„Wenn es langweilig wird, sind die Leute weg“

Als jonglierende Clowns Frau Ute und Herr Konrad bespaßen Rike Eckhoff und Philipp Marth das Publikum beim Straßenkünstler-Festival Buskers Ville in Altona

(aus Hinz&Kunzt 211/September 2010)

Ein Gefühl von Heimweh

Sie sind zu viert und kommen aus Albanien, Portugal, Bulgarien und von der Elfenbeinküste. Doch zusammen machen sie Balkanmusik in Hamburg: tanzbar und quirlig, dann wieder schräg und melancholisch. Im August spielt die Multikulti-Band Balkan Caravan in Altona.

(aus Hinz&Kunzt 210/August 2010)

Frisch vom Kutter

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Wer auf dem Hamburger Fischmarkt noch richtige Elbfischer sehen will, der ist am Ponton unterhalb der Fischauktionshalle richtig. Abseits vom Touristenrummel stehen sie hier und verkaufen Rotzunge und Hering, Scholle und Dorsch. Alles fangfrisch, direkt aus der Elbe und der Nordsee. „Hier zu stehen hat Tradition“, sagen die Männer stolz.

Wie in Zuckerwatte gehüllt steigt die Sonne vor einem zartrosa Himmel über die Dächer. Ein klarer Frühlingssonntag halb sechs Uhr früh auf dem Hamburger Fischmarkt, perfekt wie auf einer Postkarte. Auf der Elbe lautes Tuten, die Frühaufsteher unter den Touristen zoomen begeistert ein Kreuzfahrtschiff heran, es riecht nach frischem Kaffee und schalem Bier. „Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?“ fragt der Sänger in der Fischauktionshalle. „Hölle, Hölle“, brüllt das Durchfeiervolk, die Ersten tanzen auf den Tischen.

Wenige Meter entfernt sind Trubel und Party weit weg. Am Anleger unterhalb der Halle schaukelt sanft ein rot-weisser Kutter im Wasser, darüber kreisen kreischende Möwen. Fischer Jens Stoef, in blauem Kapuzenpulli und orange-gelber Gummilatzhose, schiebt eine letzte Plastikkiste auf den langen Holztisch, damit ist die Verkaufstheke an Bord seiner „Elvstint“ komplett. „Moin moin, Jens“, ruft ein Mann vom Steg runter. „Haste schon Krabben?“ – „Nee, nächste Woche vielleicht“, antwortet Stoef und stapelt Kistendeckel aufeinander. „Is alles büschen spät dies Jahr.“


In den grünen, blauen und gelben Boxen voller Eis liegen Rotzungen, Dorsche, Steinbutt, Heringe, Forellen und Schollen. Gefangen und frisch geschlachtet während der vergangenen 48 Stunden, aus der Nordsee, aus der Elbe, aus Stoefs eigener Zucht. In Winsen an der Luhe führt der 29-Jährige mit seiner Familie einen Fischereibetrieb. Was die Fischer aus dem Meer und aus dem Fluss holen, verkaufen sie frisch und geräuchert direkt ab Hof oder bewirten damit Gäste im hofeigenen Restaurant. „Ein Familienunternehmen, wir arbeiten jetzt in der vierten Generation“, erzählt Stoef, ein ausgebildeter Fischwirt.

Vor sechs Jahren beschloss er, die Ware auch sonntagsmorgens in St. Pauli anzubieten. „Wenn man auf der Elbe fischt, dann ist der Fischmarkt nicht nur eine weitere Verkaufsoption“, sagt Stoef. „Hier zu stehen gehört auch der Tradition wegen dazu.“

Einst lagen mehr als hundert Fischkutter am Anleger, in den 1980ern verkauften dort noch zehn Fischer direkt vom Boot, heute sind sie höchstens zu dritt. Olaf Jensen ist einer au dem Trio, von Mai bis Oktober steht er hinter seinem kleinen Stand auf dem Ponton. Jensens Spezialität sind Aale, selbst gefangen in Elbe und Schlei, selbst geräuchert über Buchen- und Erlenholz. „Meine Preise sind höher als bei denen da oben an Land, und durch die Luft schwenken und ’ne Show abziehen, das tu ich auch nich“, sagt Jensen, nickt mit dem Kopf zu den Fischbuden auf dem Fischmarkt hoch und rollt zwei Aale in Zeitungspapier. „Dafür gibt’s bei mir immer was zum Lesen dazu, heute die Sport-Seiten, Wirtschaft is viel zu traurig.“

Mit lauten, derben Sprüchen wirbt auf den Kuttern am Anleger keiner, zwei Pärchen mit Obstkörben in der Hand gucken kurz über Stoefs Kisten, dann gehen sie wieder. „Touristen machen Fotos, kaufen aber nichts“, sagt Stoef. „Is aber völlig verständlich, Fisch stinkt im Reisebus auch nur.“ Stoef und Jensen verkaufen an Stammkunden, viele haben einen Einkaufstrolley dabei und holen ihre Bestellungen ab. „Tolle Rotzungen haben wir heute“, sagt Stoef zu einem Paar aus Finkenwerder. Wenn vom Frühling bis in den Spätherbst die Elbfischer am Anleger stehen, erzählen die beiden, kommen sie jeden Sonntag mit der Fähre herüber.

Rotzungen aber kaufen nur wenige Fischfans, im Mai und Juni ist Hochsaison für die Scholle. „Zwei schöne große hätten wir gern und zwei mittlere für die Kinder.“ Der nächste nimmt gleich ein Dutzend der platten Fische, „heut’ Abend sitzt die ganze Großfamilie am Tisch“, die silberhaarige Dame mit Dackel will „eine möglichst kleine“. Stoefs Mitarbeiter Hinnerk Groth zieht das gewünschte Exemplar aus der Kiste und wiegt den Kauf ab, während seine Schwester Tina Norman kassiert.

