„Es ist ein Riesenkampf, ein normales Leben anzupeilen“

Warum Resozialisierung für die öffentliche Sicherheit so wichtig ist – zwei ehemalige Gefangene erzählen

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Bessere Entlassungsvorbereitung, Erhalt des offenen Vollzuges und der Sozialtherapeutischen Anstalten – das sind die Hauptforderungen des Hamburger Appells an Justizsenator Roger Kusch. Dass Resozialisierung nicht Verhätschelung von Häftlingen ist, sondern auch der Sicher-heit der Bevölkerung dient, bestätigen die ehemaligen Gefangenen Faruk S. und Volkert Ruhe.

Knast bedeutet Abhängigkeit. Als Faruk S. damals 24 Jahre alt, ins Gefängnis kam, wurde ihm das sofort bewusst. Draußen war er einer der Anführer einer kriminellen Gang gewesen. „Vorher musstest du dich nie unterordnen. Und plötzlich bestimmen fremde Menschen über dich“, beschreibt er seine ersten Eindrücke in „Santa Fu“. Mauern, Verbote und strikte Regeln dominieren von nun an sein Leben. Für die nächsten viereinhalb Jahre. Tagein, tagaus.

Einerseits. Es gibt aber noch eine andere Seite: Der Tagesablauf war klar geregelt. Das gab auch eine gewisse Sicherheit. Mit seiner Entlassung änderte sich das schlagartig.

„Ich stand plötzlich mit tausend Fragen draußen“, erinnert sich S.. Und „Wärter“, die ihm die nächste Entscheidung abnahmen, gab es nicht mehr. Er war mit einem Mal wieder für sich selbst verantwortlich. Im Knast hatte er beschlossen, ein neues, ein straffreies Leben zu begin-nen. Ganz leicht und normal kam ihm das vor. Immerhin hatte er ein Anti-Aggressions-Training absolviert. Als er raus kam, merkte er erst, wie schwer sein Vorhaben war. Er hatte nichts gelernt. Im Knast durfte er weder einen Schulabschluss noch eine Ausbildung machen, weil er ursprünglich nach der Haft in die Türkei abgeschoben werden sollte. Auch bei der Wohnungssuche hatte ihm niemand geholfen. Er musste komplett bei null beginnen.

Seine alten Freunde „arbeiteten“ nach wie vor im kriminellen Milieu. Hier kannte sich auch S. aus. Die Unsicherheit, mit der er täglich zu ringen hatte, existierte hier nicht. „In deinem alten Umfeld kommst du wieder in diesen Strudel hinein“, beschreibt S. Doch das wollte er nicht. Er musste versuchen, sich von seinen langjährigen Freunden fern zu halten und seinen eigenen Weg zu gehen. Allein. Die Freunde verstan-den seine „Abstinenz“ nicht, im Gegenteil: Sie bedrohten ihn.

Aus dem Knast heraus hatte er einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma gefunden. Den ganzen Tag schuftete er in einem Erdloch auf den Knien. Harte Arbeit, miserabel bezahlt. „Ich habe gearbeitet wie ein Schwein“, erzählt S.. So hatte er sich seine Zukunft nicht vorgestellt. Wieder lockte seine Vergangenheit, in der sich schnell viel Geld verdienen ließ. „Es ist ein Riesenkampf, ein normales Leben anzupeilen“, sagt er. „Zurück ins kriminelle Milieu zu gehen, wäre viel einfacher gewesen.“

Was ihn halbwegs aufrecht hielt, war ein konkretes Projekt. Schon im Knast hatte er zusammen mit anderen Insassen den Verein „Gefangene helfen Jugendlichen“ gegründet, mit dem sie gefährdeten Jugendlichen zeigen wollten, wie „uncool“ es ist, kriminell zu werden. „Ich dachte, alle sehen mir an, dass ich aus dem Knast komme“

