Das Hemd ist ihm aus der Hose gerutscht. Sein Rücken, mit roten Geschwüren bedeckt, ist blutig gekratzt. Die Taschen seiner zerrissenen Jacke sind aufgetrennt und hängen in Fetzen herab. Das Gesicht ist grau und schmutzig wie der Zementboden.

„In den Rinnstein sollte man den schmeißen“, sagt ein freier Hafenarbeiter, der mit ein paar Kumpels die Treppe hochkommt. Er flucht, daß er morgen schon um ½ fünf zur Schicht muß und der Mann an der Sperre zu ihm gesagt hat: „Nee, geweckt wird nicht, fünf Uhr ist Wecken für alle.“ – „Jetzt könnt ich endlich die Stelle fest kriegen, wenn ich die ersten 14 Tage keinen Schiet mache und dann ist alles wieder aus, wenn ich morgen verpenne.“

Ich kann in dieser ersten Nacht nicht schlafen und auch in den folgenden Nächten sind es 3, 4, höchstens 5 Stunden Ruhe, die ich bekomme. Man muß schon sehr erschöpft sein, um es länger auszuhalten. In den fünf großen Schlafsälen liegen je 60 bis 80 Männer. Die Betten sind zweistöckige Eisengestelle. Keine Matratzen, keine Bettwäsche, keine Decken. Die oberen Plätze sind begehrt. Wer unten liegen muß, kann das Pech haben, daß der Kumpel im Oberbett im Delirium den Urin nicht halten kann. Die Säle sind überheizt. Der Schweißgeruch ist stechend. Doch trotz der Hitze hat kaum jemand mehr als den Mantel ausgezogen, der als Unterlage oder – zusammengerollt – als Kopfkissen dient. Je abgerissener man ist, um so besser für die Nacht. Wer in Lumpen geht, kann sich wenigstens nachts davon befreien. Verdreckte und zerrissene Sachen klaut selbst hier so schnell keiner.

In der zweiten Nacht liege ich neben einem jüngeren Mann. Er hat sein rechtes Bein angewinkelt über seinen Pappkoffer gelegt und mit einer Schnur den Koffer ans Bein gebunden. Mit dem Kopf liegt er auf seinen Schuhen. Die hat er noch sicherheitshalber mit den Schnürsenkeln ans Eisengestell gebunden.

Eine Woche Pik As reicht in der Regel, um den Mut zu verlieren.

„Ein Monat Pik As genügt und du schaffst es nicht mehr. Weil du einfach keine Kraft mehr hast. Schon rein physisch gesehen. Besonders, wenn der Alkohol noch dazu kommt und der kommt garantiert, sonst hältst du es gar nicht aus und du wirst verrückt.“ Der das sagt, ist seit vier Jahren im Obdachlosenasyl. Mit Unterbrechungen, denn in warmen Nächten

zieht er die Wiese vor. Er hat vor Jahren ein Studium abgebrochen. Sein Vater ist höherer NATO-Offizier. Als er durch Zufall von dessen Vergangenheit erfuhr, Folterungen und Erschießungen von Frauen und Kindern in Frankreich, hat er zu Hause alles im Stich gelassen und mit dem Trinken angefangen. Die Erschießungen, an denen sein Vater maßgeblich beteiligt gewesen sei, hätten, so sagt er, unter dem Befehl eines Generals Lammerding stattgefunden. Den gibt es tatsächlich. Er lebt jetzt als Bauunternehmer in Düsseldorf, wie ich später herausfinde.

Ich bin jetzt viel mit einem 24jährigen zusammen. Er hat Gärtner gelernt und war in Saarbrücken in eine Hehlergeschichte verwickelt. Er bekam neun Monate Gefängnis, sechs Monate wurden zur Bewährung ausgesetzt, da es seine erste Straftat war. Weil er in Hamburg zuletzt gearbeitet hatte, ließ er sich nach der Strafverbüßung eine Fahrkarte dahin ausstellen. Seine frühere Firma wollte ihn jedoch nicht mehr. Bei acht Firmen  – davon zwei Werften – hat er sich bisher beworben. Keine hat ihn genommen. Sein abgerissener Zustand macht die Leute mißtrauisch. Außerdem kann er keinen festen Wohnsitz nachweisen. „Wenn Sie keinen festen Wohnsitz haben, können wir Sie leider nicht einstellen“, heißt es immer. Aber ein Zimmer bekommt er erst, wenn er Geld verdient und es bezahlen kann.