Auf dem Ponton stoppen viele Kunden an einem weißen Pavillon, dort schneidet Hans Schnoor den Fischen Kopf und Flossen ab, macht sie pfannenfertig und gibt Tipps zum richtigen Zubereiten. „Wir ergänzen uns gut hier unten am Anleger“, sagt Stoef und legt eine Plastiktüte beiseite. „Schnoors wollen heute auch die erste Maischolle essen.“
Bald wird die Elvstint noch mehr Süßwasserfische mit zum Markt bringen, Zander etwa und Brassen. Im August startet Stoef die Saison für Aale und Taschenkrebse, im Oktober dreht sich alles um den Karpfen. Eine gute Auswahl sei zwar wichtig, sagt er, allerdings gelte auch: „Nicht jeder Fisch zu jeder Zeit, sondern je nach Jahreszeit.“ Importe seien ohnehin kein Thema, auch wenn manche Marktbesucher immer mal danach fragen. „Dann wollen sie Thunfisch“, erzählt Stoef amüsiert, „oder irgendwelche Exotenfische.“
Kurz nach sieben Uhr, die Schlange vor den Schollen wächst. Aber auch ein sieben Kilo schwerer Steinbutt und der armlange Marmorkarpfen finden einen Käufer. Hinnerk und Tina schnacken mit den Kunden, Stoef unterhält zwei Jungs mit glasigen Augen und halbvollen Bierbechern in der Hand. „Komm, nimm den großen Karpfen hier, dann haste was für die ganze Familie.“ – „Aber ich hab doch gar keine Familie.“ – „Dann bind ’ne Schleife drum und nimm ihn ­deiner Muddi mit, ich werf ihn dir zu, dann kannste ihr sagen, du hättest ihn sogar selbst gefangen.“ Die Jungs grölen. „Mensch“, sagt der eine. „Du könntest eigentlich auch da oben verkaufen.“

Text: Daniela Schröder
Fotos: Mauricio Bustamante

Karriere-Tipps Deluxe

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Der Hamburger Hip-Hopper Samy Deluxe spricht mit den Schülern Abdulai Abaker und Jon Looft übers Verse schreiben, Erfolg und warum man auch als Rapper in der Schule gut aufpassen muss.

01HK208_Titel_05.inddIhm bleibt noch etwas Zeit zum Chillen. Samy Deluxe ist überpünktlich zur Preisverleihung in den Hinz&Kunzt-Vertrieb gekommen.
„Wie klingt die Straße?“, haben wir gefragt – und hörbare Antworten von knapp 100 Schülern bekommen. Gleich sollen die Sieger bekannt gegeben werden. Der Laudator wartet breitbeinig sitzend auf einem Barhocker darauf, dass es losgeht. Ein wenig ungeduldig ist er, will so schnell wie möglich ins Studio, wo er momentan sein neues Album aufnimmt. „Wie viele kommen denn da gleich?“, fragt er. „Na ja, die da draußen alle“, bekommt er als Antwort.
Langsam dreht sich der 1,95-Meter-Mann um – und guckt direkt in zwei plattgedrückte Jungengesichter an der Fensterscheibe und in einen Hof voller Kinder. „Ah ja“, kommentiert Samy Deluxe den Trubel und verzieht keine Miene.
Ein paar Minuten später steht er gelassen im Gewühl. Als der Siegerbeitrag – der Rap „Stell dir vor“ von den „Dynamite Brothers“ alias Abdulai Abaker (13) und Jon Looft (14) – eingespielt wird, nickt er im Beat mit. Trotz vollen Terminplans: Für ein Gespräch unter Kollegen mit den beiden Nachwuchs-Hip-Hoppern nimmt Samy Deluxe sich Zeit.

Hinz&Kunzt: Samy, wie gefällt dir „Stell dir vor“?
Samy Deluxe: Find ich gut, auf jeden Fall. Als Rapper wirst du ja danach beurteilt, ob man in der ersten Zeile schon genau weiß, was sich in der zweiten worauf reimt. Also es war nicht so, dass ich sagen würde: perfekt. Man wird auch nie perfekt. Ich bin’s auch nicht …

H&K: Wie habt ihr das gemacht mit eurem Rap?
Jon Looft: Wir haben über den Wettbewerb in der Hinz&Kunzt die Annonce gelesen und dann wollten wir sowieso gerade einen neuen Song machen. (Samy lacht.) Dann haben wir aufgeschrieben, was wir alles erwähnen wollen, und dann haben wir angefangen zu reimen.
Samy: Das war auf jeden Fall richtig so, wie man es als Rapper machen muss. Ihr habt ein Thema genommen und dann richtige Bilder zu dem Thema gemalt, aber trotzdem gute Reime geschrieben. Und das alles echt auch flowmäßig, also dass die Rhythmik in den Worten stimmt.

Abdulai und Jon schauen ziemlich verlegen drein. Immerhin haben sie gerade ein Lob von einem echten Hip-Hop-Star kassiert. Samy De-
luxe, geboren 1977, ist seit gut zehn Jahren einer der erfolgreichsten deutschen Rap-Musiker. Die CDs seiner Hip-Hop-Formation Dynamite Deluxe, seine drei Solo-Alben und Singles sind millionenfach verkauft worden. Er hat unter anderem den MTV Music Award und den Echo gewonnen.
Samy Deluxe ist als Samy Sorge in Eppendorf groß geworden. Seine Herkunft muss er sich mitunter vorwerfen lassen. So hat ein Rap-
Label aus Jenfeld ihn vor einigen Jahren musikalisch angegriffen: Er sei kein richtiger Rapper, schließlich käme er nicht aus dem Getto. Quatsch, meint Samy: „ Ich finde nicht, dass Aufwachsen in einem sozial schwachen Viertel einem die Berechtigung gibt, Rapper zu sein, genauso wenig, wie es einem eine Berechtigung gibt, kriminell zu sein.“ Zudem sei er nicht als Musiker in Eppendorf aufgewachsen, sondern als schwarzer Junge – „der einzige da, gefühlt“.

H&K:Samy, wie würdest du einen Song zum Thema Obdachlosigkeit angehen?
Samy: Ich habe gerade einen geschrieben für mein nächstes Album. Ich versetze mich in die Rolle eines Obdachlosen, der mal Rapper war, auch ein bisschen mit diesem Angeberding. Zum Beispiel habe ich einen Einkaufswagen, aber der hat Chromfelgen. Und ich hab da auch Tüten drin, nur steht da Gucci und Prada drauf. Aber der Inhalt ist natürlich der, den jeder Obdachlose hat.

