Stelian, 65, verkauft Hinz&Kunzt vor Rewe an der Dehnhaide.
Stelian hält einen Stapel Papier in den Händen. Heute soll ein weiteres Blatt dazukommen. „Ich muss gleich zum Arzt. Ich bekomme meine Ergebnisse“, erklärt er. Vergangene Woche wurde dem 65-jährigen Hinz&Kunzt-Verkäufer Blut abgenommen. Er habe keine Angst mehr, was auf dem nächsten Blatt seiner Krankenunterlagen stehen wird. „Es wird alles gut“, sagt er und lächelt. Danach sah es nicht immer aus.
Aufgewachsen ist Stelian mit einem Bruder bei seinen Eltern. Sie lebten 60 Kilometer vor Bukarest. Mit 15 Jahren zog er in die rumänische Hauptstadt, ging auf die Hauswirtschaftsschule. Er konnte bei einer Tante wohnen. Deren Mann war Tennislehrer. Stelian durfte mitkommen zu den Trainingsstunden, spielte in jeder freien Minute. Dann sei Tennisspielen erst mal lange kein Thema mehr gewesen. Mit 20 Jahren musste er zur
Armee, wo er in eine Eliteeinheit aufstieg. Danach kellnerte er, begann zu trinken. In dieser Zeit lebte er in einer Wohnung in Bukarest und lernte schließlich seine Freundin kennen, die Tänzerin am Theater war. Zehn Jahre waren die beiden glücklich – bis sie plötzlich an Brustkrebs verstarb.
Stelian packte der Freiheitsdrang. Seine Jugend im kommunistischen Rumänien beschreibt er heute mit einem Wort: „Gefängnis“. Ein guter Freund von ihm war nach Deutschland ausgewandert und schwärmte von der Freiheit im Westen. Stelian wusste: Da will ich auch hin.
Anfang der 1990er-Jahre versuchte er mehrmals, nach Deutschland zu kommen, doch er wurde an der Grenze erwischt und bekam eine Einreisesperre. Stelian gab seine Bemühungen auf. Acht Jahre jobbte er wieder als
Kellner. Im Jahr 2000 gründete er eine Sicherheitsfirma. Als die pleiteging, wagte er einen neuen Anlauf.
2017, Rumänien gehörte mittlerweile zur Europäischen Union, setzte sich Stelian in einen Bus nach Hamburg. 58 Jahre war er da alt, sprach kein Deutsch. Er jobbte schwarz auf dem Bau und kam bei Bekannten unter. Bis heute lebt er so. Bei einem Deutschkurs der Diakonie erzählte seine Lehrerin dann von Hinz&Kunzt. Das war vor fünf Jahren. Seitdem steht er immer, wenn es geht, an seinem Verkaufsplatz. „Ich gehöre schon zur Dekoration“, sagt er und lacht. Die meisten kennen ihn, grüßen ihn, respektieren ihn. „Ich mag, dass ich eine Beschäftigung habe“, sagt er. Doch in den vergangenen Jahren konnte er die nicht immer ausführen.
Stelian ist schwer krank, leidet an Leberzirrhose. Zwei längere Krankenhausaufenthalte hat er hinter sich. Zwischen Krankenhaus und Praxisbesuchen schleppte er sich immer wieder an den Verkaufsplatz. Das Schlimmste habe er mittlerweile hinter sich. Aufgehört zu trinken habe er auch. „Ich vermisse die Bewegung und das Tennisspielen, aber es geht mir gut.“ Jammern will er nicht.
Stelian rückt seine Brille gerade, stellt seinen Hemdkragen auf und greift nach dem Papierstapel in der Klarsichthülle. Er muss los zur Praxis ohne Grenzen, die Menschen ohne Krankenversicherung in Hamburg ärztlich versorgt. Danach will er noch Magazine verkaufen gehen.
Übersetzung: Flaviu Morariu
