Mit den Augen der anderen

Seit zehn Jahren arbeiten Führungskräfte aus der Wirtschaft über das Programm Seitenwechsel für eine Woche in sozialen Einrichtungen. Die Arbeit mit Obdachlosen oder Drogenabhängigen verändert bei so manchem Topmanager den Blick auf die Welt.

(aus Hinz&Kunzt 212/Oktober 2010)

Tagebuch eines Seitenwechsels

„Kurzweilig, spannend, schockierend“: Was Beiersdorf-Manager Volker Holle in einer Woche bei Hinz & Kunzt erlebte

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Warum ich mir Hinz & Kunzt ausgesucht habe? Die Zeitung war mir – wie vielen in Hamburg – natürlich ein Begriff. Mit dem Problem Obdachlosigkeit hatte ich mich allerdings bisher nicht näher beschäftigt. Für mich war „der Obdachlose“ ein Mensch, der es nicht schafft, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und etwas daraus zu machen.

Montag: Mein erster Tag bei Hinz & Kunzt. Ein ungewöhnlicher Arbeitstag, es fängt schon damit an, dass Anzug und Krawatte im Schrank bleiben, ich halte Pullover und Jeans für angebracht. Auch der Wagen bleibt zu Hause. Ich fahre nach langer Zeit mal wieder mit Bahn und Bus. Stephan Karrenbauer, So-zialarbeiter und mein „Betreuer“ für die nächsten fünf Tage, zeigt mir die Räume. Kleine Büros, Computer der vorvorletzten Generation, spartanische Möblierung – Welten von meinem Arbeitsambiente entfernt.

9 Uhr: Die ersten Verkäufer kommen herein. Eigentlich hatte ich erwartet, kritisch beäugt zu werden, aber ganz im Gegenteil: Ich werde gleich angesprochen. Diese Direktheit, aber auch die Bereitschaft, auf meine Fragen einzugehen, erlebe ich in den nächsten Tagen ständig. Die Möglichkeit zu reden, vom eigenen Leben zu berichten, scheint für viele sehr wichtig zu sein. Ebenso, wie hier eine Anlaufstelle für Probleme zu haben, seien es Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden, Vermietern oder Rechtsstreitigkeiten.

11.45 Uhr: Verkäuferversammlung. Ich wundere mich über die friedliche Atmosphäre, die übrigens in der gesamten Woche zu spüren ist. Allerdings wird auch sehr strikt auf die Einhaltung der Hausordnung geachtet (z.B. Alkoholverbot). Die Redaktion stellt die neue Ausgabe vor. Kritik wird laut, weil die März-Ausgabe vor Monatsende vergriffen war und nicht nachgedruckt wurde. Dadurch konnten einige Verkäufer zwei Tage lang nicht verkaufen. Für viele, die täglich kommen und nur kleine Mengen verkaufen – gerade so viel, dass sie mit dem Geld über die Runden kommen – ist ein Tag ohne Zeitung hart. Ich erfahre aber auch die Schwierigkeit, die Auflage genau planen zu können. Ein Nachdruck in geringer Auflage ist überproportional teuer und wird durch den Verkaufserlös nicht gedeckt.

12 Uhr: Die Zeitungsausgabe beginnt. Geduldig stehen die Verkäufer am Tresen Schlange, bis sie dran sind. Ein elektrischer Geldzähler und ein computergestützes Erfassungssystem erleichtern die Arbeit. Ich setze mich an einen der Tische und komme ins Gespräch mit R. Er hat sich 50 Exemplare geholt, steht immer an der Paul-Roosen-Straße. Wie vielen anderen, hat das Projekt ihm geholfen: R. hat mittlerweile eine Unterkunft. Er verkauft immer so viel, um genug Geld für Schnaps und Zigaretten zu haben.

