Hinz&Künztlerin Claudia

„Ihr habt mir die Hand gereicht“

Foto: Mauricio Bustamante

Claudia, 60, verabschiedet sich von ihrer Kundschaft in Bergedorf.

Wenn Claudia von ihrer Stammkundschaft spricht, schwärmt sie: „Die sind so lieb!“, sagt die 60-Jährige. Die Menschen erzählten ihr viel, auch Privates, von Urlauben oder Krankheiten. „Und sie haben mal gesagt: ,Claudia, wenn du nicht mehr verkaufst, dann müssen wir hier eine Plakette anbringen. Du gehörst doch zu Bergedorf!‘“

Claudia atmet tief durch. Dann sagt sie: „Ich möchte wirklich ungerne aufhören. Mir fehlt dann ja nicht nur der Zusatzverdienst, mir fehlen die Gespräche mit den Kunden.“ Aber der Weg von ihrer Wohnung in Rissen zum Verkaufsplatz ist zu weit und zu beschwerlich geworden. Sich in Rissen einen neuen Stammplatz aufzubauen, kann sich Claudia nicht vorstellen.

Nur wer hartnäckig fragt, erfährt von Claudias Schmerzen: ihrer Spinalkanalverengung, kaputten Bandscheiben, ihrer Lungenerkrankung. Jammern ist nicht ihr Ding. Auch düstere Erinnerungen wischt sie rigoros mit „Na ja“ beiseite. Dabei hätte sie Grund zu klagen, denn leicht hatte sie es nie.

Aufgewachsen ist Claudia in der DDR. Drei Mal versuchten ihre Eltern mit den Kindern zu flüchten, 1965 zum ersten Mal. Die Eltern kamen immer wieder ins Gefängnis, die Kinder ins Heim. Seitdem galten auch Claudia und ihre Geschwister als „nicht tragbar“ für das sozialistische System, durften nicht studieren, nicht reisen. Noch als junge Mutter sei sie wöchentlich in die „Abteilung Inneres“ vorgeladen worden. „Und dann ham’ se mich da sitzen lassen, obwohl ich meinen Sohn aus dem Kindergarten abholen musste“, erzählt die Magdeburgerin.

Nach dem Mauerfall 1989 reisten Claudia, ihr Mann und die Kinder folglich schnellstens aus und ließen sich in Essen nieder. Claudia, die in der DDR im Stellwerk gearbeitet hatte, jobbte in Gaststätten oder Cafés. Auch zu Hause schmiss sie den Laden, der Mann war keine Hilfe. Dann kam die Trennung: „Er hat sich eine Frau genommen, die war jünger als unsere jüngste Tochter, und das nach 25 Jahren Ehe und fünf gemeinsamen Kindern. Na ja.“

Da die Kinder groß waren, wollte Claudia nur noch weg. Ohne Plan kam sie 2006 nach Hamburg. Hier machte sie zunächst Platte vor C&A in der Mönckebergstraße. „Ich war überrascht, wie viele Leute auf der Straße leben“, erzählt sie. „Ich war ja Familienmensch und Mutter, ich war abends zu Hause und habe dieses Elend nie gesehen.“ Nun war sie selbst mittendrin. „Allein wenn man nachts zur Toilette muss … also der Mann steigt in seine Schuhe und stellt sich irgendwo hin, aber als Frau?“

Drei Monate lebte Claudia auf der Straße. Kollegen von der Platte nahmen sie mit zu Hinz&Kunzt. Kurze Zeit später fand sie ein Zimmer in einer Frauen-WG.

Anfangs fiel ihr der Magazinverkauf schwer: „Ich habe mich wirklich geschämt“, sagt sie. Heute spricht sie mit Wärme über Hinz&Kunzt: „In meiner schlimmsten Zeit habt ihr mir die Hand gereicht. Wer weiß, wo ich sonst heute wäre.“ Vor allem aber haben es ihr die Bergedorfer:innen leicht gemacht. „Wenn ich dort eine Wohnung hätte, ich würde mich weiter zum Verkaufsplatz schleppen. Dann würde ich nie ans Aufhören denken!“

Artikel aus der Ausgabe:

Frauen im Hafen

Der Hamburger Hafen ist eine Männerdomäne? Von wegen! Wir stellen Frauen vor, die den Hafen verändern. Außerdem: Philosophin Eva von Redecker im Interview über die Rolle von Frauen in Revolten, eine Reportage über Menschen am Hauptbahnhof und ein Porträt von Boxweltmeisterin Dilar Kisikyol, die für Inklusion und Feminismus kämpft.

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Autor:in
Annette Woywode
Annette Woywode
Chefin vom Dienst für das gedruckte Magazin