Der langjährige Hinz&Kunzt-Vertriebsmitarbeiter Sigi ist tot : „Schroffe Herzlichkeit“

Kerzen und Blumen im Hinz&Kunzt-Vertrieb: Mach’s gut, Sigi! Foto: Dmitrij Leltschuk

Hinz&Kunzt nimmt Abschied: Siegfried „Sigi“ Pachan, Verkäufer mit der Ausweisnummer sieben und langjähriger Vertriebskollege, ist nach nur einem Jahr in Rente verstorben.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Sigi ist nicht mehr da. Die Nachricht vom Tod des ehemaligen Vertriebskollegen verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Teamkolleg:innen und Hinz&Kunzt-Verkäufer:innen stehen mit Tränen in den Augen zusammen. Tagelang melden sich alte Weggefährt:innen und können den Verlust kaum glauben.

Es waren die Nachbar:innen von Siegfried Pachan, die das Hinz&Kunzt-Team Ende Oktober über den Tod des 66-Jährigen informierten. Ein paar Tage schon hatten sie ihn nicht gesehen und deshalb die Polizei verständigt. Die hatte ihn leblos in seinem Sessel sitzend gefunden, ganz friedlich. Immerhin das, ein Trost.

Erst im vergangenen Jahr hatte Hinz&Kunzt den Kollegen in den Ruhestand verabschiedet – nach 28 Jahren (Hinz&Kunzt Nr. 352, Juni 2022). Sigi, der im Heim aufwuchs und dort „gequält und geschlagen“ wurde, wie er erzählte, kam als einer der ersten Obdachlosen zum Straßenmagazin. Seine Verkäufernummer: die Sieben. Schnell bekam der gelernte Radio- und Fernsehtechniker einen Arbeitsvertrag im Vertrieb. Hier schaffte er es nach und nach, vom Alkohol loszukommen. Er zog in eine Wohnung, und mithilfe einer Schuldnerberatung und Privatinsolvenz gelang es ihm schließlich, schuldenfrei zu werden. Zuletzt freute sich Sigi auf seinen neuen Lebensabschnitt als Rentner, träumte von einer langen Reise durch die USA. Das passte zu ihm, den alle „Vertriebsindianer“ nannten, weil auf seinem Oberarm ein Tattoo des indigenen Häuptlings Sitting Bull prangte und er immer eine Lederweste mit Fransen trug.

Nachdem Sigi in Rente gegangen war, „fehlte hier eine starke Stimme, ein Bindeglied zu den Verkäufern“, sagt die stellvertretende Vertriebsleiterin Meike Lehmann. „Er hat die Leute wirklich immer – egal welche Vita sie hatten – herzlich begrüßt, jeden mit Handschlag als Zeichen des Respekts.“ Zwar war Sigi oft laut und polternd, aber alle und besonders die Hinz&Künztler:innen wussten: „Das war schroffe Herzlichkeit“, so Uwe Tröger, der heute am Flughafen beim Projekt „Spende dein Pfand“ arbeitet. Er erzählt: „Als ich noch Verkäufer war, hat er mich nie mit Namen begrüßt, sondern immer mit meiner Verkäufernummer. Die kannte er fast alle auswendig. Da hieß es dann: ,Ah – 4108! Komm ran hier!‘ Und dann: ,Wie, nur zehn Zeitungen? Nimm ein Paket! Die Dinger müssen weg!‘ Und wenn man mal klamm war, hat er einem auch ausgeholfen. Ich musste dann natürlich versprechen, das Geld zurückzugeben.“

Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler sagt: „Sigi hat Ungerechtigkeit gespürt und notfalls auch mal jemanden vor die Tür gesetzt, wenn es sein musste.“ Meist sei das aber gar nicht nötig gewesen, denn „wenn er da war, hat keiner Stress gemacht, höchstens kurz“, ergänzt Meike Lehmann. Und: „Sigi hatte auch einen unglaublich weichen Kern, und er hat sich oft vor Leute gestellt, die schwach waren.“

Sein Gerechtigkeitssinn und seine Sensibilität haben ihn vielleicht auch davon abgehalten, nach Jahrzehnten der Trennung wieder Kontakt zu seiner Familie zu suchen. Denn die Alkoholerkrankung – seiner damaligen Frau habe er „das Blaue vom Himmel“ erzählt – hatte lange einen Mann aus ihm gemacht, der seinen eigenen Werten nicht entsprach. Trotzdem wäre es beinahe zu einem Treffen gekommen, als sein inzwischen erwachsener Sohn per E-Mail auf ihn zukam. Sigi erfuhr, dass er Großvater war – und war unglaublich stolz darauf. Doch erst stand Corona einem Wiedersehen im Wege, dann fühlte sich Sigi wohl nicht mehr fit genug. „Mit seinem Stolz und ­seiner Sturheit stand er sich auch oft im Weg“, sagt Meike Lehmann dazu.

Dass der Ex-Kollege gesundheitliche Probleme hatte, war allen im Hinz&Kunzt-Team bekannt. Die Jahre der Obdachlosigkeit und des starken Alkoholkonsums hatten Spuren hinterlassen. Schon lange hielt Sigi es wegen starker Schmerzen nur noch mit Sandalen an den Füßen aus. Er selbst sagte dazu lapidar: „Alters­gerecht: Die Beine schmerzen, die Pumpe ist im Arsch.“

Wie schlimm es zuletzt um Sigis Gesundheit bestellt war, wussten nur Hinz&Kunzt-Verkäufer Jens und Silvia Zahn, Reinigungskraft bei Hinz&Kunzt und früher ebenfalls obdachlos: „Es kam raus, dass er vor Kurzem einen Schlaganfall hatte“, erzählt Jens. „Wir durften es aber niemandem erzählen.“ Silvia ergänzt: „Das war Sigi wichtig. Er wollte kein Mitleid.“

Auch nach seinem Tod will sie sich daran halten. Zu viel Sentimentalität hätte ihm auch nicht gefallen. Sie fragt: „Was soll ich jetzt bei seiner Beerdigung machen? Er hat doch nur noch Tee getrunken! Da kann ich ihm zum Abschied keinen Schnaps aufs Grab schütten!“

 

 

 

 

 

 

 

 

Artikel aus der Ausgabe:

Zuhause gesucht!

Unserer Gesellschaft fehlt der soziale Zusammenhalt? Das Gefühl scheint aktuell weit verbreitet. Wir haben das Projekt „Tausch & Schnack“ in Hamburg-Eimsbüttel besucht und mit dem Wissenschaftler Thomas Lux über die Kraft von sogenannten Triggerpunkten gesprochen und festgestellt: Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland ist gar nicht so klein. Außerdem: Weihnachten steht vor der Tür und wir bei Hinz&Kunzt haben bereits begonnen uns darauf einzustimmen. 

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