Ein anderer erzählt mir nachts im Treppenhaus, daß er im Krieg einem Exekutionskommando zugeteilt gewesen sei. Er habe auf Deserteure, Partisanen und Geiseln geschossen. „Wir waren zu sechst und keiner wußte, wer den tödlichen Schuß abgab. Wir mußten es. Es waren aber einmal Kinder darunter, die den Partisanen geholfen hatten. Wir mußten schießen, sonst hätten es andere besorgt. Was blieb mir anderes übrig?“ sagt er fast flehend. „Die anderen schossen sicher bereitwilliger“, sage ich. Aber er sieht mich nur mit glasigen Augen an.

Ein 60jähriger mit Vollbart versteht es, „auf die fromme Tour zu reisen“. Besonders an Priester macht er sich heran, um „Im Namen des Gekreuzigten” um Geld zu betteln. Aber: „Wenn Not am Mann ist, staube ich auch in Kirchen ab.“ Mit einem Holzstäbchen, das er unten mit Klebstoff bestrichen hat, holt er aus den Opferstöcken die Münzen. „Wenn es ein guter Fang war, stelle ich am nächsten Tag dafür eine Kerze auf, gegen Bezahlung, versteht sich.“ Einmal zeigt er mit stolz einen vergilbten Zeitungsausschnitt. Darauf steht, daß er wegen Gotteslästerung, versuchter Nötigung und Hausfriedensbruch zu 13 Monaten Gefängnis verurteilt worden ist. Er hatte sich in angetrunkenem Zustand im Ulmer Münster auf den Bischofsstuhl gesetzt, die Kerzen um sich herum angezündet und obszöne Lieder gesungen. Als der Pfarrer erschien, um ihn aus dem Münster zu jagen, wollte er ihn zwingen, vor ihm niederzuknien.

Letzte Station ist Pik As auch für Kranke, psychisch Kranke.

Er ist etwa 35. Und auch seine Geschichte höre ich nachts auf der Treppe. Der Alkohol hat ihn gesprächig gemacht. Bei der Geburt war sein Geschlecht nicht eindeutig feststellbar. Mit 15 operierte man ihm die Hoden aus der Leistengegend. Als er aus der Narkose erwachte, war sein erster Eindruck die Gummischürze der Operationsschwester, der erste sexuelle Reiz. Das bestimmte sein weiteres Geschlechtsleben. Er wurde Gummifetischist. Er kramt aus seiner Brieftasche vergilbte llustriertenannoncen, auf denen Frauen für enganliegende Taucheranzüge werben. Und abgegriffene Fotos von Schauspielerinnen in glänzenden Nappalederröcken. Sie üben auf ihn die gleiche Wirkung aus.

Sonntags steht er meist auf dem Fischmarkt und beobachtet die Marktfrauen, die Fische verkaufen. In Gummischürzen. Einmal hat er eine Stelle in einer Fischfabrik angenommen. „Obwohl mir der Gestank zuwider war.“ Er wurde dort bald entlassen, weil er die Gummischürze, die eine junge Arbeiterin trug, streichelte. Das war dem Mädchen unheimlich. „Ich wäre heute noch dort, wenn ich statt dessen versucht hätte, sie zu küssen oder wenn ich ihr unter den Rock gefaßt hätte“, sagt er. Ein andermal wurde er wegen Hausfriedensbruch zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Durch das Fenster einer Hotelküche hatte ihn eine Kaltmamsell mit Gummischürze fasziniert. Er war zu ihr hinaufgestiegen und hatte fassungslos vor ihr gestanden. Erst die herbeigerufene Polizei brachte ihn zur Besinnung.

In der Bundesobdachlosenkartei in Bethel, in der jede Asylübernachtung registriert wird, wird auch über seinen Fall buchgeführt. Nach der Folge seiner einzelnen Reisestationen hat er in den letzten fünf Jahren mehr als 30000 km, teils zu Fuß, teils per Anhalter zurückgelegt. Aber er hat noch nicht ganz aufgegeben. Kurz nach Neujahr schreibt er mir, daß er ein „neues Leben“ anfangen will, er habe jetzt „eine gute Arbeit bei einer privaten Spedition“, wo er, „als Roller mit der Karre“ fährt. „Wenn es sich regeln läßt, werde ich sorgen, daß du da auch anfangen kannst!“ und: „Vorige Woche kaufte ich mir eine Bügeltasche mit zwei Schlössern, ich kann dir sagen, Sonderklasse, eine sogenannte Chef-Aktentasche. Wenn ich bei dieser Firma längere Zeit bleibe, kaufe ich mir jede Woche ein Stück zu.“

Er blieb nicht lange bei dieser Firma.

