Der Inspektor

Seit 15 Jahren kontrolliert Ulf Christiansen im Hamburger Hafen die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Seeleuten. Kein Job, sondern eine Mission

(aus Hinz&Kunzt 159/Mai 2006)

Die Haare stehen ihm zu Berge. Der erste Offizier der „New Leader“ stapft in den Aufenthaltsraum. „You have to leave the ship“, dröhnt er und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Ulf Christiansen nippt am Kaffee und beißt in sein Brötchen. Er bleibt sitzen, ignoriert den Rausschmiss. Ruhig und gelassen. Er stellt sich als Inspektor der Internationalen Transportarbeiter Föderation, kurz ITF, vor und verspricht, sich nach seiner Kaffeepause im Büro nebenan zu melden.

Der erste Offizier kämpft mit seiner Wut, verlässt dann aber den Raum und stößt mit dem Matrosen zusammen, der dem Besucher ein paar Kekse bringt.

„Ich bleibe einfach ganz ruhig sitzen“, erläutert der 51-jährige Gewerkschafter seine Strategie, nickt dem Matrosen freundlich zu und weist ihn auf das Informationsmaterial hin, das er ausgelegt hat. Er versuche immer, einen Konflikt möglichst friedlich beizulegen, sagt Ulf Christiansen. Es ist seine Aufgabe, Seeleuten zu helfen, die ein Problem haben oder in Not geraten sind. Eine Aufgabe, von der Ulf Christiansen überzeugt ist. Er ist einer von 130 ITF-Inspektoren. Weltweit kontrollieren sie vor allem Billigflaggenschiffe und setzen sich für die Rechte der Seeleute ein.

Seit 1990 ist Ulf Christiansen im Hamburger Hafen und bei Bedarf auch in anderen Häfen der Nord- und Ostsee unterwegs. Pro Jahr kommt er auf 120 bis 130 Schiffsbesuche, deren Ergebnisse er wie seine Kollegen weltweit in einer Datenbank sammelt. So weiß der ITF-Inspektor in Japan, was sein Kollege in Kopenhagen recherchiert hat.

Bevor er Inspektor wurde, ist Ulf Christiansen selbst 17 Jahre zur See gefahren. Mit 25 Jahren erhielt er das Kapitänspatent. Als er 35 war, kam die Anfrage von der Gewerkschaft ÖTV (heute verdi). „Es war die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt“, sagt er. Die Seefahrt vermisse er nicht, die Arbeit passe zu ihm und seiner Familientradition: Seefahrer einerseits, Pastoren und Lehrer andererseits. „Sich um Menschen kümmern und sich für sie einsetzen, darum geht es“, sagt der Gewerkschafter.

Wichtig für die Arbeit sei das Netzwerk, in dem er sich bewege, erklärt Christiansen. Er pflegt Kontakte zur Wasserschutzpolizei, zu den Betriebsräten der Hafenbetriebe, zu Hafenarbeitern, dem Oberhafenamt und zur Seeberufsgenossenschaft. Der Inspektor kennt viele Menschen – auch den Lademeister im Getreideterminal an der Rehte Ströh, der die „New Leader“ betreut. Ein Massengutfrachtschiff, ein so genannter Bulkcarrier, der bis zu 50.000 Tonnen Getreide laden kann.

Ulf Christiansen hat das Schiff für einen Besuch ausgewählt, weil es unter der Billigflagge von Panama fährt und es keinen ITF-Tarifvertrag mit der Reederei mehr gibt wie noch in den Jahren zuvor. Auch trägt das Schiff seit vergangenem Jahr einen anderen Namen. Der Inspektor vermutet einen Eigentümerwechsel.

Die Gangway zur „New Leader“ knarrt im Wind, als Ulf Christiansen an Bord steigt. Ein philippinischer Matrose empfängt ihn und geleitet ihn über Deck. Der Inspektor fragt, ob er seine Heuer pünktlich bekommen habe und wie hoch sie sei; ob das Essen gut und ausreichend sei. Der Seemann ist im ersten Moment irritiert, gibt aber bereitwillig Auskunft. Ein zweiter Matrose nickt und bestätigt, dass alles in Ordnung ist. Als Heuer bekommen sie zwischen 800 und 900 Dollar monatlich inklusive Urlaubsgeld. Der ITF-Tarifvertrag sieht 1550 Dollar für einen Matrosen vor.