H&K: Glaubt ihr, dass Musik auch etwas verändern oder Menschen etwas beibringen kann über Themen wie Obdachlosigkeit?
Jon: Ich glaube schon. Aber natürlich nur, wenn man die Möglichkeit hat, dass viele Leute das hören. (Samy brummt bejahend.) Es müssen ja nicht gleich die Charts sein. Aber wenn’s vielleicht mal im Radio gespielt wird oder drüber berichtet wird wie hier jetzt, dann denke ich schon, dass das was bewegen kann. Vielleicht kriegt das nur eine obdachlose Person mit und denkt: Vielleicht stimmt, was die rappen. Vielleicht kann ich es schaffen, aus der Obdachlosigkeit rauszukommen.
Abdulai Abaker: Manche interessiert es ja gar nicht, wie es Obdachlosen geht. Und denen wollen wir halt zeigen, wie so ein Leben ist. Und wir wollen auch Obdachlose motivieren, was zu tun.
Samy: Und was ist euer Ziel mit eurer Musik, weil ich euch jetzt schon über Charts reden höre? Wollt ihr das als Spaßding machen oder wollt ihr unglaublich reich werden oder was ist euer Plan?
Jon: Also „unglaublich reich“ kann man nicht so richtig planen, glaube ich.
Samy: Ganz schön schlau, der Junge.

In seinem 2009 erschienenen Buch „Dis wo ich herkomm – Deutschland Deluxe“ widmet Samy Deluxe ein ganzes Kapitel dem Thema „Erfolg“. Der kam für Samy, wie er schreibt, zwar nicht über Nacht, aber teilweise zu schnell. Bekanntheit, sagt er, heiße vor allem, dass jeder eine Meinung über einen hat. Das muss man aushalten können. Auf der anderen Seite nutzt Samy Deluxe seine Popularität für Projekte, die ihm am Herzen liegen. 2007 gründete er mit anderen „Crossover“. Der Verein veranstaltet Musik- und Sport-Workshops für Schüler aus unterschiedlichen Stadtvierteln oder Schulformen. Sein Ziel ist, Jugendlichen Erfolgserlebnisse und Selbstvertrauen zu vermitteln.

Jon: Wenn wir berühmt werden würden, wäre das natürlich schön. Aber auch wenn’s nicht klappt, kann man das ja immer noch als Hobby machen. Musik ist ja nicht so, dass es eine Pflicht ist, damit Geld zu verdienen. Anders als Bürokaufmann, das macht ja keiner als Hobby, glaube ich.

H&K:Habt ihr schon andere Lieder geschrieben?
Abdulai: In der Schule im Musikunterricht hat unsere Lehrerin uns beide zusammengetan und gesagt, wir sollen für das ­Weihnachtskonzert in unserer Aula einen Weihnachtsrap ­schreiben. Und das haben wir dann gemacht. Da haben wir ­gemerkt, dass uns das Spaß bringt, dass wir gut zusammenarbeiten können.
Samy: Cool.

H&K: Habt ihr schon Pläne für neue Lieder?
Jon: Als nächstes wollen wir einen Aufstiegsrap für St. Pauli schreiben.
Samy: Yeah. Das ist super. Da werdet ihr viele Fans haben, auf jeden Fall. Ihr wisst ja, Lotto King Karl hat nur mit einem Song eine Riesenkarriere gemacht. „Hamburg meine Perle.“ Das werden sie noch spielen, wenn er hundert ist und die Leute werden ihn immer noch lieben.

H&K: Samy, worum ging es in deinem ersten Lied?
Samy: Als ich angefangen habe, waren die deutschen Rap-Lieder sehr referatlastig, so würde ich das nennen. Da war wenig Musikalität im Spiel. Eins meiner ersten Lieder war „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“. Da habe ich darüber geschrieben, dass Schwarz im Sprachgebrauch immer etwas Negatives ist und Weiß ist immer was Tolles. Weiße Weste haben heißt, du bist ein ganz toller Typ und dagegen dann Schwarzfahren und schwarzes Schaf.
Später hat mich das genervt, immer nur über ernste Sachen zu schreiben und dass es nicht so flüssig geklungen hat. Und da habe ich mich mit Reimen und Wortspielen beschäftigt. Ich find’s langweilig, immer nur mit dem Zeigefinger zu kommen. Man kann nicht nur sagen, die Fakten sind so und gestern war da ein Tsunami und hier geht’s Leuten schlecht und da sind Leute krank.
Jon: Das mit den Nachrichten macht ja schon die Tagesschau, ne?
Samy: Genau. Wenn man den Leuten was zu sagen hat, was sie eh nicht so gerne hören wollen, und Themen nahebringen will, über die sie sich nicht so gerne Gedanken machen, dann muss man das schon auf eine sehr unterhaltsame Weise tun, glaube ich.

Seit seinem 13. Lebensjahr hat Samy sich auch musikalisch immer wieder mit Rassismus beschäftigt. Er könne das gar nicht auslassen, sagt er. Im Gegenteil: „Ich find’s furchtbar, Menschen in Deutschland in der Öffentlichkeit zu sehen, die einen Migrationshintergrund haben und nie mit diesem Thema sich auseinandersetzen. Das sind für mich einfach merkwürdige Menschen. Entweder kriegen sie die Hälfte nicht mit, was auf der Straße und im Leben passiert, oder sie wollen sich nicht damit auseinandersetzen.“

Jon: Samy, wann hast du angefangen mit Rappen?
Samy: Ich hab angefangen auf Englisch zu rappen, da war ich 14. Da gab’s noch nicht so richtig deutschen Rap.
Abdulai: Konntest du flüssig Englisch?
Samy: Ich hab ein halbes Jahr in England gelebt und da sehr schnell Englisch gelernt und angefangen zu verstehen, worum diese ganzen Rap-Lieder gingen, die ich schon die Jahre davor gehört hatte. Wenn ihr Rapper werden wollt, müsst ihr richtig gut Englisch lernen, sonst werdet ihr diese Kunstform nie verstehen. Ihr müsst die Geschichte studieren. Wenn ihr wirklich damit Karriere machen wollt, dann bedeutet das auch viel Arbeit und nicht nur ein paar Reime schreiben.
Jon und Abdulai: Hmmm …

01HK208_Titel_05.indd01HK208_Titel_05.indd„Dis wo ich herkomm – Deutschland Deluxe“, das Buch von Samy Deluxe, ist erschienen im Rowohlt-Taschenbuchverlag, 8,95 Euro. Sein neues Album „Schwarz-Weiß“ soll zu Beginn kommenden
Jahres veröffentlicht werden.

