Tukur und Märtens im Interview : „Gib! Und frag nicht, was du bekommst!“

Ulrich Tukur (links) und Günter Märtens beim Interview mit Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller. Foto: Dmitrij Leltschuk.

Mit einem Benefizkonzert am 15. Dezember unterstützen Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys Hinz&Kunzt und Hilf Mahl! Wir haben mit Ulrich Tukur und Bandmitglied Günter Märtens über Heimat, Armut und die Wichtigkeit, in diesen Zeiten Verantwortung zu übernehmen gesprochen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Treffen an einem der Lieblingsorte von Ulrich Tukur und Günter Märtens, dem Kontrabassisten der Rhythmus Boys: bei Daniel Wischer in der Steinstraße, der ältesten Fischbratküche Hamburgs. Günter, seit Jahren im Hinz&Kunzt-Freundeskreis, ist zuerst da – und meganervös. Er hat noch einen unangenehmen Anschlusstermin: „Wir müssen unseren Probenraum räumen“, sagt er. Und das nach zehn Jahren. Das Haus wird abgerissen und neu gebaut. „Dann sollen neben Wohnungen auch Start-ups rein“, sagt Günter etwas verbittert. Die neuen Mieten können sich Günter und seine Band mit Sicherheit nicht leisten. Ulrich Tukur, der Schirmherr bei dem Projekt Hilf Mahl! ist, kommt dazu, direkt von einer Probe. Auch er ist eigentlich im Stress. Seine Frau Katharina und er ziehen gerade von Venedig nach Berlin um.

Märtens: Ich hab mich gerade beschwert über die Hamburger Kultur, die die Probenräume nach und nach abbaut. Und bei dir? Alles gut? Hast du ausgeschlafen?

Tukur: Ich kann momentan nicht schlafen, bin so hochgedreht.

Märtens: Ob du noch jemals runterkommst …

Tukur: Unser Leben ist viel zu kompliziert geworden, wir müssen endlich reduzieren.

Märtens: Mach das bloß wieder einfacher!

Hinz&Kunzt: Wir freuen uns jedenfalls, dass ihr für uns und Hilf Mahl! ein
Benefizkonzert gebt.

 

Märtens: Wenn man gibt, bekommt man auch immer etwas zurück. Unser letztes Benefiz für Hinz&Kunzt im St.-Pauli-Theater hat uns einen Riesenspaß gemacht mit einem grandiosen Publikum vor der Bühne.

Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys:

Sonntag, 15.12., Kampnagel K 6, Jarrestr. 20, Empfang für alle ab 17.15 Uhr , Beginn 18.15 Uhr, Tickets: 69,90/59,90/49,90 Euro. Meet- & Greet-Tickets: 99,90 Euro; Kartentelefon 27 09 49 49, Mo–Sa, 10–19 Uhr, Mail: tickets@kampnagel.de

Lesetipps: Ulrich Tukur, Der Ursprung der Welt, 22 Euro; Günter Märtens, Die Graupensuppe, 20 Euro.

Tukur: Ich werde immer wieder gefragt: „Sagen Sie mal in wenigen Sätzen, wo­rin Ihr Lebensmotto besteht.“ Die Antwort besteht nur aus einem einzigen Wort: „Gib!“ Und frage nicht, was du dafür bekommst. Wenn du gibst, wenn du dich verschenkst, bekommst du immer zurück. Das ist ein ganz einfaches Prinzip. Und es gibt so viele Menschen, die Pech hatten. Wir hatten so viel Glück im Leben. Da muss man abgeben. Was hat man sonst von seinem Wohlstand?

Märtens: Ich finde es außerdem eine tolle Sache, wie ihr euch bei Hinz&Kunzt immer wieder aufs Neue engagiert. Für mich als Hamburger ist das genauso eine Herzensangelegenheit wie für euch. Ich bin froh, dass es euch gibt!