Als „Kulturschock“ bezeichnet Volkert Ruhe den plötzlichen Übergang vom Knast-Alltag in die Frei-heit. Der 50-jährige saß acht Jahre lang wegen Drogenhandels in Fuhlsbüttel hinter Gittern und gehört ebenfalls zu den Gründungsmitgliedern des Vereins. Immerhin holte Ruhe im Knast seinen Realschulabschluss nach. Und er wurde im offenen Vollzug besser auf das Leben danach vorbereitet. „Wäre ich direkt aus Santa Fu entlassen worden – mein Leben wäre wahrscheinlich vollkommen anders verlaufen“, vermutet er. Offener Vollzug hieß für Ruhe: Er konnte sich langsam an das Leben draußen gewöhnen. Zunächst durfte er alle zwei Wochen für einen Tag das Gefängnis verlassen. Zwei Jahre lang bekam er dann allmählich mehr Zeit außerhalb der Vollzugsanstalt. Am Ende musste er nur noch die Nächte von Montag bis Freitag im Knast verbringen. Allerdings nur, weil sich Ruhe in der Freiheit bewährte.

Bei seinem ersten Ausgang hatte ihn ein Kumpel abgeholt. Die erste Station: Ein Kleidungsgeschäft, in dem der Freund ihm erst einmal eine Jeans und ein neues Hemd spendierte. Damit man ihm nicht sofort ansah, woher er kam. Viel nützte das zunächst nicht. Als die beiden abends etwas trinken gingen, fühlte sich Ruhe fehl am Platz. „Ich dachte, alle sehen mich an, alle wissen, dass ich aus dem Knast komme.“ Was natürlich nicht stimmte. Aber sein Selbstbewusstsein war im Keller, „was bei fast allen der Fall ist“.

Doch Ruhe hatte Zeit, sich Gedanken zu machen. Er war nicht gezwungen, sofort Entscheidungen zu fällen. Denn abends musste er zurück ins Gefängnis. Seine Ausgänge im offenen Vollzug nutzte er, um in einem Büro die Anlaufstelle für „Gefangene helfen Jugendlichen“ einzurichten. Das Projekt wurde zur Sinnstiftung. Die letzten neun Monate seiner Haftzeit fuhr er täglich ins Büro. So tastete er sich langsam an seine Zukunft außerhalb des Gefängnisses heran, ohne sofort den Schwierigkeiten der Außenwelt ausgesetzt zu sein.

Als er vor drei Jahren entlassen wurde, half ihm im Knast niemand bei der Wohnungs- oder Jobsuche. Er kam bei neuen Freunden unter, „sonst wäre ich womöglich auf der Straße gelandet.“ Und er hatte sich um eine feste Tätigkeit gekümmert, hatte bald ein geregeltes Einkom-men und eine eigene Wohnung. Die Versuchung, unter diesen Umstän-den wieder Kontakt zur Drogenszene aufzunehmen, „war gering“. In-zwischen ist er Geschäftsführer von „Gefangene helfen Jugendlichen“.

Auch für Faruk S. war die Arbeit in dem Verein entscheidend. Heute kümmert er sich ebenfalls hauptberuflich um das Projekt. „Ich hatte jetzt andere Aufgaben und ein erfülltes Leben“, beschreibt er. „Ohne das Projekt wäre es viel schwieriger gewesen, nicht rückfällig zu werden.“