Von den 500, die jede Nacht auf Pik As angewiesen sind – im vorigen Jahr und den Jahren davor waren es halb so viel – leben etwa 100 von gelegentlichen kleineren Diebstählen.

Dienstagnacht werde ich plötzlich aus dem Schlaf gerüttelt. Ein Polizist verlangt meinen Ausweis: „Polizeikontrolle.“ Mit der Taschenlampe sieht er in seiner Suchliste nach. Er gibt mir den Ausweis zurück. Aus dem Nebensaal holen sie einen heraus. Er läßt sich widerstandslos abführen. Ich hatte ihn am Abend vorher in der Kneipe neben Pik As gesehen. Er hatte aus der Musikbox dreimal hintereinander die Platte gewählt: Kennst Du das Land, wo immer nur die Sonne scheint und ein Mädchen auf Dich wartet?

Einen Tag nach der Verhaftung steht in der Zeitung, daß er einen Schweizer Kaufmann umgebracht und ausgeraubt haben soll.

Wer länger als drei Nächte im Pik As gewesen ist, wird mit einem Schein zum Landesfürsorgeamt geschickt. Dort wird das Recht auf weitere Übernachtungen bewilligt oder verweigert. Ich muß auch dorthin. Zur Abteilung Wohungslose, Wanderer, Durchreisende, Anmeldung Zi. 40141. Ich gebe meinen Schein dort ab. Der Fürsorgebeamte trägt den gleichen grauen Kittel wie die Männer auf der Anmeldung von Pik As. Männer in grauen Kitteln tragen Akten von einem Raum zum anderen. Ich soll draußen auf einer der Holzbänke warten, bis ich aufgerufen werde. Es sitzen noch andere auf der Bank, einige habe ich im Pik As schon gesehen. Die Beamten lassen uns mehr als zwei Stunden warten. Nur einer wurde abgefertigt. Als er herauskommt: „Totenköpfe ausbuddeln soll ich, was anderes käme für mich nicht in Frage.“

Endlich wird mein Name aufgerufen. Eine Fürsorgerin fragt mich aus. Ich erzähle ihr, daß ich aus dem Ruhrgebiet komme, da sei nichts mehr los. „O je“, sagt sie, „was wollen Sie denn hier?“ – „Ich dachte, der Hafen …“ – Sie schüttelt den Kopf: „Da ist auch nichts los.“ – „Ich muß aber da raus“, sage ich, „im Pik As geht man vor die Hunde. Kann ich nicht in ein Überbrückungsheim?“- „Da ist überhaupt nichts zu machen, auf gut deutsch gesagt“, antwortet sie. Sie verlängert meinen Schein für weitere 14 Tage. Ihr Rat: es später bei der Heilsarmee zu versuchen. „Der Staat zahlt mehr als zwei Drittel der Übernachtungskosten in Pik As für Sie“, gibt sie mir noch als Trost mit auf den Weg.

Auf der Treppe am Ausgang hockt ein Mann, der seit drei Tagen ohne einen Pfennig in Hamburg ist. Auf St. Pauli hat er die Nutten um Geld für Brötchen angebettelt und es auch bekommen. In Frankfurt hat er neun Monate im Gefängnis gesessen. Als er begnadigt wurde, mußte er ein Reiseziel angeben. Eine Wohnung hatte er nicht, direkte Angehörige auch nicht. Er erinnerte sich an eine Tante, die ihm vor Jahren gesagt hatte: „Wenn du mal in Schwierigkeiten bist, kannst du zu mir kommen.“ Sie wohnt in J. bei Buxtehude. Er bekam die Fahrkarte dorthin. Doch die Tante war zufällig verreist. Eine Bekannte der Tante gab ihm 8 Mark. Davon löste er eine Fahrkarte nach Hamburg. Jetzt geht es ihm darum, wieder eine Fahrkarte nach J. zu bekommen, denn die Tante müßte inzwischen zurück sein. Zuerst versuchte er es auf einer Polizeidienststelle. Von dort wurde er zur Gerichtsstraße nach Altona geschickt. Er ging die zehn Kilometer zu Fuß. Dort schickte ihn schon der Pförtner weg. Zum Fürsorgeamt. Die schickten ihn zur Entlassenenfürsorge. Und die schickten ihn wieder zurück.