„Ganz anders als mein Bild vom Obdachlosen“

Dass Verkäufer auch aus der Alkoholabhängigkeit aussteigen, ist wohl, zumindest kurzfristig gesehen, die Ausnahme. Der Verkauf zwingt aber dazu, seltener zu trinken, da Verkäufer nicht alkoholisiert sein dürfen, sonst wird ihnen der Ausweis entzogen. Auf dem Heimweg stelle ich fest, dass ich meine Umgebung genauer als bisher betrachte. Vielleicht entdecke ich ja schon bald bekannte Gesichter.

Dienstag: Heute findet mein erster Einsatz „vor Ort“ statt. Ich begleite Elke, 37, zu ihrem Standplatz. Sie ist gelernte Verkäuferin, hat zusätzlich eine sozialpädagogische Ausbildung und kommt aus gut situiertem Elternhaus. Sie hat schon früh mit Alkohol angefangen. Kurz nacheinander verlor sie Wohnung und Arbeit und lebte dann auf der Straße. Unterstützung vom Sozialamt möchte sie nicht, weil dann ihre Eltern zahlen müssten. Mittlerweile hat sie eine kleine Wohnung – und sie hat aufgehört zu trinken. Sie träumt davon, irgendwann mal wieder im sozialen Bereich arbeiten zu können. Sie strahlt Zuversicht und eine positive Lebenseinstellung aus und passt so gar nicht in mein Bild vom typischen Obdachlosen.

Ich stehe drei Stunden mit ihr auf ihrem Platz, einer zugigen Verbindung zwischen U-Bahn und Einkaufspassage. Trotz warmer Jacke wird mir kalt, der Rücken fängt langsam an zu schmerzen. Es muss hart sein, den ganzen Tag auf einer Stelle zu verbringen. Einige Leute bleiben stehen und unterhalten sich mit ihr, Stammkunden, die sie zum Teil seit Jahren kennt. Im Laufe der Zeit ergeben sich sogar Freundschaften, erzählt Elke. Viele dieser Stammkunden sind ältere Frauen, auch das hatte ich nicht erwartet. Ich verstehe, wie wichtig es für viele Verkäufer ist, durch den Verkauf der Zeitung eine Regelmäßigkeit in die Woche zu bringen, so etwas wie eine richtige Berufstätigkeit eben.

19.30 Uhr: Ich fahre mit dem Mitternachtsbus mit. Es geht über die Reeperbahn zur Roten Flora bis zur Mönckebergstraße. Aber auch einzelne Schlafstellen werden aufgesucht. Bei unserer Ankunft strömen aus allen Richtungen Obdachlose herbei. Besonders beliebt sind heißer Kakao mit viel Zucker und süße Backwaren. Junkies haben, so erzählen die Ehrenamtlichen, einen besonders hohen Bedarf an Kohlenhydraten und decken diesen durch Zucker. Das passt zu meinen Beobachtungen, dass kaum ein Obdachloser ein halbwegs gesundes Gebiss hat. Einigen Obdachlosen merkt man die Dankbarkeit an, andere sind eher fordernd und meckernd.

Für mich hat diese Fahrt den Charakter einen alternativen Standrundfahrt. Mir war vorher nicht bekannt, wie viele Obdachlose es in Hamburg gibt und wo sie sich nachts aufhalten. Die Funktion des Busses sehe ich zwiespältig. Ich finde, der Bus erfüllt eher eine Service-Funktion und schwächt damit die Eigenverantwortung. Auf der anderen Seite wird aber dem Obdachlosen menschliche Wärme vermittelt – für viele vielleicht der wichtigste Aspekt.

„Den Mitternachtsbus sehe ich zwiespältig“

Mittwoch: Am Nachmittag besuchen wir das Wohnprojekt Wartenau, wo für Hinz & Künztler übergangsweise Zimmer zur Verfügung stehen, bis der Betroffene eine feste Bleibe gefunden hat. In einem kleinen Zimmer liegt M., Mitte 60, in seinem Bett. Er ist seit Anfang an bei Hinz & Kunzt, kann jetzt aber nicht mehr verkaufen, ist ans Bett gefesselt und wird von einem Pflegedienst betreut. Der Fernseher läuft die ganze Zeit und ist sein einziger Kontakt zur Außenwelt.

