„Holt euch Hilfe!“

Wenn Eltern von ihren Kindern getrennt werden, ist das ein Schock, es kann aber auch der Beginn eines viel besseren Lebens sein — für die Kinder und die Eltern
(aus Hinz&Kunzt 192/Februar 2009)


 „Wir haben ein ganz enges Verhältnis zu den Kindern“, sagt Betreuerin Maria Nemitz, die schon seit 18 Jahren bei dem Projekt im Schanzenviertel mitarbeitet. „Aber wir können und wollen die Eltern nicht ersetzen.“ Und sie weiß aus Erfahrung: „Jede Mutter will eigentlich eine gute Mutter sein. Für jede Mutter ist ein Kind mit großer Hoffnung für das eigene Leben verbunden.“ Deswegen versuchen die Betreuer auch die Eltern zu unterstützen, wo sie nur können, mit Elternabenden, gemeinsamen Freizeiten und Beratungsgesprächen.

Maria Nemitz und ihre Kollegen haben großes Mitgefühl mit den Eltern, selbst wenn ihnen das Sorgerecht entzogen wurde. „Wenn einem das Kind entrissen wird, so berechtigt das sein mag, ist das eine grausame Erfahrung für Mutter und Kind“, sagt die 54-Jährige.

Einmal wurde ihnen ein Kind am Tag vor Weihnachten gebracht. Maria Nemitz rief die Mutter an und fragte sie, ob sie nicht kommen und mit ihnen gemeinsam Weihnachten feiern wolle. Die Frau konnte das gar nicht fassen. Sie kam und fühlt sich seitdem ebenfalls aufgehoben bei SME.

Auch Lena (alle Namen geändert) fühlt sich aufgehoben in dem Projekt. Sie rät anderen Eltern: „Holt euch bloß Hilfe!“ Vor zehn Jahren, als ihr Sohn drei Jahre alt war, ging sie zum ers­ten Mal zum Jugendamt und bat um Hilfe. Sie fühlte sich überfordert. Von Josés Vater war sie seit der Schwangerschaft getrennt. Sie fühlte sich allein gelassen, vermutlich einer der Gründe, warum sie drogenabhängig war. „Ich habe zwar nur an den Wochenenden Drogen genommen, aber das führte dazu, dass ich die ganze Woche über auf den Freitag hingefiebert habe.“ Dann holte Josés Vater den Jungen ab. Am Sonntag brachte er ihn wieder. Und Lena wartete wieder sehnsüchtig auf Freitag. „Dabei habe ich José immer geliebt, ich habe nie vor ihm Drogen genommen.“

Das Jugendamt vermittelte sie an SME, die schickten eine Familienhelferin, die sie zweimal die Woche besuchte. Nach einiger Zeit fühlte sie sich wieder fit und nahm keine Drogen mehr.

Mit neun Jahren fing José an, Schule zu schwänzen, zu rauchen, zu klauen – die ganze Palette. Sie nahm wieder Drogen, weil sie sich den Problemen hilflos ausgeliefert fühlte. Schon bei kleinen Dingen konnte sie sich gegen José nicht durchsetzen: Müll runterbringen, Schularbeiten machen, allein die Forderung, in die Schule zu gehen, alles endete in sinnlosen Kämpfen. Wieder ging sie zum Jugendamt. „Ich wollte nicht, dass José eines Tages so ein Leben führt wie ich.“

Die 46-Jährige ist auf dem Kiez groß geworden, in einer „ganz schlechten Familie“, in der der Vater herrisch war und prügelte. Sie hat zwar den Hauptschulabschluss gemacht, aber die Lehre abgebrochen und nie wieder etwas zu Ende gemacht – dann kam die Drogensucht. „Ich will, dass mein Sohn eine Chance hat im Leben, und ich merkte, dass ich ihm dabei nicht genügend helfen kann.“

Das Jugendamt vermittelte sie wieder an SME. José ging zunächst in die Tagesgruppe. „Die Betreuerin war sehr nett“, sagt Lena, „aber sie hat mich auch schnell durchschaut. Sie hat mir auf den Kopf zugesagt, dass ich drogenabhängig bin.“ Ein Schock für die Mutter. „Bis dahin dachte ich immer, dass man mir das gar nicht anmerkt.“

