Fotograf Dmitrij Leltschuk reist seit mehr als fünf Jahren regelmäßig nach Georgien und trifft Menschen, die in den Grenzgebieten zu Russland leben. Ihre Geschichten erzählen von den postsowjetischen Konflikten des Landes, dem Weg zur Demokratie und der ständigen Bedrohung durch den großen Nachbarn.
Als ich ein kleines Kind war, fuhr mein Onkel jedes Jahr von Minsk aus nach Georgien. Wenn er zurückkam, saßen wir alle gemeinsam an einem Tisch und er hat uns davon erzählt. Seine Erzählungen hatten immer etwas Traumhaftes: Was für Menschen! Was für ein Land! Deshalb war ich nicht objektiv, als ich 2016 das erste Mal nach Georgien gereist bin. Vor Ort schien für mich zunächst alles, was mein Onkel erzählt hatte, wahr zu sein. Ich habe dieses traumhafte Land erlebt – nur habe ich lange nicht gesehen, was hinter seiner Kulisse schwelt: ein großer, unendlicher Schmerz. Über die vielen Toten, die in den Kriegen gefallen sind, und über die Flüchtlingsdörfer, die die Landschaft zwischen der Hauptstadt Tiflis und Südossetien prägen. Ich habe gedacht, das sind kleine Dörfer mit schönen rot-weißen Häusern. Bis ich sie besuchte und mir meine Freunde aus Georgien mehr über das georgische Trauma erzählten.
Meine ersten Fotos aus Georgien sind ungefähr fünf Jahre alt. Die damalige Reise in das Land am Kaukasus war eine unpolitische, ich sollte dort einen Mönch fotografieren. Doch schon damals habe ich von der Situation an der Grenze erfahren und von einer freiwilligen Patrouille, die sich gegründet hatte, um die „Linie“ zwischen Georgien und Südossetien zu beobachten. Im vergangenen Jahr habe ich diese Patrouille für eine Woche begleitet.
Alle, die ich in Georgien getroffen habe, sprechen nicht von einer Grenze, sondern von einer Okkupationslinie, die den Staat von den abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien trennt. Weil das Land die Grenze nicht anerkennt, gibt es auf der georgischen Seite auch keine Soldaten. In den Teilgebieten sind russische Soldaten stationiert. Seit dem Krieg zwischen Georgien und Russland im Jahr 2008 verschieben die russischen Soldaten diese Linie regelmäßig um einige 100 Meter (siehe auch den Infokasten auf Seite 19). So kann es sein, dass ein Dorfbewohner eines Morgens in einem – nach Meinung des russischen Militärs – anderen Land aufwacht. Zum Beispiel traf ich einen Mann, der mit seinen Kühen über eine Wiese ging und nicht wusste, dass die russischen Soldaten diese nun als südossetisches Land bezeichneten.