Unter dem Titel „Wie klingt die Straße?“ riefen Hinz&Kunzt und die Internetplattform AUDIYOU im Januar Schüler auf, Hörbeiträge zum Thema Obdachlosigkeit einzureichen. Die Jury, bestehend aus Schulsenatorin Christa Goetsch, H&K-Beirat und EX-NDR-
Programmchef Rüdiger Knott, H&K-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer und H&K-Verkäufer Peter Konken, wählte im Mai die besten aus. Den ersten Platz belegten die „Dynamite Brothers“ Abdulai und Jon, den zweiten acht Kinder des Radiokurses der Grundschule Ludwigstraße, den dritten Raffaela und Chris Bothe. Alle Beiträge des Wettbewerbs sind im Internet unter www.audiyou.de zu hören.

Interview: Beatrice Blank
Fotos: Roderick Aichinger

Film, Fön und Fantasie

Gleb Lenz betreibt einen kleinen Frisiersalon in Altona. Daneben beschäftigen ihn menschliche Schicksale, Einsamkeit, Liebe, Träume. So kommt es, dass der Friseur, während er Haare schneidet und Dauerwellen legt, seinen Kunden Geschichten erzählt. Eine davon will er sogar verfilmen. Wie das geht, weiß er: Mit seiner blühenden Fantasie hat es Gleb Lenz schließlich geschafft, Pro­tagonist eines Dokumentarfilms zu werden, der auf der Berlinale zu sehen war.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Neulich ging Gleb Lenz über einen roten Teppich. Gab Interviews, genoss den Applaus. In Berlin war das, bei der Berlinale. Gleb Lenz war dort als Hauptperson in dem Dokumentarfilm „Glebs Film“ zu sehen. Gezeigt wird darin, wie er in seinem Frisiersalon Haare schneidet, Locken legt, Augenbrauen färbt und dabei mit seinen Kunden über seine Filmidee spricht: einen Spielfilm über einen nicht mehr ganz jungen Mann, der stundenlang in zerrissenen Hosen auf der Straße steht; der arbeitslos und obdachlos ist und dem Herr Lenz eines Tages die wirren Haare schneidet. „Für mich heißt dieser Mann – Florian“, sagt Herr Lenz.
Lenz„Der Film, kann man schon sagen, war ein kleiner Erfolg“, erzählt er weiter. „Aber viele haben mich hinterher gefragt: Und? Machen Sie diesen Film über diesen Florian jetzt wirklich?“ Ja, das hat er vor. So, wie er auch weiter mit seinen Kunden über seine Filmidee plaudert.
„Ach, die Geschichte schon wieder; ich kann die nicht mehr hören“, stöhnt denn auch Frau Niemann. Frau Niemann sitzt im Frisierstuhl, ihre Haare verschwinden unter einer Trockenhaube. Frau Niemann kommt wie viele aus der Nachbarschaft. Sie erhält heute eine Dauerwelle. Das dauert.
„Sind Sie manchmal depressiv?“, fragt er sie. „Kommt drauf an“, antwortet Frau Niemann. Herr Lenz nickt: „Hat ja jeder mal. Man will auf das Dach steigen und …“
Gerade hat er in der Zeitung gelesen, dass sich jeden Tag drei Menschen vor einen Zug werfen, im Durchschnitt.
„Drei!“, sagt Herr Lenz. „Aber warum machen die das?“
„Weil sie es satt haben. Da hat man seine Ruhe …“, erklärt Frau Niemann.
Das will Herr Lenz nicht gelten lassen: „Es gibt aber auch schöne Sachen im Leben. Wenn man verliebt ist …“
„Ja, aber das dicke Ende kommt auch“, lacht Frau Niemann.
„Ahhhh“, macht Herr Lenz, wie er es immer macht, wenn ihn etwas sehr erstaunt. Dann fragt er: „Was meinen Sie mit ‚das dicke Ende‘?“
„Na, bleiben Sie ewig verliebt? Der Alltag …“
„Ich weiß, aber diese Droge für kurze Zeit ist ja da, dieses Verliebtsein …“ – Herr Lenz schaut beseelt an die Decke.
„Das Verliebtsein dauert vielleicht ein halbes Jahr. Aber eine Ehe dauert vielleicht 50 Jahre!“, sagt Frau Niemann. Sie hebt den Zeigefinger: „Unter guten Voraussetzungen!“
Herr Lenz nickt versonnen.
„Ach, man muss abwägen, generell“, spricht Frau Niemann weiter: „Ist das Leben gut – dann kann ich ja leben, ist es nur Mist – dann kann ich mich aufhängen.“
Herr Lenz schweigt. Er bestreicht ihr Haar mit einer weißen Tinktur, stellt den Wecker. Zehn Minuten muss die Tinktur jetzt einziehen.
Jedenfalls der Film: Es gibt in dem Film nicht nur Florian in seiner zerrissenen Hose. Es gibt auch Claudia. Claudia hat lange bei ihrer Mutter gelebt, ist einsam und arbeitslos wie Florian. Und Claudia ist ein wenig dicker: „So 140 Kilo“, sagt Herr Lenz: „90, das wäre zu wenig, das ist ja fast normal. 200 wäre wieder zu viel.“ Und wie nun Florian, in der zerrissenen Hose, wie er auf der Straße steht, und die einsame, arbeitslose Claudia zueinanderfinden, davon soll sein Film handeln.
„Ein bisschen Action, aber auch Liebe, dazu Nahaufnahmen: Aus all diesen Zutaten soll mein Film bestehen – wie ein Gericht“, sagt Herr Lenz. „Es soll nicht ganz oberflächlich werden, eine philosophische Note soll auch sein. Eine Szene wird auch in Afghanistan spielen“, sagt Herr Lenz. Weil doch Florian als Polizist in Afghanistan war. Und da hat er einiges erleben müssen, weshalb er heute stundenlang auf der Straße steht, in zerrissenen Hosen.
