Corona : „Ich stelle mir vor, ich bin Astronaut und weg von der Erde“

Jan, 74, war zehn Jahre obdachlos. Mit Lesungen aus dem Kinderbuch „Ein mittelschönes Leben“ erzählt Jan heute in Grundschulen vom Leben auf der Straße. Foto: Mauricio Bustamante

Wie es Hinz&Künztler*innen in Zeiten von Corona ergeht.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ich sitze jetzt einfach viel zu Hause – spiele Geige und lese“, erzählt Jan am Telefon. Der Hinz&Künztler hat nach langer Obdachlosigkeit vor vier Jahren endlich eine Wohnung gefunden. Mit seinen 74 Jahren zählt er zur Risikogruppe, daher befindet er sich in selbstgewählter Quarantäne. „Ich stelle mir vor, ich bin Astronaut und weg von der Erde“, sagt Jan und muss über seine Fantasie ein bisschen lachen.
Dann wird er wieder ernst: „Die Menschen merken gar nicht, wie glücklich sie sein könnten.“ Der Virus sei zwar gefährlich und tödlich. „Aber niemand muss Angst haben, dass sein Haus beschossen wird oder plötzlich eine Bombe explodiert wie im Krieg.“

In ein ähnliches Horn bläst Matthias. Der Obdachlose lebt im Haus Jona, einem Übernachtungshaus für Obdachlose. Bevor der Coronavirus ausbrach, mussten die Obdachlosen tagsüber raus. Jetzt dürfen sie sich rund um die Uhr in den Zimmern aufhalten. „Ich halte mich aber sowieso inzwischen von Menschenansammlungen fern“, erzählt auch er am Telefon. „Zugleich denke ich an die, die Pech haben und auf der Straße schlafen.“

Einer von denen ist Micha. Bevor Hinz&Kunzt den Verkauf einstellte, war der 35-Jährige noch guter Dinge. Angst vor dem Virus sei ihm fremd: „Obdachlose haben genug Abwehrkräfte.“ Ein Satz, den man auch von Hinz&Künztler Kai zu hören bekommt. Der 45-Jährige lebte ebenfalls viele Jahre auf der Straße. In diesem Winter fand er schließlich Zuflucht im Winternotprogramm von Hinz&Kunzt. Der Verkaufsstopp des Magazins – für ihn ein tiefer Einschnitt. „Ich schnorre jetzt wieder“, räumt Kai ein. Bewahrt hat er sich aber seinen Optimismus: „Lasst euch nicht unterkriegen!“, lautet sein Motto. Irgendwann werde das Virus wieder abflauen und der Alltag zurückkehren.

Davor wiederum hat Miro fast schon Angst. Der Ausnahmezustand kommt für den 54-Jährigen zum richtigen Zeitpunkt. Weil im Winternotprogramm ein Obdachloser am Coronavirus erkrankte, befinden sich Miro und die anderen Nutzer*innen in Quarantäne. In den Vorjahren endete das Hilfsprogramm am 1. April. Dieses Jahr dürfen die Obdachlosen bis Ende Mai bleiben. Trotzdem steht Miro vor dem gleichen Problem, wie alle anderen Hinz&Künztler*innen, für die Rainer stellvertretend sagt: „Wie ich jetzt ohne Magazinverkauf die nächsten Wochen über die Runden kommen soll, ist mir ein absolutes Rätsel.“

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Artikel aus der Ausgabe:

„Lasst euch nicht unterkriegen!“

Das erste Mal erscheint Hinz&Kunzt im April nur digital. Aus dem Inhalt: Was Corona für Obdachlose bedeutet, wieso Hamburger Hinterhöfe bedroht sind, was aus der Harburger Likörfabrik wird.

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Autor:in
Jonas Füllner
Jonas Füllner
Studium der Germanistik und Sozialwissenschaft an der Universität Hamburg. Seit 2013 bei Hinz&Kunzt - erst als Volontär und inzwischen als angestellter Redakteur.