Anders als die anderen?

Geistig behinderte Schüler aus Ahrensburg haben den Hörspiel-Wettbewerb von Audiyou.de und Hinz&Kunzt gewonnen. Das Thema: Anderssein.

(aus Hinz&Kunzt 245/Juli 2013)

Jan (links) und Dominik im Schulfahrstuhl. „Die Kinder sind EHRLICH UND OFFEN – und sie begegnen mir auch so“,  sagt ihre Lehrerin Helga Hoops. „Sie sind nicht verbogen durch unsere Gesellschaft.“
Jan (links) und Dominik im Schulfahrstuhl. „Die Kinder sind ehrlich und offen – und sie begegnen mir auch so“,
sagt ihre Lehrerin Helga Hoops. „Sie sind nicht verbogen durch unsere Gesellschaft.“

Der Satz geht unter die Haut, so ehrlich klingt er: „Ich bin einsam, ich könnte eigentlich nur heulen.“ Gesagt hat ihn Saalim. Der 14-Jährige aus Tansania kommt als neuer Schüler in eine Ahrensburger Schule. Er trägt kaputte Schuhe und abgetragene Kleidung, kann auch noch kein Deutsch sprechen – anders als seine neuen Mitschüler. Die begrüßen ihn nicht sehr herzlich: „Guck mal, was der anhat!“, lästert Victor gehässig. Aber es geht noch fieser: „Ey, du neuer Ausländer, verpiss dich in dein Land zu­rück!“ Dann muss Saalim auch noch Prügel ein­stecken.

Diese Szene ist zum Glück fiktiv. Sie ist ein Ausschnitt aus einem Hörspiel, mit dem sich geistig behinderte Kinder von der Woldenhorn-Schule Ahrensburg am vierten Audio-Wettbewerb von Hinz&Kunzt und der Internetplattform Audiyou beteiligt haben. Zehn Tage haben sie sich gemeinsam mit ihrer Vertretungslehrerin Helga Hoops mit der Frage beschäftigt: Wie klingt eigentlich Anderssein?

Ein Stuhlkreis in einem Klassenraum im zweiten Stock des Schulgebäudes. An der Wand hängen bunte Zettel mit den individuellen Förderplänen für die acht Schüler, die hier unterrichtet werden. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen auf der Förderschule, ihre kognitiven Fähigkeiten sind eingeschränkt. „Das Emotionale überwiegt bei den Kindern“, sagt ihre Lehrerin. Die einen sollen lernen, sich für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Andere sollen sich abgewöhnen, Fremde zu umarmen. Jeden Morgen frühstücken die Schüler in ihrem Klassenraum gemeinsam, dann folgt Unterricht in Mathe und Deutsch.

In den zehn Tagen mit Helga Hoops war das anders. Da saßen die Schüler in ihrem Stuhlkreis und durften ihrer Kreativität freien Lauf lassen. „Ich habe sie ein bisschen geführt, aber die Geschichte haben sie sich selbst überlegt“, erzählt Hoops. „Auch die Texte haben sie selbst geschrieben.“ Das hat den Kindern Spaß gemacht, und gelernt haben sie auch etwas, so die Lehrerin: „Durch die Geschichte ist deutlich geworden, dass sich jemand schlecht fühlt, wenn er schlecht behandelt wird.“

Die Message klingt trivial, aber sie ist angekommen. Dadurch, dass die Schüler die Situation nachgespielt haben, konnten sie sich in sie einfühlen. „Wenn jemand beleidigt wird, muss er weinen“, sagt Jan. Deshalb hat der 15-Jährige – beziehungsweise er in seiner Rolle als Jonas – im Hörspiel das Wort ergriffen: „Lass ihn in Ruhe, er versteht unsere Sprache nicht!“, geht er dazwischen, als Saalim von Victor geschlagen wird. Auch in der Realität findet Jan das richtig: „Ich mochte nicht, was Dominik gesagt hat!“

Manche Eltern vermeiden „Außenkontakte“ ihrer Kinder.