Noch etwas ist ihm wichtig: „Es soll in dem Film auch etwas über heutige Mode erzählt werden. Es geht darum, die Mode ist nicht nur für dünne Frauen gedacht, sondern auch für etwas korpulentere Frauen. Es wäre ja auch diskriminierend, wenn es nur Mode für ganz dünne Frauen gäbe.“ Wie bestellt, klingelt der Wecker. Herr Lenz löst die Lockenwickler, einen nach dem anderen.
Herr Lenz kommt ursprünglich aus Minsk, Weißrussland. 1991 verschlägt es ihn nach Hamburg. Die Stadt gefällt ihm sofort. Er lernt hier auch seine Frau kennen, die ihrerseits aus Kasachstan kommt, eine Deutschstämmige. Deshalb heißt er auch Lenz: „Ich hab den Führungsnamen meiner Frau angenommen“, erzählt er: „Was sollen sich unsere Kinder auch hier in Deutschland mit einem russischen Nachnamen rumplagen.“ Integration mal ganz praktisch.
Herr Lenz liebt das Theater. Er möchte Maskenbildner werden. Dazu muss man vorher eine Friseurlehre machen. Er macht auch noch die Meisterschule, übernimmt dann vor gut zehn Jahren einen Friseursalon in Altona. „Ich bin sehr zufrieden mit diesem Beruf“, sagt er, „aber man möchte im Leben noch eine zweite Karriere haben.“
Der letzte Lockenwickler ist entfernt. Er wäscht Frau Niemann das Haar. „Die Claudia“, beginnt er wieder, „die Claudia in meinem Film, die macht auf Natur; die will naturbelassen bleiben.“ Er spült das Haar aus, trocknet vorsichtig Frau Niemanns Haar ab. „Das Einzige was wir chemisch bei Ihnen machen, ist die Dauerwelle. Alles andere ist Natur.“
Dann – wieder so ein Einfall! Er schließt kurz die Augen, legt los: „Ich habe eine Kundin, die ist so alt wie Sie, Frau Niemann. Die ist noch dicker. Die ist ein bisschen unglücklich in ihrem Leben. Lebt allein, Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie hat vor Kurzem noch gearbeitet, weil die Rente doch nicht so ausreichend war.“
Herr Lenz ist fertig mit dem Abtrocknen. „Auf jeden Fall hat sie ein Bein gebrochen – und dadurch war sie noch unglücklicher, die Stimme war nicht mehr so fröhlich. Aber sie hatte noch diesen Job – Telefonsex war das praktisch. Ja, sie hat in ihrem Alter das noch gemacht. Warum? Weil von zu Hause aus kann man das machen; man muss nicht wohin gehen. Aber dadurch, dass ihre Stimme so unglücklich wurde, hat man sie dann gekündigt. Und sie war dann dadurch noch mehr unglücklicher.“
Herr Lenz betrachtet Frau Niemanns Haare. „Aber nun kommt’s: Sie hat so ähnliches Haar wie Sie. Aber sie wollte anders sein. Und sie hat sich Perücken gekauft; verschiedene: lange und kurze – und das ist eben der Punkt, das wollte ich Ihnen sagen: Haben Sie schon mal eine Perücke besessen? Nein? – Weil Sie ein Naturmensch sind!“
Und die beiden prusten laut los. „Doch, doch, das ist wahr“, sagt er, als sie fertig gelacht haben. „Ach, Herr Lenz, sie tüdeln doch“, sagt Frau Niemann und schaut vergnügt in den Spiegel.
Hat er schon eine Idee, welcher Schauspieler den Florian spielen soll? „Ich“, sagt Herr Lenz. Denn er stellt sich Folgendes vor: „Der Florian, mit seiner zerrissenen Hose, durch seinen Knick im Kopf sozusagen, sieht er alle Männer, mit denen er spricht, er sieht sein Gesicht bei denen. Er erkennt die Gesichter von denen nicht, das ist das Sonderbare bei ihm. Er sieht sich selbst in jedem, verstehen Sie?“
Von daher ist es ganz praktisch, wenn Herr Lenz den Florian spielt – und alle anderen Männer gleich mit. „Bei der Claudia geht das natürlich nicht; da muss ich mal schauen“, sagt Herr Lenz. „Auch Florians Mutter und Claudias Mutter – obwohl, ich will das meiste durch Florians Träume zeigen; wenn er sich so erinnert: damals Picknick mit der Mutter am Elbstrand; da ist ja auch Sand – wie in Afghanistan.“
Herr Lenz schneidet noch ein wenig nach. „Das kann man ruhig sehen, dass die Szene in Afghanistan nicht in Afghanistan gedreht ist“, erzählt er, „sondern an der Elbe.“ Er sagt ernst: „Am Ende wird mein Film auf dem Mars spielen.“ Auf dem Mars? „Ja, weil man doch sagt“, sagt Herr Lenz: „,Ich könnte diese ganzen Arbeitslosen auf den Mond, also auf den Mars schießen!‘“ Und er schlägt sich auf die Schenkel, lacht sein herzhaftes Lachen, die Schere in der Hand.
Es wird bestimmt ein toller Film werden. „Ja“, sagt Herr Lenz, „das glaube ich auch.“ Das Drehbuch ist fast fertig, er braucht nur noch eine Kamera, Ton, Licht. „Es soll eine Low-Budget-Produktion werden, aber ein bisschen Geld und Unterstützung bräuchte ich schon; dass es jemand gibt, der mir hilft, weil …“ Herr Lenz stoppt. Herr Lenz hat eine Idee! Herr Lenz sagt: „Vielleicht können Sie das in Ihrer Zeitung ja so schreiben, ja?“