Donnerstag: Zum ersten Mal sehe ich das Landessozialamt in der Kaiser-Wilhelm-Straße, das für Obdachlose zuständig ist, von innen. Vor dem Eingang steht eine Gruppe mit Bierflaschen in der Hand. Wartezeiten von vier bis fünf Stunden sind nicht ungewöhnlich. Der Warteraum ist voll besetzt. Auffallend, dass die dort Wartenden sich nicht unterhalten, sondern nur resigniert vor sich hin starren. Kein Aufbegehren, nichts. Die meisten haben sich wohl in ihr Schicksal ergeben.

Später treffe ich Herbert, Mitte 50, gelernter Dachdecker, der es bis zum eigenen Bauunternehmen brachte und damit Erfolg, Geld, eine große Wohnung – also eigentlich alles hatte. Dann kam von einem auf den anderen Tag der Sturz ins Bodenlose. Sein Kompagnon verschwand mit den Firmengeldern, seine Lebensgefährtin, mit der er 22 Jahre zusammen war, verließ ihn. Eine Enttäuschung, die tief sitzt und ihm noch heute anzumerken ist. Immerhin hat er inzwischen wieder eine kleine Wohnung in Altona. Er erzählt mir von seinen Albträumen in der ersten Zeit. Er träumte, man habe ihm seine Tasche gestohlen – für einen Obdachlosen wohl das Schlimmste, was passieren kann, wenn der Rest von dem, was man überhaupt noch hat, abhanden kommt.

Herbert passt auch überhaupt nicht in mein Bild vom Obdachlosen. Genauso wenig wie Jürgen vom Vertrieb. Mit ihm fahre ich zum AK Altona. Im Krankenhaus besuchen wir Peter, 32. Er liegt mit Geschwüren an den Beinen im Bett und würde am liebsten schnell dort abhauen. Er ist schwer alkoholkrank und braucht Medikamente, um die Entzugsschmerzen auszuhalten. Wir überbringen Grüße, Tabak und Süßigkeiten. Er freut sich sichtlich, etwas „von draußen“ zu erfahren.

Freitag: Mein letzter Tag. Es ist schon in Stück Berufsalltag für mich geworden, jeden Morgen hierher zu kommen und mittlerweile vertraute Gesichter zu sehen – ich könnte es durchaus noch länger aushalten. Mein Resümee des „Seitenwechsels“: sehr kurzweilig, sehr spannend, manchmal schockierend, oft frustrierend. Das zielorientierte Problemlösen klappt in der Regel hier nicht. Die Messlatte für Erfolge orientiert sich eher an den kleinen, machbaren Schritten. Und dann gibt es immer einzelne Lichtblicke: Menschen, die es geschafft haben, Arbeit zu bekommen, ihre Schulden abzubauen und ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Für mich persönlich hat die Woche eine Art Bewusstseinserweiterung gebracht. Ich habe die schockierende Erkenntnis gewonnen, dass Obdachlosigkeit eigentlich jeden treffen kann und dass es den typischen Obdachlosen nicht gibt: zu unterschiedlich sind die Menschen und ihre Geschichten.

Volker Holle, 39, ist studierter Pharmazeut und Qualitätsmanager für medizinische Produkte bei Beiersdorf.

Seitenwechsel für Manager
Vermittelt von der Patriotischen Gesellschaft hospitieren Manager jeweils eine Woche in sozialen Einrichtungen. „Seitenwechsel“ startete im Oktober 2000. Seitdem haben 145 Führungskräfte aus 32 Hamburger Unternehmen teilgenommen. Informationen: www.seitenwechsel.com