Momentaufnahme

„Ich bin eine Kämpferin“

Seit 1998 verkauft Grazyna Hinz&Kunzt. Foto: Mauricio Bustamante
Seit 1998 verkauft Grazyna Hinz&Kunzt. Foto: Mauricio Bustamante
Seit 1998 verkauft Grazyna Hinz&Kunzt. Foto: Mauricio Bustamante

Grazyna, 55, verkauft Hinz&Kunzt vor Netto in der Frohmestraße.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Gerade hat Grazyna Farbtöne angemischt: Pink und Türkis. „Hauptsache keine traurigen Farben. Ich will nicht mehr traurig sein“, sagt sie entschieden. Sie wolle es jetzt schön haben – angefangen bei der Wohnung, in der sie lebt. „Rein lasse ich nur Mädels: meine Katze und mich.“ Manchmal tanze sie durch die bunten Zimmer. Noch nie habe sie sich zu Hause so wohlgefühlt.

Wenn man die 55-Jährige nach ihrer Kindheit fragt, wendet sie den Blick ab. „Die war nicht so besonders“, sagt Grazyna dann. Aufgewachsen ist sie bei ihren Eltern in einem polnischen Dorf in Niederschlesien. Ihren Vater nennt sie einen „aggressiven Alkoholiker“. „Er hat mich geschlagen – immer wieder.“ Wenn sie mit schlechten Noten aus der Schule kam, wusste sie, was sie erwartete: „Ich musste auf die Knie. Dann schlug er zu.“

Eigentlich wollte Grazyna Polsterin werden. „Aber ich war so kaputt, ohne Kraft“, erzählt sie. „Ich habe es nicht geschafft.“ Stattdessen arbeitete sie als Reinigungskraft. Heute weiß Grazyna, dass sie damals depressiv war und Hilfe gebraucht hätte.

Mit 18 bekam sie ein Kind mit einem Mann aus dem Dorf – den sie notgedrungen heiratete. „Was sollten sonst die Leute sagen?“ Ihre zweite Tochter kam auf die Welt, als Grazyna gerade 19 Jahre alt war. Zu viert wohnten sie bei ihren Eltern. Doch bald schlug sie auch ihr Mann. „Meine Mutti und ich hatten nichts zu sagen. Es war schrecklich.“

Sieben lange Jahre ertrug sie die Misshandlungen. Dann schrieb sie einen Brief an ihre Mutter und bat sie darin, sich fortan um ihre Kinder zu kümmern – sie wusste, dass die in keinem Fall von ihrem Vater oder Ehemann misshandelt werden würden. Nur mit ihrem Ausweis und etwas Geld brach sie ohne Abschied auf. Per Anhalter fuhr sie in Richtung Westen. So landete sie in Hamburg. „Ich wollte ganz weit weg von den schrecklichen Sachen“, sagt sie.

Grazyna schlief auf der Straße. Das Geld, das sie beim Betteln verdiente, nutzte sie für Telefonate mit ihren Töchtern und ihrer Mutter, zu denen sie bis heute guten Kontakt hat. „Sie wissen: Ich bin eine Kämpferin“, sagt Grazyna stolz. „Um mich muss man sich keine Sorgen machen.“

1998 kam sie durch Bekannte zu Hinz&Kunzt – und blieb. Hier habe sie Freund:innen gefunden und eine zweite Heimat, in der sie immer Hilfe bekomme. Neben dem Magazinverkauf schlug sie sich mit Ein-Euro-Jobs durch.

Nach einer weiteren gewalttätigen Beziehung fand Grazyna schließlich einen Platz im Frauenhaus. Dort begann sie eine Therapie und suchte sich die Wohnung, in der sie seitdem lebt. Bis heute kämpft sie gegen ihre Depressionen. „Ich habe viele Ängste und immer Albträume“, sagt Grazyna. Jetzt wolle sie sich auf sich und ihre Gesundheit konzentrieren. „Ich will Ruhe vor Männern.“ Und sie ist sich sicher: „Jetzt kommen bunte, fröhliche Zeiten.“

Artikel aus der Ausgabe:

Ist das Heimat?

Was Heimat für unsere Verkäufer:innen bedeutet, wieso Heimatvereine als Gegengewicht zum Senat galten und was am Heimat-Begriff kritisch ist, erfahren Sie im Schwerpunkt. Außerdem: Spatzen von St. Pauli und ukrainische Kids auf dem Skateboard.

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Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.