Philipp Ratfisch

Alle Unterzeichner
Marion Ameis, ehemalige Suchttherapeutin im Strafvollzug; Charlotte Andres, Tim Angerer, O. von Bar, Felix Barbirz, Dipl. Psych. Astrid Barth, Christiane Behm, Uta Benszus, Wolfgang Berendsohn, E. Blum, Prof. Dr. Klaus Boers, Rechtsanwalt Elmar Böhm, Horst Bökenkamp, Angela Bolle, Prof. Dr. Lorenz Böllinger, Universität Bremen; Michael Bollow, H. Borstelmann, Alex Bosche, Regina Breutigam, A. Bries, Charlott David, Anstaltsbeirätin in der JVA Fuhlsbüttel; Beratungspraxis Der neue Mann, Werner Diedrichs, Petra U. Dorbandt, Anstaltsbeirätin der Sozialtherapeutischen Anstalt in Bergedorf; A.-K. Drathschmidt, Claudia Dreyer, Prof. Dr. Frieder Dünkel, Universität Greifswald; Prof. Dr. Rudolf Egg, Sozialpädagogin Eike Elbracht, Susanne Engel, Hannelore Evard, Hans-Dieter Ewe, Sebastian Faust , Prof. Dr. Johannes Feest, Universität Bremen; D. Fischer, Barbara Franke, Uwe Fritz, J. Fritz, Prof. Dr. Heinz Giehring, Universität Hamburg; Margrit Glogau-Urban, Jeanette Goslar, Dr. René Gralla, Dr. Hans-Jürgen Grambow, Rechtsan-wältin Katrin Grebel, Rosemarie Günther, Prof. Dr. Bernhard Haffke, Universität Passau; Birgit Hamann, Karin Hannemann, Sabine Happ-Göhring für die Neue Richtervereinigung; Hella Heering-Sick, Rainer Hölzke, Ingrid Horstkotte, Klaus Hüser, Tanja Jeney, Norbert John, Dr. Wolfgang John, Prof. Dr. Gabriele Kawamura-Reindl, Fachhochschule Nürnberg, Mitherausgeberin der Zeitschrift Neue Kriminalpolitik; Nadine Kehden, H. Günter Klempau, Friederike Klose, K.-H. Kohlepp, D. Kohlepp, Rechtsanwalt Reiner Köhnke, B. Koops, J. Koops, Rechtsanwalt Martin Kowalske, Rechtsanwalt Alexander Kratzin, Christiane Kroog, Ch. Kusnik, Christian Maaß, GAL-Bürgerschaftsfraktion; Petra Mahling, U. Markwardt, O. Markwardt, Melanie Marquard, A. Maruhn, Harald Maruhn, Strafverteidiger Ernst Medecke, Rechtsanwältin Martina Mehrtens, René Mense, Anstaltsbeirat in Hahnöfersand; Dietrich Mett, Oberlandes-gerichtspräsdident i.R.; Mark Mewes, Jens J. Meyer, Nick Meyer, Susanne Meyer, Sebastian Mietzner, S. Moka, Ulf Möker, Dr. Gerwin Moldenhauer, Cornelius von Nerée, Holger Nessen, Dr. Frank Neubacher, Universität zu Köln; Klaus Neuenhüsges, Vorsitzender des Landesver-bandes Hamburgischer Strafvollzugsbediensteter; Dipl. Soz. Maria Nini, Opferhilfe Hamburg; Dr. Heike Opitz, GAL-Bürgerschaftsfraktion; Gudrun Ortmann, Annegret Peters, Hans Peters, Rechtsanwältin Maria Peters; Kathi Petras, Gül Pinar, Burkhard Plemper, Anstaltsbeirat in der Jugendarrestanstalt Wandsbek; Erhard Pöppel, Anke Pörksen, ASJ; Jan Pörksen, Helmut Pusch, Birthe Rathmann, Dr. Gerhard Rehn, bis 2000 Leiter der Abteilung Vollzugsgestaltung in der Justizbehörde; Rechts-anwalt Wolf Dieter Reinhard für die Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger; Rechtsanwalt Christoph Römmig, Wolfgang Rose, Landesbezirksleiter ver.di; Hamburg; Pastorin Angela Rosenthal-Beyerlein, Reinhold Roth, Vorsitzender Richter einer Strafvollstreckungskammer; Dr. Jur. K. P. Rotthaus, Präident des Justizamts Reinland i.R.; Volkert Ruhe, Gefangene helfen Jugendlichen e.V.; Nicola Ruske, I. Sander, Christian Schön, Rechtsanwältin Karen Schueler-Albrecht, Maria Schulze, Aleksej Schwemler, Edith Schwitters, Prof. Klaus Sessar, Universität Hamburg; Claudia Sieben, Prof. Dr. Med. Friedrich Specht, Fachberater für Sozialtherapie in Niedersachsen; Dr. Till Steffen, justizpolitischer Sprecher der GAL, Sozialpädagogin Regina Stello, Ingo Straube, Psychologieoberrat der JVA Bremen; S. Tanski, Hamid Tayebi, A. Tayebi, Gerd Tiedemann, Landesvorsitzender des Deutschen Beamtenbundes; Nicola Toillié, Attila Toth, Bernd Vanselow, Rechtsanwalt Klaus-Ulrich Ventzke, Prof. Dr. Bernhard Villmow, Universität Hamburg; Bernd Vonhoff, Dr. Ursula Voss, Anstaltsbeirätin in der JVA Fuhlsbüttel; Prof. Dr. Michael Walter, Institut für Kriminologie, Universität Köln; R. Wobbe, Rechtsanwältin Ines Woynar

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