Sie gestand sich ein, dass die Tagesgruppe für José nicht ausreichte. Deshalb beschloss sie schweren Herzens: José sollte richtig bei SME wohnen, und sie selbst machte einen Entzug. „Als ich mit José darüber sprach, saßen wir auf dem Bett und weinten“, sagt sie. Es ist hart für sie: Unter der Woche steht sein Zimmer leer und sie fühlt sich manchmal einsam. „Aber ich bin fest entschlossen, es durchzuhalten, und ich bin davon überzeugt, dass es gut für ihn und auch gut für mich ist.“

Und ob: Seit einiger Zeit schwänzt José nicht mehr die Schule. Vielleicht auch deshalb: Wer schwänzt, muss die doppelte Zeit nacharbeiten. „Die bei SME kümmern sich extrem um die Schule“, sagt Lena. „Die telefonieren oder treffen sich regelmäßig mit den Lehrern, und sie lernen mit den Kindern; das könnte ich gar nicht.“ Mittwochnachmittags und am Wochenende ist José bei ihr. Die Streits mit ihm haben sich verändert: Er macht die Sachen die er machen soll, meistens jedenfalls. „Heute frage ich ihn nicht mehr, ob er bitte den Müll heruntertragen könnte, sondern frage ihn, wann er den Müll herunterträgt.“

Und das funktioniert? Lena lächelt. „Das funktioniert, weil auch ich mich verändert habe“, sagt sie. Vieles habe sie bei den Gesprächen bei SME gelernt. „Man muss selbst Vorbild sein. Ich habe immer von ihm verlangt, dass er Dinge macht, auf die er keine Lust hat. Ich selbst konnte mich auch nie zu Dingen aufraffen, auf die ich keine Lust hatte.“ Das ist jetzt anders: „Heute nehme ich mir vor, etwas zu einer bestimmten Zeit zu machen – und dann mache ich es auch.“

José ist in der Schule richtig gut geworden. „Er hat sogar Einsen geschrieben“, sagt Lena. Und darüber ist sie glücklich. Heute fiebert Lena, die seit Jahren clean ist, wieder dem Freitag entgegen: „Weil dann José kommt und wir ein paar Tage für uns haben.“
SME steht für „Stadtteilbezogene Milieunahe Erziehungshilfen“. Das Projekt im Schanzenviertel bietet in zwei Gruppen Platz für 16 Kinder im Alter zwischen sechs und 18 Jahren. Das Besondere: Viele Sozialpädagogen leben mit ihren Familien mit im Haus, sodass sich der Kontakt nicht auf die Arbeitszeit beschränkt. Zu SME gehören außerdem eine Beratungsstelle und rund 20 Wohnungen für Jugendliche. Finanziert wird die Arbeit von der Stadt und von Spendern.
Text: Birgit Müller

Senator stockt Stellen auf – und spart gleich am falschen Ende

Ein Kommentar von Frank Keil
Na also – es tut sich was beim Kinder- und Jugendschutz: 30 neue Stellen sollen eingerichtet werden, um die knapp 300 oft erschöpften Mitarbeiter in den Jugendämtern zu entlasten. Die haben allein in den vergangenen neun Monaten mehr als 60 Überlastungsanzeigen an ihre Vorgesetzten gestellt, weil sie ihre Arbeit einfach nicht schaffen.
Doch schon zückt Hamburgs Sozialsenator Dieter Wersich (CDU) den Taschenrechner: Er will den derzeitigen Etat von 176,6 Millionen Euro für den Kinder- und Jugendschutz um flotte 22,6 Millionen kürzen. Wie das? Er will Erziehungshilfen überprüfen, abgleichen, dokumentieren – auch wenn die Jugendamtsmitarbeiter seit langem beklagen, dass sie immer mehr Zeit mit Akten verbringen als mit Menschen.
Bizarr ist auch folgende Idee: Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben, sollen in Pflegefamilien statt in Wohngruppen untergebracht werden. Denn: Ein Heimplatz kostet im Monat rund 3300 Euro, eine Pflegefamilie erhält für ein Kind zwischen 700 und 800 Euro. Da kann Wersich ja pro Monat mindestens 2600 Euro sparen! Und diese Summe vielleicht an seine Kollegin Karin von Welck für deren Elbphilharmonie überweisen.
Dumm nur: Es gibt schon seit Jahren viel zu wenige geeignete Pflegeeltern. Wenn also demnächst der Einspar­zwang fachliche Überlegungen ablöst, sind die zarten Erfolge beim Jugendschutz gleich wieder gefährdet.

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