Ein Zimmer mit Aussicht

Mehrmals wurde er für tot erklärt. Doch sie machten die Rechnung immer ohne ihn. Horst Knauer lebte 20 Jahre auf der Straße – bis er eine Entscheidung traf

(aus Hinz&Kunzt 189/November2008)

189-hotteBis vor einem Jahr begleitete Horst Knauer einen Freund beim Sterben, mitten auf der Straße, in der Hamburger Innenstadt. Viele glaubten, er sei der Nächste. Die Passanten auf der Mönckebergstraße kannten ihn, den Mann mit dem weißen Rauschebart und Käppi, den alle nur Hotte nennen. Er lag im Herbst vor C&A, trank Korn – und pflegte Manfred Bödner, genannt Motte, der krank war und keine ärztliche Hilfe wollte. Auch Hotte lehnte jede Unterstützung ab. Wenn der damals 68-Jährige morgens aus dem Schlafsack kroch, zitterte er, nicht, weil ihm kalt war, sondern weil sein Körper nach Stunden ohne Alkohol litt. Als Motte starb, hieß die Schlagzeile „Ein öffentlicher Tod“. Hotte blieb auf der Straße und trank weiter. Nun sitzt er auf einem Stuhl, vor einem Fernseher, und zündet sich ein Zigarillo an, in seinem eigenen Zimmer. Seit Stunden regnet es, und Hotte wird nicht nass.

In seinem Raum mit Bett und Kühlschrank hängen Fotos von Walen und Delfinen an der Wand. „An die andere Wand kommen auch noch Bilder“, sagt Hotte. „13“ klebt an der Außenwand seines weißen Containers, der ein rotes Giebeldach auf dem Kopf trägt, genau wie die Containerhäuschen daneben, die zusammen einen Kreis bilden wie ein Treck, der am Abend Rast macht. Neben der U-Bahn-Station Hamburger Straße rauschen Autos vorbei, doch in der Siedlung klingt es wie eine ferne Brandung. Das Containerdorf ist eine Insel.

Jahrelang hatten sich Sozialarbeiter darum bemüht, dass Hotte in eine Unterkunft geht. Vergebens. Im Juli 2008 bekam er wieder ein Angebot, diesmal für Barmbek. Er schaute sich die Containersiedlung an und sagte: „Das ist ja ein Urlauberdorf hier.“ Mit einem Schritt aus der Tür ist er auf der Wiese mit den Sonnenblumen, bei seinen Nachbarn, wie auf einem festen Zeltplatz – Container sind ideale Wohnformen für die, denen Wohnungen zu beengt sind und zu weit weg vom Leben draußen. Ende Juli kam Hotte zur Neue Wohnung gGmbH und zog in die Containersiedlung.

„Ich wollte nicht so enden wie Motte.“

20 Jahre lebte Hotte auf offener Straße. Jetzt in einem eigenen Raum sein, was ist das für ein Gefühl? Hotte schaut zur Seite, seine Augen füllen sich mit Tränen. „Ein schönes Gefühl.“ Am Anfang schlief Hotte tagelang in seinem Bett. Warum er das Angebot jetzt annehmen konnte? Hotte zieht die Nase kraus, sein Bart bewegt sich. Er mag keine großen Erklärungen. Wenn er etwas sagt, dann in kurzen Sätzen. Dafür lässt er sich Zeit. „Der Rücken schmerzt.“ Die Leiterin des Containerdorfes, Barbara Rieck, findet er „schwer in Ordnung“. Es passte einfach. Irgendwann sagt er: „Ich wollte nicht so enden wie Motte.“

Er zog Konsequenzen. „Rotwein trinke ich noch, aber keinen Schnaps mehr“, sagt er. Nach jahrelangem Konsum von bis zu zwei, drei Flaschen Korn am Tag eine unsichtbare Revolution für Körper und Geist. Hotte möchte davon nichts hören und schüttelt den Kopf. Er trifft seine Entscheidungen. Auf der Straße leben. Bei einem Freund bis zum Tod bleiben. Und jetzt in ein Zimmer mit Aussicht ziehen.

An der Wand hängt ein indianischer Traumfänger. „Ich mag es, wie die Menschen damals lebten, mit der Natur. Sie teilten sich alles.“ Er legt seine Hände vor den Bauch, beide sind tätowiert, die linke mit einem Steuerrad, die rechte mit einer Windrose. Hotte schweigt. Er ist von einer großen Reise zurückgekehrt, nun ruht er mit gefalteten Händen in sich wie ein Häuptling, der sich am Lagerfeuer wärmt. Die Geschichten, die er mitgebracht hat, brauchen Zeit. Bei einem Zigarillo erzählt er sie. Horst wuchs in Bergedorf auf, seine Mutter zog ihn alleine groß. Sein Vater starb im Krieg. Er hatte „einen alten Nazi-Lehrer, den mochte ich nicht“. Auch wenn die Zeiten hart waren, „ich kann nicht klagen“, sagt er und schaut aus dem Fenster.