Auf Nachfrage erhält Christiansen eine Crewliste: Die Führungspositionen, Kapitän, erster Offizier und die Ingenieure sind Griechen. Die Matrosen kommen von den Philippinen, insgesamt 24 Mann Besatzung. Der Inspektor ist noch keine zehn Minuten an Bord und hat bereits wichtige Informationen gesammelt.

Ulf Christiansen betritt die Mannschaftsunterkünfte, stellt sich den Seeleuten vor, die ihm begegnen. Er wirft einen Blick in den Essensraum der Matrosen und in den der Offiziere, macht einen Gang durch die Kombüse. Alles sieht sauber aus und es riecht appetitlich. Auf dem Herd köchelt das Mittagessen. Der Koch ist etwas verunsichert, er scheint nicht sicher zu sein, ob er diesem Mann Auskunft geben darf, zeigt dann aber die gut gefüllten Vorrats- und Kühlräume. Das Schiff kommt aus Rotterdam, dort haben sie Proviant geladen.

Mittlerweile sind viele Tarifverträge unterschrieben, die Hilferufe der Seeleute werden weniger. Und doch hat der Inspektor mit seinem Kollegen allein in Hamburg im vergangenen Jahr eine halbe Million Dollar an Heuerforderungen eingetrieben. Regelmäßig, berichtet Christiansen, werden Seeleute gekündigt und wissen nicht warum. Andere werden nach Arbeitsunfällen ohne Hilfe und Entschädigung nach Hause geschickt.

Der erste Offizier hat inzwischen den Lademeister gerufen und lässt seinen Befehl wiederholen: Christiansen soll das Schiff verlassen. Der bleibt sitzen und nickt. „Das werde ich tun, aber nur, wenn der Kapitän mir das sagt.“ Der Kapitän schläft. Später wird der Inspektor sagen: „Das war mir wichtig, um zu zeigen, wer mir etwas zu sagen hat.“

Schließlich kommt der verschlafene Kapitän. Ein großer Mann mit schmalem langen Schädel. Ruhig und freundlich. Er bestätigt dem Inspektor, dass das Schiff vor einigen Monaten Namen und Eigentümer gewechselt hat. Die komplette Crew ist neu an Bord. Das Schreiben, das der Inspektor ihm überreicht, will er nicht unterzeichnen. Damit würde er bestätigen, dass die ITF an Bord war, und das wäre offenbar ein Problem gegenüber seiner Reederei in Griechenland. So etwas komme öfter vor, manche Reedereien versuchen den Kontakt zur ITF zu unterbinden, sagt Christiansen.

Dem Kapitän überreicht er zum Abschied mit freundlichen Worten Schlüsselanhänger und Flaschenöffner in Form eines kleinen weißen Plastik-Schutzhelms mit ITF-Logo. Er ist zufrieden mit dem Besuch. Etwas trickreich sei er schon vorgegangen, sagt der Inspektor. Der Überraschungseffekt sei auf seiner Seite. Er hat noch an Bord per Handy Kontakt zur Reederei aufgenommen und einen ersten Schritt für Tarifverhandlungen gemacht: Der ITF-Bazillus ist an Bord.

Annette Scheld


ITF, die Internationale Transportarbeiter-Föderation, ist ein Zusammenschluss von über 600 Transportarbeitergewerkschaften in mehr als 135 Ländern. Europäische Hafenarbeiter und Seeleute gründeten sie vor 110 Jahren in Rotterdam. Heute sitzt die Zentrale in London. Schwerpunkt der Arbeit ist die weltweite Billigflaggenkampagne, die inzwischen seit über 50 Jahren läuft.

Ein Billigflaggenschiff fährt unter der Flagge eines Landes, in dem nicht zugleich auch die Eigentümerschaft angesiedelt ist. Motive für die Wahl solcher Flaggen sind vor allem die niedrigen Registergebühren, geringe Steuerbelastung und die Möglichkeit, billige Arbeitskräfte zu beschäftigen. Die ITF setzt sich für die Rechte und menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute auf Billigflaggenschiffen ein. Mehr Infos im Internet unter www.itf.org.uk

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