Glebs Film, ein Dokumentarfilm von Christian Hornung, 2009. Weitere Informationen unter: www.glebsfilm.de Friseursalon Lenz, Windhukstraße 15, Telefon 880 05 01
Text: Frank Keil
Foto: Daniel Cramer

„Das war das Beste, was uns passieren konnte.“

Auch die „Holstenpunx“ waren obdachlos, bevor sie im Sommer 2008 in zwei leer stehende Häuser in Bahrenfeld einzogen. Seitdem schauen sie nach vorne, beginnen Ausbildungen und pflanzen Apfelbäume. Und sie wollen um ihr Zuhause kämpfen. Denn weil der ­Häuserkomplex von der Stadt verkauft wurde, steht das Projekt vor dem Aus.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Ansturm auf Suppenküchen – weil das Geld zum Essen nicht reicht

Die Zahlen des Monats

(aus Hinz&Kunzt 187/September 2008)

250 Prozent mehr Gäste meldet die Altonaer Obdachlosen-Tagesaufenthaltsstätte „Mahlzeit“ im Vergleich zu 2005. Statt 60 bis 80 Bedürftige kommen täglich 200 pro Tag, um ein kostenloses Mittagessen und etwas Ruhe zu genießen. „Früher kamen fast ausschließlich Obdach- und Wohnungslose zu uns“, sagt Leiterin Marion Sachs. „Heute sind es auch viele Rentner oder arbeitslose Mütter mit Kindern, die mit ihrem Geld nicht mehr auskommen.“ Weil die Räume nur Platz für 120 Besucher bieten, muss die Einrichtung neuerdings sogar Bedürftige abweisen.

Grüne Zuflucht

Ansichten in einer Schrebergarten-Anlage in Altona

(aus Hinz&Kunzt 125/Juli 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Kleingartenanlage Altona Nord II.

Mein Dartpfeil ist in einer Schrebergartenanlage gelandet. Ich bin ihm gefolgt und stehe nun inmitten von Grün. Es ist still. Es riecht nach frischer Erde und nach Gras. Unter meinen Schuhen knirscht es, als ich einen schnurgeraden Kiesweg entlanggehe – die Hauptstraße der Kleingartenanlage Altona Nord II. Rechts und links hohe Hecken, dahinter ducken sich die insgesamt 52 Holzlauben in den Schutz hoher Bäume. Ein Idyll, das eingeklemmt ist von Hochhäusern auf der einen Seite und den Gleisen des Hauptgüterbahnhofs Eidelstedt auf der anderen.

Ich will erfahren, wie es so ist, das Leben als Schrebergärtner. Doch eigentlich mag ich keinen stören. Die Menschen sind alle so beschäftigt: sie entspannen, säen, zupfen Unkraut, mähen Rasen, lesen Zeitung, trinken Kaffee, plaudern, gucken in den Himmel. Sie sitzen meist ganz hinten in ihren Gärten, weit weg vom Gartenzaun. Doch das Ehepaar Will lässt mich herein. Das Gartentor knarrt leise. Wir setzen uns unters Wellblechdach ihrer Gartenterrasse. Helmut Will war früher Fahrdienstleiter am Hauptbahnhof, im Schichtdienst. Heute haben sie mit der Bahn eher Ärger. Laut donnern die Züge an den Gärten vorbei. Das scharfe Geräusch verdrängt für einen Moment Vogelgezwitscher und Blätterrascheln und verkrallt sich im Ohr. Gegen den Lärm haben die Wills Holzplatten vor die Hecke gestellt, die zu den Gleisen zeigt, und diese mit Gummimatten ausgekleidet. Es hilft nicht viel. „Und die Bahn will den Takt noch erhöhen“, sagt Helmut Will. „Noch mehr Züge sollen fahren, die Höchstgeschwindigkeit soll raufgesetzt werden.“

Am Bahndamm hat er mal zusammen mit ein paar Leuten aus dem Gartenverein Draht gespannt. Der Grund: „Immer wieder spielen Kinder dort, legen Gegenstände auf die Gleise, und wenn ein Zug dann da drüber rasselt, knallt es. Die Bahn sperrt das nicht genügend ab.“ Der Draht draußen am Damm ist an verrosteten Pfählen befestigt. Er ist an vielen Stellen schon wieder auf den Boden gedrückt oder ganz heruntergerissen. Zwischen Brennnesseln, Pusteblumen und Disteln liegen ein paar zerdrückte Bierdosen. Hier jedoch wird alles liebevoll gepflegt.

„Es ist schön, wenn man so sitzt und alles blüht“, sagt Frau Will und sieht über den Garten, der den Eheleuten schon seit 30 Jahren gehört. Die Fische im Teich sind zutraulich. Sie kommen angeschwommen, und wenn Herr oder Frau Will die Finger ins Wasser halten, saugen sie daran. An meinen Fingern saugen sie nicht, die gucken sie nur an. Die Wills haben Schnüre über den See gespannt, damit die Reiher die Fische nicht holen. Im Winter kommen sie jeden Tag her und sehen nach, ob alles heil ist. Füttern die Vögel, die Fische brauchen dann nichts. Es kam schon vor, dass eines Tages das Vogelhaus zusammen mit Mülltüten im Gartenteich lag, Blumentöpfe zerbrochen, die Erde verstreut. „Die haben noch nicht mal was geklaut, nur randaliert“, sagt Helmut Will und schüttelt den Kopf. Seine Frau nickt.

