Hinz&Künztler Jiri

„Ich bin frei“

Ein Mann mit grauem Bart, Brille und einer Mütze mit der Aufschrift "Moin"
Ein Mann mit grauem Bart, Brille und einer Mütze mit der Aufschrift "Moin"
Will sein altes Leben hinter sich lassen: Hinz&Künztler Jiri. Foto: Mauricio Bustamante

Jiri, 58, verkauft Hinz&Kunzt vor Edeka in der Gasstraße.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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„Ich lebe meine Freiheit“, sagt Jiri und lehnt sich zufrieden auf dem Sessel in der Hinz&Kunzt-Redaktion zurück – dabei hätte der Tscheche mit dem weißen Vollbart und der kurzen Mütze mit „Moin“-Schriftzug allen Grund, unzufrieden zu sein. Immerhin lebt er obdachlos auf Hamburgs Straßen, hält sich mit dem Hinz&Kunzt-Verkauf gerade so über Wasser – und hat viele Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht.

Geboren wurde Jiri 1967 nahe der deutschen Grenze in der Stadt Teplice als ältester von drei Brüdern. Er besucht die Schule und macht eine Ausbildung zum Mechaniker. Doch im kleinen Teplice wird es ihm zu eng. „Ich wollte in die große Stadt, etwas erleben“, erinnert er sich und grinst. Jiri findet einen Job in einem metallverarbeitenden Betrieb in Prag, wo er für einige Jahre arbeitet. Doch er gerät schnell auf die schiefe Bahn. Gemeinsam mit Bekannten begeht er kleinere Diebstähle und Einbrüche. „Ich war jung, und ich war dumm“, sagt er heute. Die Folge der jugendlichen Dummheit: Knast. Seine Haftstrafe sitzt er in einem Prager Gefängnis ab, bis das realsozialistische tschechoslowakische Regime 1989 zerfällt und von einer demokratischen Regierung abgelöst wird. Die erlässt eine Amnestie für viele Gefangene, von der auch Jiri profitiert.

Doch der nutzt seine Chance nicht, auch nicht in der Tschechischen Republik, die 1993 entsteht. „In den 90ern war Chaos. Alles war möglich“, sagt Jiri mit Blick auf die bewegten Nachwendejahre. Der junge Mann lebt auf großem Fuß, ist begeistert vom westlichen Lebensstil, der in den einstigen Satellitenstaat der Sowjetunion herüberschwappt. „Ich habe Marlboros geraucht, Whiskey getrunken, wollte schnelle Autos fahren.“ Sein Leben finanziert er, indem er Geschäfte mit seinen kriminellen Bekanntschaften von früher macht. Er beteiligt sich an einer Baufirma, landet aber Ende der 1990er-Jahre wegen diverser Steuervergehen wieder vor Gericht. Jiri verbüßt eine weitere Gefängnisstrafe, aus der er abermals nicht lernt. Weil er im Anschluss an die Haft in finanzielle Probleme gerät, lässt er sich zu einer besonders großen Dummheit hinreißen: Jiri begeht einen Überfall im benachbarten Österreich, wird von der Polizei gefasst und landet wieder im Knast. Den ersten Teil der Haftstrafe verbüßt er in Österreich, den Großteil in seiner tschechischen Heimat.

Als er das Gefängnis Anfang 2024 verlassen darf, trifft er die Entscheidung, ein für alle Mal Schluss zu machen mit seinem alten Leben. Jiri geht zunächst nach Zürich, dann nach Berlin. Schließlich zieht es ihn nach Hamburg. Er liebt Schiffe, sagt er, liebt das Wasser und ganz besonders die Elbe, die auch nahe seiner tschechischen Heimatstadt verläuft. Seine Nächte verbringt er seitdem auf der Straße. Welche Pläne hat er für die Zukunft? Jiri hebt die Hände fragend in die Luft. Das Wichtigste für ihn ist momentan der maximale Kontrast zu seinem Leben hinter Gittern – alles andere kann warten: „Im Gefängnis hast du keine persönliche Freiheit, davon habe ich genug. Jetzt bin ich frei.“

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 392

Schwerpunkt: Kriminalität

Was Armut mit Kriminalität zu tun hat und wie ein Ex-Knacki Jugendliche vor dem Gefängnis bewahrt. Außerdem: Gemälde von Harburgs „Stadtmaler“ und Fotos von den „Arbeitern des Meeres“.

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Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.