Tukur: Gerechter wird die Welt nicht. Die Armuts- und Reichtumsschere geht immer weiter auseinander. Wichtig ist, das Elend zu sehen, das auch bei uns massiv existiert. Es gibt so viele Menschen, denen es einfach ­dreckig geht, und ich finde es unerlässlich, auch vor der eigenen Haustüre zu kehren. Deswegen Hilf Mahl! und deswegen Hinz&Kunzt. Es ist die Aufgabe eines jeden Einzelnen, da auch Verantwortung zu übernehmen. Damit unsere Gesellschaft nicht auseinanderfällt. Da sind wir auch bei meinem Buch.

Gut gelaunt hinter dem Hinz&Kunzt-Kaffeetresen: Günter Märtens und Ulrich Tukur mit Tresenkraft Reiner. Foto: Dmitrij Leltschuk.

Dein Roman „Der Ursprung der Welt“ ist eine düstere Vision, er spielt in der nahen Zukunft Anfang der 2030er-Jahre. In Deutschland herrscht Bürgerkrieg und Frankreich wird von einem Diktator regiert.

Tukur: Ich prophezeie nicht, dass es so eintreten wird. Ich habe den Stand der Dinge einfach nur durchdekliniert und überlegt, was passieren könnte, wenn alles so weiterläuft. Selbstverständlich hoffe ich, dass es nicht so kommt.

Du bist ernsthaft in Sorge, stimmt’s?

Tukur: Europa ist dabei, auseinanderzufallen. Unsere Demokratien sind in der Krise, schau nach Amerika, England oder Osteuropa … und jetzt wieder Syrien … Naturzerstörung, Überbevölkerung, wir kriegen die Dinge einfach nicht unter Kontrolle. Das weist auf unruhige Zeiten hin, auch für uns. Man muss schon eine sehr stabile Gesellschaft sein, um all das auszutarieren.

Ihr habt viele Facetten. Ernste – aber auch heitere. Auf unserem Benefizkonzert werdet ihr das Publikum wieder richtig beglücken.

Tukur: Du kannst nicht die ganze Welt retten. Aber auch wenn sie morgen ­untergeht, musst du heute noch dein Apfelbäumchen pflanzen. Es geht in der Kunst, in der Schauspielerei und in der Musik auch immer um Verzauberung, dass man die Menschen ein bisschen höher hebt und ihnen Kraft gibt für diesen Lebenskampf. Und es geht um Menschlichkeit, um Humor und Respekt.

Märtens: Es gibt ja auch immer mal gute Nachrichten. Das Bundesverfassungsgericht hat doch jetzt einige der harten Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger gekippt. Das ist mal wieder eine Entscheidung in die richtige Richtung.
(Anmerkung der Redaktion: Am 5. November, an dem wir Ulrich Tukur und Günter Märtens trafen, hat das Bundesverfassungsgericht die Hartz-IV-Sanktionen teilweise für verfassungswidrig erklärt. Es dürfen nicht mehr als 30 Prozent des Hartz-IV-Betrages gestrichen werden. Miete und Krankenversicherung dürfen nicht gefährdet sein.)

Die Kellnerin räumt ab. Als wir den Tisch bestellt haben, wurde uns schon gesagt, dass Ulrich Tukur und Günter Märtens manchmal kämen – und „immer an diesem Tisch sitzen“.

Märtens: Ich bin hier schon mit meiner Mutter in den 1970er-Jahren hergekommen, wenn wir zum Einkaufen in der Stadt waren. Früher war ich auch oft bei Daniel Wischer in der Spitalerstraße – und ich war sautraurig, als der ­zugemacht wurde. Und warum? Um eine Fischbratküche mit neuem Besitzer r­einzusetzen. Da hätte man doch lieber ­alles lassen sollen, wie es war.