Der Blick fällt auf die Hochhäuser nebenan. Auch wenn viele, die hier einen Garten haben, in der Gegend wohnen, ist der Blick auf die Plattenbauten meist ein skeptischer. Ein Chaotenviertel sei das, sagt mir jemand, oder: „Dort wohnt jetzt alles.“ Von dort oben wurde mal geschossen, erzählt entrüstet eine Frau. Einer wollte sich runterstürzen, und vor 30 Jahren sei tatsächlich einer gefallen, er saß im Fenster und hatte zu viel Bier getrunken. Kommen nun von dort diejenigen, die auf den Spielplätzen Reifen zerstechen und in den Gärten randalieren? „Es gibt eben auch immer welche, die sich nicht ganz anpassen“, so erklärt sich das Frau Will. Richard Schmidt ist der gleichen Ansicht. Der 71-Jährige ist bereit, seinen Garten mit allen Mitteln zu verteidigen. Nicht gegen den Zuglärm, der stört ihn nicht. „Terror im Kleingarten. Du wirst abgefackelt!“, sagt er und zeigt mir einen drei Jahre alten Zeitungsartikel aus einem Lokalblatt. Seit damals sein Geräteschuppen in Brand gesteckt wurde und dabei fast die Laube abgebrannt wäre, hat er aufgerüstet. Drei Gewehre und eine Pistole hängen neben Geweihen im Haus. Nach eigenem Bekunden alle geladen. „Ich hab seitdem einen Waffenschein“, sagt er und bietet mir einen Kaffee an. „Irgendwie muss ich ja die Enkel verteidigen, wenn sie hier schlafen und irgendwas ist.“ Seit dem Vorfall hat er Gartentor und Laube mit einer Alarmanlage gesichert. Auch einen Schäferhund haben sie jetzt, wie der Nachbar.

Meine Blicke huschen durch die kleine Gartenlaube. „Haben wir alles in Handarbeit selbst aufgebaut“, sagt er stolz. Es ist alles da, sogar ein Fernseher. Eine kleine Küchenzeile. Auf der ausklappbaren Couch sitzen Puppen, auf dem Regal stehen zwei beleuchtete Mickeymäuse neben diversen Pokalen. Eine Art Miniwohnung auf 20 Quadratmetern. Richard Schmidts Sohn Thomas mäht derweil draußen um einen Fahnenmast herum, an dessen Spitze eine Hamburg-Flagge weht. Im Hintergrund ein Wetterhahn auf dem Laubendach. Davor Blumenbeete, um die herum gleichfarbige, gleichgroße Steine liegen. Auf den Beeten Gartenzwerge. Der 39-Jährige arbeitet in der eigenen Gartenbaufirma, zusammen mit seinem Vater. Familienbetrieb seit fast sechzig Jahren. Vor seinem Haus in Bahrenfeld hat er auch einen Garten. So wird das Leben der Schmidts maßgeblich von Gärten geprägt.

Ein paar Parzellen weiter treffe ich einen Mann mit grauem, nach hinten gekämmtem Haar. Er trägt eine blaue Latzhose und klobige Arbeitsschuhe. Wolfgang Brenker erzählt über den Zaun hinweg. Sein Garten ist ihm alles, als Rentner hat er Zeit. Er kommt jeden Tag. „Ich mach dann hier was und da was. Und wenn ich nicht mehr kann, setz ich mich hin und ruh mich aus.“

Sein Blick fällt auf den Garten nebenan. Dort stehen weiße Blumen auf der Wiese, die viel höher ist als in all den anderen Gärten. Am Obstbaum hängen noch Ostereier, obwohl Ostern längst vorbei ist. Der Garten gehört einer alten Dame, frisch operiert, die kann im Moment nicht mehr so, klärt mich der alte Mann auf. „Bald geh ich nach drüben und mach das weg. Das kommt sonst alles hier rüber“, erklärt er. Schade, denke ich, und sehe auf die hohe Wiese. Ich denke an die Schmetterlinge, die über die Blüten flattern und miteinander flirten. Wolfgang Brenker stützt sich auf seinem Gartenzaun ab. „Und wissen sie, warum ich es noch nicht weggemacht habe?“ Er sieht mich an und blinzelt gegen die Sonne: „Wegen den Schmetterlingen lass ich es noch eine Weile stehen.“

Als der Kiesweg aufhört und es unter meinen Schuhen wieder still ist, habe ich die Schrebergärten hinter mir gelassen. Ich will schon gehen, da sehe ich Eduard. Er sitzt auf einer Bank und sieht auf das Hochhaus, in dem er wohnt. Eduard ist 73. Er ist vor zwölf Jahren mit seiner Frau aus Kasachstan gekommen. Hier gefällt es ihm. Mit der Zwei-Zimmer-Wohnung ist er zufrieden. Er hat nette Nachbarn, sagt er. Mit einem macht er immer vor dem Haus sauber, sammelt den Müll weg, das macht sonst keiner. „Und ich kann mittlerweile ganz gut lesen“, sagt er. Früher war er Analphabet. „Sechs Stunden pro Woche lesen wir in der Bibel. Zwei am Sonntag, zwei am Dienstag, zwei am Donnerstag. So habe ich es gelernt.“ Eduard ist Zeuge Jehovas. Heute war er schon im Dienst, hat viele Prospekte verteilt. Jetzt lässt er sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

Als ich gehe, schaue ich noch mal zurück. Eduard ist jetzt ganz klein. Er winkt.

Katja Thomas

Mit einem Bein draußen

Im Moritz-Liepmann-Haus bereiten sich Gefangene auf die Freiheit vor

Ein Gefängnis mitten im Stadtteil, eine Anstalt, die kaum einer kennt. Im Moritz-Liepmann-Haus in Altona verbringen Strafgefangene die letzten Monate vor ihrer Entlassung. Wird Justizsenator Roger Kusch das Haus erhalten?

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Der zweigeschossige Bau in der Alsenstraße ist nur ein paar Schritte vom Musical-Theater „Neue Flora“ entfernt. Das Grundstück hat keine Mauer, keine meterhohen Zäune, keine Scheinwerfer. Das Moritz-Liepmann-Haus (MLH) gibt sich diskret. Noch nicht mal ein Schild am Eingang weist darauf hin, dass es sich um die Justizvollzugsanstalt XIII handelt.