Jetzt hat er es aufgegeben. Er will hier vor dem Landesfürsorgeamt sitzen bleiben, bis die Polizei ihn mitnimmt. Ich kann ihn überreden, mit mir zusammen noch mal zur Entlassenenfürsorge zu gehen. Der Mann dort sagt: „Was wollt ihr, du warst doch heute schon mal hier?“ Und zu mir: „Was ist mit dir los?“ – „Wir gehören zusammen“, und der Mann fängt an, von seiner Tante zu erzählen. Der Beamte hört nicht hin, er sagt: „Kommt nach Neujahr wieder, dann ist der Andrang nicht so groß.“ – Ich sage: „Es geht doch nur um eine Fahrkarte von sechs Mark, dann sind Sie den Mann endgültig los.“ – „Wenn’s weiter nichts ist, die kannst du kriegen“, sagt der Beamte. Er ruft ins Nebenzimmer: „Händigen Sie dem Mann sechs Mark gegen Quittung aus.“ Und dann, weil Weihnachten vor der Tür steht: „Ach was, geben Sie ihm zehn.“ Zu uns: „Und laßt euch hier nicht wieder blicken.“

Weil Heiligabend ist, öffnet das Asyl zwei Stunden vor der üblichen Zeit. Es gibt ein Weihnachtsessen: eine heiße Bockwurst, dazu ein trockenes Brötchen, als Geschenk zusätzlich eine Schachtel HE-Filterzigaretten und einen Becher schwarzen Bohnenkaffee.

Die Heilsarmee rückt an und verteilt Konsumtüten mit Tannengrünaufdruck. Die Hälfte von uns geht leer aus. „Wir wußten ja gar nicht, daß ihr diesmal so viele seid“, bedauert die Schwester. Dann setzt sie zu einer Rede an. Weil wir so laut sind, bricht sie wieder ab. Sie dreht sich zu ihrer Truppe um, hebt den Arm wie zu einem Schießbefehl. Und jetzt hören wir es alle, es dringt bis nach draußen: „Christus macht Dein Leben neu.” Sie singen uns noch das Lied „Christ der Retter ist da“. Wir sollen mitsingen. Die meisten kennen das Lied aber nicht, und einige brüllen „Scheiße“. Als die Heilsarmee uns verläßt, grölen Betrunkene die besser bekannten Weihnachtslieder wie „Stille Nacht“ und „Holder Knabe im lockigen Haar“. Andere singen Soldatenlieder dazwischen. Der „einsame Soldat am Wolgastrand“ wird mehrmals gesungen.

In den nächsten beiden Tagen bin ich auf drei Armenbescherungen, die für uns veranstaltet werden. Wir müssen jedesmal viel beten und viel singen. Singen ist angenehmer, dabei dürfen wir sitzen bleiben. Am Ende bleiben die Geschenke hinter den Erwartungen zurück. Altbackene Plätzchen, als besondere Überraschung eine Dose Schuhcreme, eine Zahnbürste oder eine Tube Zahnpasta in der Weihnachtstüte. Zwischen den Bescherungen lange Ansprachen und Predigten. Von den 200 bis 300 Besuchern aus Pik As schlafen 20 bis 30 jedesmal ein. Die Geschenke werden immer erst zum Schluß verteilt, „weil die genau wissen, daß wir sonst wieder abhauen“, sagt der Mann aus Pik As, den ich begleite.

Am zweiten Weihnachtstag veranstaltet die Straßenmission – eine staatlich unterstützte Sekte – in der Seilerstraße ihre Feier. Wir müssen 26mal singen und 11mal beten. Aber die erhofften Geschenke fallen am Ende unter den Tisch. Bruder Krebs, das Haupt der Sekte, droht einem alten Mann mit Rausschmiß, weil der Alte beim Beten sitzen geblieben ist. Auch andere Unandächtige weist er zurecht. Während der dreistündigen Feier treten 12 Sektenmitglieder einzeln auf und legen ihre Bekenntnisse ab.