Bei Bau-Schmidt in Bergedorf machte er eine Lehre als Maurer, als Geselle arbeitete er zwölf Stunden am Tag. Dann fuhr er fünf Jahre lang auf einem Kutter zur See, vor hiesigen Küsten und bis nach Grönland. An regelmäßigen Schlaf war kaum zu denken. Immer, wenn der Kapitän die Glocke schlug, mussten die Matrosen aufspringen, das Netz einholen, die Fische töten und ausnehmen. Makrelen, Thunfisch, Hering.

Bei Hinz&Kunzt hieß es: Hotte ist tot.

Bis 1980 hat er gearbeitet. Dann fing er immer mehr an zu trinken, die Bandscheiben waren kaputt vom vielen Bücken. Er verlor seine Wohnung, lebte auf der Straße und wurde Teil einer Gruppe – der Ritterrunde. Die obdachlosen Männer trafen sich in der Nähe der Mönckebergstraße an einem Tisch. Hotte war der Älteste von ihnen und genoss besonderen Respekt. Mit Fritz, Spinne, Ziege und anderen war die Ritterrunde fester Bestandteil der Innenstadt. Wenn es Ärger gab wegen Saufgelagen oder Ruhestörungen, zog man sie zu Rate. Manchmal sorgten sie selbst dafür.

Eines Tages verschwand Hotte. Von Italien hatte er immer wieder geredet, wie schön es da sei. Ein Suchtrupp machte sich auf in den Süden. Doch die drei Freunde fanden ihn nicht. Bei Hinz&Kunzt hieß es: Hotte ist tot. Dann stand er wieder am Mönckebergbrunnen, als sei nichts gewesen, und trank seinen Schnaps. Hotte war wieder da, mit neuen Geschichten, wie er auf den Schiefen Turm von Pisa ging und durch Frankreich reiste, mit Isomatte und Schlafsack im Gepäck.

Hotte streicht durch seinen Bart. „Jetzt habe ich ein neues Leben angefangen“, sagt er. Nur das Knie tut noch weh. Als ihm vor Monaten im Krankenhaus der graue Star entfernt wurde, fiel er mit tropfenblinden Augen eine Treppe hinunter. Deshalb kann er zur Zeit nicht Hinz&Kunzt verkaufen, wie er es seit zehn Jahren macht. „Im Sitzen kann ich nicht verkaufen“, sagt Hotte. Sitzen heißt betteln. Stehen heißt auf Augenhöhe verkaufen.

Er lebt von 351 Euro Grundsicherung, aber „ich kann nicht klagen“, und er will es auch nicht. „Ich will 107 werden.“ Er schaut aus seinem Fenster. Es soll kühl werden in der Nacht. Er wird in seinem eigenen Bett schlafen.

Text: Joachim Wehnelt
Foto: Martin Kath

46 JAHRE ALT werden Obdachlose im Durchschnitt, so eine Studie von Dr. Frauke Ishorst-Witte am Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Eppendorf. Sie leben somit 30 Jahre weniger als der Durchschnitt. Kälte, schlechte Ernährung, Alkohol und Drogen zerstören die Gesundheit. „Dramatisch ist“, so Leonhard Hajen von der Hamburgischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung, „dass banale Krankheiten wie Lungenentzündungen oder offene Wunden oft tödlich sind. Erfrieren ist die Ausnahme.“ Trotz Anspruch auf eine Krankenversicherung schaffen Obdachlose es oft nicht, eine Karte zu beantragen. Ihre Scheu vor Behörden ist groß, erklärt Hajen. Und die Praxisgebühr können sie sich nicht leisten. Problematisch sei, dass Krankenhäuser den Aufenthalt von Patienten kurz halten sollen. Sie müssen Obdachlose auf die Straße entlassen. Dort hilft seit 1995 die Caritas: Die „Mobile Hilfe“ zählt zwischen 4900 bis 6100 Kontakte jährlich. Das Zahnmobil ist seit März 2008 unterwegs. Die 14 Plätze und zwei Notbetten der offenen Krankenstube im ehemaligen Hafenkrankenhaus auf St. Pauli sind ständig ausgelastet. HAK

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