Im Haus leben 38 Männer und 7 Frauen. Sie haben zum Teil Jahre in anderen Anstalten hinter sich und sind für die letzten Monate ihrer Haft ins MLH gewechselt, um sich auf die Entlassung vorzubereiten. Wichtigste Bedingung dort: Die Insassen müssen sich Arbeit suchen. Ziel ist „ein nahezu an die Freiheit angepasstes Leben noch während der Haft“, wie es in einem Info-Blatt heißt. Oder wie ein Insasse formuliert: „Man sitzt mit einem Bein schon draußen.“

Freigang für den Job gibt es zwar auch in anderen Hamburger Gefängnissen. Doch das MLH hat den Vorteil einer zentralen Lage: Die S-Bahn Holstenstraße ist in Sichtweite. Insassen erreichen ihre Arbeitsstellen wesentlich leichter, als wenn sie sich von Vierlande oder Glasmoor auf den Weg machen müssen. Das MLH ist außerdem die einzige Einrichtung in Hamburg, die ausschließlich für den Übergang zwischen Haft und Freiheit konzipiert wurde. Bei der Eröffnung 1972 war es bundesweit ein Modellprojekt.

Vorausgegangen war die Erfahrung, dass in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung eines Häftlings das Rückfall-Risiko am größten ist. So entstand die Idee, mit Integration noch während der Haftzeit zu beginnen und dafür ein spezielles Haus zu schaffen. Ein mutiger Schritt, getragen von der Aufbruchstimmung jener Zeit. Selbst die konservative „Welt“ stellte zur Eröffnung des MLH zufrieden fest: „Auf dem Wege zu einem modernen Strafvollzug ist Hamburg wieder einen Schritt vorangekommen.“

Benannt ist das Haus nach dem Strafrechtsprofessor Moritz Liepmann, der von 1919 bis 1928 an der Universität Hamburg lehrte und führender Kopf in der Reform des Strafvollzugs war.

Zwischen sechs und zwölf Monaten sind die Insassen im MLH. Sie leben in Ein- bis Drei-Bett-Zimmern, die sie mit eigenen Dingen ausstatten dürfen, die sie aber auch selber sauberhalten müssen. Die Regeln im Haus sind strikt: kein Alkohol, keine Drogen – was durch unangekündigte Kontrollen überwacht wird.
Das Verlassen des Hauses und die Rückkehr werden auf Zeitkarten festgehalten. Pünktlichkeit ist angesagt, „mal sehen“ gibt’s nicht. Wer nach der Arbeit noch Ausgang haben will, muss in der Regel erst ins Haus zurückkehren, um sich dann wieder abzumelden. Dass die rund 20 Mitarbeiter den Insassen ständig mit Fragen auf den Leib rücken, gehört zum Prinzip der Anstalt („Wo sind Sie gewesen? Was haben Sie erreicht?“). Einzel- und Gruppengespräche sind Pflicht, ebenso die Teilnahme an den monatlichen Vollversammlungen. Rund zwei Drittel der Insassen halten durch und werden in die Freiheit entlassen. Die übrigen müssen zurück in reguläre Anstalten, weil sie Vereinbarungen nicht einhielten oder sogar neue Straftaten verübten.
Über die Aufnahme ins Haus entscheiden je zwei Vertreter des MLH und der „entsendenden“ Haftanstalt. Nicht genommen werden Sexualstraftäter – eine Regelung, die schon seit Eröffnung des Hauses gilt. Grund: Eltern, deren Kinder auf die benachbarte Grundschule gingen, hatten das Projekt zunächst mit Skepsis verfolgt.

Arbeit finden die Insassen zum Beispiel bei Zeitarbeitsfirmen oder in gewerblichen Jobs. Arbeitgeber schätzen offenbar, dass die Anstalt mit in der Pflicht ist: Wenn ein Arbeitnehmer zum Beispiel nicht erscheint, können sie sich ans MLH wenden. Wie in anderen Anstalten auch müssen Gefangene, die Geld verdienen, einen Teil für die Zeit nach der Entlassung zurücklegen. Sie müssen außerdem einen Beitrag zu den Haftkosten leisten und, falls erforderlich, Unterhalt be- und Schulden abzahlen.

Seit Justizsenator Roger Kusch (CDU) alle Justizvollzugsanstalten auf den Prüfstand gestellt hat, ist die Zukunft des MLH jedoch ungewiss. Hardliner Kusch ist kein Freund von offenem Vollzug, setzt auf Wegschließen und muss für zusätzliche Haftplätze, die im Großgefängnis Billwerder geplant sind, Geld und Personal mobilisieren. Könnte dafür eine „weiche“ Einrichtung wie das MLH geopfert werden, die wegen der sozialpädagogischen Begleitung personalintensiver ist als geschlossener Vollzug? Die Leitungsstelle im MLH ist bereits seit zehn Monaten vakant. Die Neubesetzung wurde nach dem Regierungswechsel gestoppt.
Eine Schließung des Moritz-Liepmann-Hauses steht überhaupt nicht zur Debatte“, sagt Behördensprecher Kai Nitschke. Die Leitungsstelle sei derzeit zwar nicht ausgeschrieben, solle aber wieder besetzt werden („im Augenblick funktioniert das auch so ganz gut“). Die zusätzlichen Haftplätze in Billwerder seien „Zukunftsmusik“, Auswirkungen auf das MLH gebe es nicht, zumal das Klientel – in Billwerder geschlossener Vollzug, im MLH offener Vollzug – völlig unterschiedlich sei.

Die Sorge, das MLH könne geschlossen werden, hat immerhin die 17 Hamburger Strafvollstreckungsrichter auf den Plan gerufen (also jene Richter, die sich mit Anträgen und Beschwerden von Gefangenen befassen). Sie gaben im August ein einhelliges Votum für das Haus ab: Die Anstalt erbringe „vorbildliche Leistungen“ bei der Resozialisierung und sei „in der Palette der Hamburger Anstalten unentbehrlich“, so die Richter in einem Schreiben an das Strafvollzugsamt.

Das Moritz-Liepmann-Haus – vielleicht Hamburgs unauffälligstes Gefängnis. Die einzigen Gitter befinden sich vor den Fenstern des Kassenraums im Erdgeschoss. Sie sollen nicht Ausbrüche verhindern, sondern Einbrüche.

Detlev Brockes