„Ich will nicht mit dir spielen, du bist scheiße!“, hatte Dominik gepöbelt. Der 15-Jährige hat im Hörspiel den gemeinen Victor gespielt. „Ich war ein Fiesling!“, stellt er fest. Wie das für ihn war, mag Dominik nicht beantworten: „Die schlimmen Wörter will ich nicht noch mal sagen!“ Schon bei der Hörspielproduktion hatte er sich geschämt, die Wörter auszusprechen. „Andererseits fand er es auch cool, das sagen zu dürfen“, berichtet Helga Hoops. „Als er seinen Text gesprochen hatte, hat er sich erschrocken und dann versteckt.“

Wie fühlt sich Anderssein an? Die Kinder von der Woldenhorn-Schule müssten das eigentlich wissen. Denn sie sind anders als die meisten – oder werden zu anderen gemacht. „Schon wenn man auf dieser Schule ist, ist man anders“, sagt Lehrerin Hoops. Gleichzeitig ist die Schule aber auch ein Schutzraum: Die Schüler bilden hier eine geschlossene, liebevolle Gemeinschaft. „In dieser beschützten Umgebung erleben sie sich nicht so als anders“, sagt Hoops. „Aber sie erleben Anderssein, wenn sie rausgehen.“ Dann kommen die dummen Sprüche und das Unverständnis, beim Einkaufen oder auf dem Spielplatz. „Die Gesellschaft ist hart.“ Manche Eltern vermeiden deshalb „Außenkontakte“, wie Helga Hoops sagt: „Viele der Kinder sitzen den ganzen Nachmittag vor dem Computer.“ Nur wenige würden beispielsweise mit Nachbarskindern spielen, und wenn, dann meist mit Jüngeren. Oft würden die Kinder zu sehr behütet, so Hoops.

Dabei kann das Zusammenleben mit den „Anderen“ gut funktionieren, wie eine Kooperation mit einer Ahrensburger Grundschule zeigt. 16 Schüler mit geistiger Behinderung sind seit dem vergangenen Schuljahr in der „normalen“ Grundschule nebenan, es gibt gemeinsamen Unterricht zum Beispiel im Fach Musik. „Das funktioniert richtig gut!“, schwärmt Lehrerin Hoops. „Die Kinder haben einen ganz normalen, tollen Umgang miteinander.“

Für Schulleiter Henning Rohwedder ist dieses „Ahrensburger Modell“ nur ein kleiner, vorsichtiger Schritt: „Bis wir eine inklusive Gesellschaft sind, wird ein langer Prozess nötig sein“, sagt er. Das Ziel der Lehrer: Die ersten vier Schuljahre soll künftig jedes behinderte Kind unter Nichtbehinderten in der Grundschule gegenüber verbringen, unterrichtet von den Sonderpädagogen der Woldenhorn-Schule. Erst ab der fünften Klasse wären die Schüler mit Behinderung dann unter sich. Der Anfang ist gemacht: „Die nichtbehinderten Kinder profitieren auch alle davon“, sagt Rohwedder. „Es bleibt zu hoffen, dass die behinderten Kinder am Ende selbstbewusster sind.“

Auch das Hörspiel hat ein Happy End, nachdem Lehrerin Frau Hansen darin ein Machtwort spricht: „Wenn das noch einmal passiert, gibt’s richtig Ärger!“, sagt sie. „Ihr wollt doch auch nicht so behandelt werden.“ Schließlich hat auch Victor ein Einsehen und entschuldigt sich bei Saalim. Dass die Schüler mit ihrem Hörspiel den 1. Platz im Audiyou-Wettbewerb ergattert haben, hat sie begeistert. Bei der Siegerehrung im Hinz&Kunzt-Foyer fielen sie sich in die Arme. „Sie waren ganz gerührt“, sagt Helga Hoops. Ahrasch, der den einsamen Saalim im Hörspiel gesprochen hat, hat nach der Preisverleihung immer wieder gesagt: „Die mochten mich da!“

 

Vielen Dank an die Firma Sound Service und das Projekt Ohrlotsen, die die Preise gespendet haben. Die anderen Gewinner und das Hörspiel zum Reinhören finden Sie unter www.huklink.de/audiyou2013

Text: Benjamin Laufer
Foto: Dmitrij Leltschuk