Ein vorzeitig pensionierter Kapitän berichtet unter Zuckungen, wie ihm Christus einst auf hoher See in den Sternen erschienen ist. „Bis zu meinem 21. Lebensjahr war ich ein guter Jüngling. Dann erlag ich der Versuchung in den vielen Hafenstädten. Bis mich Gott in den Sternen – ich war damals 50 – von der sündigen Fleischeslust erlöste.“ Die Sektenmitglieder stimmen den Choral an: „Halleluja, halleluja, der Herr ist gekommen… jubelt, daß wir mit ihm verheiratet sind.“

Ein anderer Prediger hat eine besondere Verheißung: „Man sagte mir mal: eine einzige Atombombe genügt und alles ist aus. Da mußte ich lachen und antwortete: Im Gegenteil, da fängt es erst an.“ – Das ist auch der „Wahlspruch“, den er uns heute „mitgeben möchte“: „Ertragt Euer jetziges Leben in Not und Elend. Es zählt nicht. Freuet Euch auf den Tag, da Euch Christus zu sich holt, denn dann fängt das wirkliche Leben mit Jauchzen und in Herrlichkeit an!“

Als Attraktion wird uns Bruder Wolfgang vorgestellt. Er begrüßt uns: „Auch ich habe einst zu euch Elendigsten der Elendigen gehört“, und er sagt, daß er „elf Jahre fern vom Heiland im Knast gesessen hat“. – Einer von uns ruft: „Angeber, ich war fünfzehn Jahre drin!“ Bruder Wolfgang: „Jesus Christus hat mich reich gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes reich gemacht, auch äußerlich“, und er spricht von seinem schwarzen Anzug, den er trägt und den er „gegen seinen blauen mit Streifen” tauschen durfte. Auf der Straße parkt sein Opel Kapitän, sein Dienstwagen. Er wurde ihm vom Staat für seine Missionstätigkeit in Zuchthäusern und Erziehungsanstalten zur Verfügung gestellt. Sein Rat, wie auch wir „den

Weg des Heils finden“ können: wir sollen „nicht länger in der Grube der Gottlosigkeit hausen“, sondern wie er „in bedingungslosem Gehorsam vor dem Herrn und seinem Diener, dem Staate“, leben.

Er erzählt von einer Weihnachtsfeier in einem russischen Gefangenenlager, wo ein Studienrat „durch alle Filzungen hindurch, obwohl man ihm sämtliche Haare am Körper abrasiert hatte, eine Handvoll Blätter des Neuen Testaments rettete. An einer Stelle, liebe Männer und Frauen, wo man normalerweise kein Evangelium aufbewahrt. Sie wissen Bescheid, nicht wahr?“ Er erinnert sich an andere „Mithäftlinge, die das gleiche dünne Testamentpapier auf die gleiche Weise einschmuggelten und sich mit dem Papier der Heiligen Schrift Zigaretten gedreht haben“. Er folgert: „Zur Strafe holten sie sich dadurch die Schwindsucht an den Hals.“ – „Diese zwei Möglichkeiten bestehen immer in bezug auf das Evangelium. Man kann zum Leben kommen oder zum Tod.“ Dann bricht Bruder Wolfgang vorzeitig auf. Er muß noch zu weiteren Weihnachtsfeiern in geschlossenen Anstalten, um „den Verdammten das Evangelium zu bringen“. Die Sektenmitglieder singen ihm nach: „Mein Herr, wir danken Dir. Wie groß bist Du. Wie groß bist Du.“

Zurück in Pik As. Am Schwarzen Brett hat der Hamburger Sozial- und Arbeitssenator eine Weihnachtsbotschaft aushängen lassen: „Weihnachten“ steht dort und als Leitspruch: „Vertrauen in die Zukunft!“ – „ Liebe Bewohner“, nennt der Senator die hier Untergebrachten und fährt fort:„Sicherlich ist das Jahr, das nun seinem Ende entgegeneilt, für manche von Ihnen nicht nur eitel Freude gewesen“, und zum Trost: „Für unser ganzes Volk war es ein Jahr mit enormen negativen Vorzeichen.“

Überall im Asyl sind Plakate angebracht: die Rückseite eines gebeugten alten Mannes mit Stock. Darunter steht: Sieh dir deinen Nachbarn an, ob man ihm nicht helfen kann.

Sollen die Blinden den Blinden helfen!

Text: Günter Wallraff, mit freundlicher Genehmigung übernommen aus seinem Buch 12 unerwünschte Reportagen
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