Sozialpsychologin Johanna Degen im Interview : „Dating-Apps sind ein fucking Business-Case“

Jede:r hat etwas zu bieten, findet Sozialpsychologin Johanna Degen. Foto: Teach LOVE
Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Die Sozialpsychologin Johanna Degen erforscht, wie Dating-Apps unsere Gesellschaft
verändern – und wie wir es schaffen, die kapitalistische Logik von Tinder & Co. auszutricksen.

Hinz&Kunzt: Wer Liebe sucht oder flirten möchte, scheint heute um Online-Plattformen kaum herumzukommen. Wie sind wir da hingekommen?

Johanna Degen: Wir haben uns entwöhnt, im öffentlichen Raum Nähe herzustellen. Weil wir schnell das Gefühl haben, es sei unerwünscht, unpassend oder auch riskant, dort andere Menschen anzusprechen. Online-Dating fühlt sich einfacher an. Man weiß, hier ist ein Ort, an dem Flirten erlaubt ist. Man unterstellt den anderen ähnliche Absichten – die die übrigens oft gar nicht haben. Die Hälfte der Nutzerinnen und Nutzer beim Online-Dating sind gar nicht verfügbar. Aber es fühlt sich so an, als könnten die Apps Bedürfnisse erfüllen, die wir woanders nicht mehr erfüllt bekommen.

Dabei ist ja nicht einmal sicher, dass die Dating-App unsere Wünsche wirklich wahr macht.

Das stimmt, vor allem für Menschen mit wenig Geld. Online-Dating ist eine sehr diskriminierende Sphäre. Status spielt eine Rolle.

Das heißt, wenn ich arm bin oder aus dem Rahmen falle, habe ich ohnehin keine Chance?

Doch, wenn ich meine Lebensbedingungen vorweg beschreibe und deutlich mache, dass ich jemanden suche, der damit klarkommt oder ähnlich situiert ist. Dann muss ich mich nicht der Gefahr aussetzen, dass mich deshalb jemand zurückweist. Die, die mich anklicken, haben es ja eh schon gesehen. So wird der Umgang mit der Plattform zum Schutzmechanismus.

Und wie kommt das an, wenn ich schreibe: „Ich lebe von Bürgergeld“ oder „Ich bin obdachlos“?

Qualitativ funktioniert es gut. Ich kann mich davor schützen, dass ein Date auf dem Hacken kehrtmacht, und mir so Verletzungen ersparen. Aber quantitativ funktioniert so eine Beschreibung im Profil richtig … entschuldigen Sie, jetzt hätte ich fast Kraftausdrücke benutzt. Was ich meine, ist: Ich werde nicht viele Matches oder Dates haben, wenn ich schreibe, dass ich hartze. Ich kann es aber auch positiv drehen.

Wie denn das?

Zum Beispiel so: „Antikapitalist, sitze gern am Strand und suche jemanden, für den Geld und Status keine Rolle spielen.“ Oder auch: „Freigeist“ oder „Systemaussteigerin“. Das sind Gewinner-Narrative, die findet man schon öfter auf Dating-Portalen.

Armer Schlucker datet reiche Lady: Das ist doch ein Märchen, oder?

Ich kenne viele solche Dating-Geschichten. Zum Beispiel die von einer sehr erfolgreichen Geschäftsfrau, die hat sich verliebt in einen, der nur 1000 Euro im Monat hatte. Das ist für manche sehr viel, aber nicht auf ihrem Level. Der ist mit ihr in seinem abgerammelten Mercedes Vito nach Sankt Peter Ording an den Strand gefahren, ne Matratze hinten drin, ne Flasche Jim Beam und ne Cola, das war’s. Das war für sie die pure Freiheit. Weil alles anders war! Es war nicht der Beachclub, nicht das Theater, es gab nicht mal eine Toilette. Das war ihr erstes Date, am Ende haben sie geheiratet.

 

Wie hat dieser Mann es denn überhaupt geschafft, dass sich die Frau für ihn interessiert?

Der hat ihr etwas angeboten, zu dem sie Ja sagen konnte. Er hat nicht gesagt: „Du, ich hab kein Geld fürs Theater“, sondern: „Mit mir kannst du die Nacht unter den Sternen tanzen.“

So selbstbewusst muss man erst mal sein, wenn das Leben von Armut und Stress geprägt ist.

Jeder hat etwas zu bieten: Freiheit, Ungebundenheit, eine andere Perspektive auf die Gesellschaft. Das erleben Menschen in schwierigen Lebenslagen oft nicht so, aber es ist eine gute Denkübung: Was ist eigentlich meine starke Position? Es hilft auch, um rauszukommen aus diesem Schuld-Narrativ, das unsere Gesellschaft den Leuten antut. Außerdem: Wonach hungern wir denn alle, auch die Leute mit Geld? Danach, etwas zu erleben, etwas zu fühlen, Freiheit zu finden und berührt zu werden.

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Artikel aus der Ausgabe:

Dating für Arme

Alle daten heutzutage mit Apps – was bedeutet das für Menschen mit wenig Geld? Dating-Apps sind „ein fucking Business-Case“, warnt die Sozialpsychologin Johanna Degen im Interview. Außerdem: ein Treffen mit Schlagerstar Kerstin Ott und die spannende Suche nach den Autor:innen eines gefälschten Umberto-Eco-Buchs.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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