Tukur: Ich liebe Daniel Wischer, vor allem das Restaurant in der Steinstraße, wo sich seit den 1950er-Jahren wenig verändert hat. Es sind magische Orte, die den ständigen Veränderungen trotzen und einem die Illusion geben, dass irgendetwas bleibt. Solche Orte haben Spiritualität und Herz. Und ihr sitzt ja auch direkt gegenüber …

https://www.instagram.com/p/B5unlw1H7GM/

Braucht ihr eigentlich so etwas wie Heimat – oder immer neue Orte? Ulrich, du hast
dich ja mal als „Fluchttier“ bezeichnet.

Tukur: Ich sehne mich nach Heimat, aber ich hab sie nie gehabt. Ich bin groß geworden in allen möglichen Bundesländern. Wir sind immer umgezogen. Sehnsucht hat man natürlich, aber ich bleibe nie. Ich docke nicht an. Dass ich es 20 Jahre in Venedig ausgehalten habe, war schon erstaunlich, hätte ich nicht gedacht. Es ist auch nicht der hässlichste Ort.

Märtens: Aber Hamburg war doch lange deine Heimatstadt.

Tukur: Ja, in Hamburg habe ich 16 Jahre gelebt. Das war eine große Befreiung. Ich liebe den Hafen, die hamburgische Hafenarbeiterkultur. Es ist eine Stadt mit Liedern, wie sie in dieser Fülle in keiner anderen deutschen Stadt existiert. Hamburg ist einzigartig mit seiner Weltoffenheit, es war immer eine freie Stadt mit einem stolzen Bürgertum. Ich wäre gerne wieder nach Hamburg gezogen, aber meine Frau ist hier geboren und wollte nicht zurück.

„Hamburg ist einzigartig mit seiner Weltoffenheit.“– Ulrich Tukur

Günter, du bist ja ein Hamburger Jung. Ist Hamburg auch deine Heimat?

Märtens: Ja, auf jeden Fall. Wenn ich Ulrich manchmal höre, wenn er über seine Heimatlosigkeit redet, dann denk ich: „Wie schade für ihn!“ Mich hat es in allen Lebenslagen immer sehr geerdet, dass ich wusste, wo ich hingehöre.

Vermutlich ist es auch kein Zufall, dass ihr euch für uns engagiert. Ulrich, du mit deiner Heimatlosigkeit. Günter, du warst früher drogenkrank, hast uns davon auch schon mal in einem anderen Artikel erzählt und ein Buch darüber geschrieben. Man spürt, dass ihr für die Nöte von Obdachlosen ein großes Verständnis habt.

Märtens: Das kann man auch von Kalle Mews und ­Ulrich Mayer, den anderen Rhythmus Boys, sagen, da sind wir alle auf einer Wellenlänge. Aber ich ­finde, dass sich viele Hamburger engagieren. Viele kriegen mit, dass es eine Menge Armut gibt – und ­eine Menge Leute, die viel, viel weniger haben als der Großteil der Bevölkerung in dieser reichen Stadt.

Tukur: Wenn eine Stadt guten Bürgersinn hat, kann sie viel retten.

Märtens: Zu geben beinhaltet den christlichen Gedanke der Nächstenliebe, du musst aber kein Christ sein, um ihn zu leben. Es geht auch ohne Kirche.

Tukur: Du kannst es auch mit Immanuel Kant halten: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung dienlich sein könnte.“

Märtens: Damit ist eigentlich alles gesagt.

Artikel aus der Ausgabe:

Streitet euch nicht!

Wie Hinz&Künztler Weihnachten feiern – und was Sie Ihnen zum Fest wünschen. Außerdem: Wo in Hamburg richtig viele Wohnungen leer stehen und wieso das Rettungsschiff Alan Kurdi seinen Heimathafen nach Hamburg verlegt.

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Autor:in
Birgit Müller
Birgit Müller
Birgit Müller hat 1993 Hinz&Kunzt mitgegründet. Seit 1995 ist sie Chefredakteurin.

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