Schauspielerin Sibel Kekili

Sibel Kekillis Leben klingt fast wie ein Drehbuch: Fatih Akin machte sie über Nacht mit seinem Film „Gegen die Wand“ zum Star, ihre Familie verstieß sie wegen ihrer Vergangenheit als Pornodarstellerin. Jetzt zeigt die deutsch-türkische Schauspielerin im Kinodrama „Die Fremde“ die Tragik eines Frauenlebens zwischen zwei Kulturen.

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Plötzlich steht sie im Kino, als sei sie mal kurz von der Leinwand heruntergeklettert. Sie verbeugt sich, winkt ins Publikum, grüßt Einzelne. Eben noch war Sibel Kekilli die junge Frau mit Namen Umay, die 120 Filmminuten lang um ein selbstbestimmtes Leben kämpft, für sich und ihren fünfjährigen Sohn. Nun verebbt der Applaus, der Moderator räuspert sich, hebt das Mikrofon und stellt seine erste Frage: „Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie das Drehbuch lasen?“ Und Sibel Kekilli sagt: „Ich habe erst mal geweint, weil mich die Geschichte sehr berührt hat.“
„Die Fremde“ heißt der Film, und er erzählt die Geschichte von Umay, aufgewachsen in Deutschland, Kind türkischer Eltern. Sie lebt in Istanbul, ihr Mann schlägt sie, er drangsaliert das Kind. Heimlich flieht sie nach Berlin, wo ihre Familie wohnt, von der sie sich Schutz erhofft. Gleich die ersten Filmbilder machen klar, das wird keine lustige Geschichte, das wird ein Drama, an dessen Ende es nur Verlierer gibt.

Es ist keine reguläre Filmvorführung, sondern eine Extraschau, veranstaltet von der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“, für die sich Sibel Kekilli seit Jahren engagiert; als Botschafterin, als Schirmherrin, als Prominente, die sich so einsetzt gegen häusliche Gewalt, gegen Zwangsheirat, gegen die abstruse Vorstellung von „Familienehre“, die nichts anderes meint, als dass die Frauen sich ohne Wenn und Aber den Männern zu unterwerfen haben. „Ich mag diesen Film sehr“, sagt Sibel Kekilli: „Er ist nicht nur Schwarz-Weiß, er zeigt auch die Grautöne, nicht nur den bösen Vater und nicht nur den bösen Bruder.“

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Sie sitzt jetzt an einem Restauranttisch, vor ihr steht eine Flasche Selters: „Die Umay, die ich spiele, sie war mir nicht immer sympathisch. Sie ist auf eine gewisse Weise auch sehr egoistisch, verzweifelt egoistisch; wie sie ihre Familie bedrängt, wie sie sie nicht in Ruhe lässt, wie sie nicht wartet, dass die Familie auf sie zukommt, das sind Momente, da verstehe ich sie nicht.“ Sibel Kekilli kennt das Leben zwischen zwei Welten: 1980 wird sie in Heilbronn geboren, drei Jahre zuvor sind ihre Eltern aus der Türkei nach Süddeutschland gekommen. Sie absolviert die Mittlere Reife, lernt Verwaltungsfachangestellte, arbeitet zwei Jahre im örtlichen Rathaus. Sie verlässt Heilbronn, zieht nach Essen. Jobbt, modelt, schlägt sich so durch. Dann ein scheinbar ganz banaler Tag in Köln: Sie schlendert durch die Fußgängerzone, bleibt vor einem Café stehen. Drinnen sitzt die Casterin Mai Seck, unterwegs für den Filmregisseur Fatih Akin, die weibliche Hauptdarstellerin für seinen neuen Spielfilm zu finden. Hunderte von jungen Frauen hat sie sich angeschaut, keine hat sie überzeugt. Und dann sieht sie Sibel Kekilli vor sich stehen, sieht, wie sie sich bewegt und weiß, dass sie die Richtige sein wird. Sibel Kekilli bekommt die Rolle und „Gegen die Wand“, hauptsächlich gedreht in Ottensen, wird nicht nur der Durchbruch für Fatih Akin: Sibel Kekilli spielt die junge Deutsch-Türkin Sibel, die pro forma einen Türken heiratet, um ihrer Familie zu entfliehen. Sie spielt, als habe sie in ihrem Leben nichts anderes gemacht, und das Publikum und die Filmkritik, sie sind überwältigt.

Höhepunkt des Erfolgs ist die Verleihung des Goldenen Bären auf der Berlinale 2004. Alles ist gut. Doch Tage nach der Preisverleihung enthüllt die Bild-Zeitung, dass Sibel Kekilli vor Jahren in Pornofilmen mitgespielt hat und zögert nicht, entsprechende Fotos abzudrucken. Ein gefundenes Fressen für die Billigpresse und das Billigfernsehen: Tagelang wird ihre Wohnung umlagert. Was weit schlimmer ist: Ihre Eltern brechen den Kontakt zu ihr ab. Bis heute.
Das ist lange her, das ist Vergangenheit, einerseits. Und andererseits muss es einem sofort einfallen, sieht man sie jetzt auf der Leinwand, wie sie in der Rolle der Umay mit ihren Eltern ringt, wie sie beides will: ein eigenes Leben führen und dafür den Segen ihrer Eltern und Geschwister erhalten, in deren Leben genau diese Möglichkeit für eine Frau nicht vorgesehen ist. Und sie spielt diese heraufziehende Katastrophe mit einer Wandlungsfähigkeit, die einem den Atem nimmt: Eben noch sitzt sie steif und verschüchtert, das Gesicht vom Kopftuch eingezwängt im Bus zum Flughafen, um später voller Energie und mit offenem, wehendem Haar durch Berlin zu schreiten. Oder wenn sie voller Zorn erbebt oder wenn sie sich verliebt und äußerst verlegen und äußerst charmant vor sich hin lächelt wie ein Schaf im Sonnenschein; ein Lächeln, das man für einen längeren Moment feststellen möchte, um es einmal in Ruhe zu betrachten – denn der nächste Tiefschlag folgt sogleich.01HK206_Titel.indd

Das Schauspielern brachte sie nach Hamburg. Sie schwärmt von Ottensen, wo sie jetzt wohnt: „Ja, es ist meine Heimat. Ich fühle mich wohl hier. Es ist ein Dorf, wo jeder den anderen lässt, wie er ist. Was mir gar nicht gefällt ist, dass Altona immer mehr von Geld regiert wird – immer mehr große Ketten wie zum Beispiel Ikea verdrängen die kleinen Läden.“ Kämpferisch sagt sie das, entschlossen und energisch. So wie sie nicht zögert, ihre Grundsätze zu benennen: „Das Wichtigste ist doch, eine Meinung zu haben. Viele gehen durchs Leben und haben keine Meinung zu gar nichts. Das finde ich so schade, das gehört doch dazu, dass man sich immer hinterfragt.“

Sie macht eine kurze Pause, setzt nach: „Vielleicht ist es einfacher, oberflächlich durchs Leben zu gehen; vielleicht macht einen das erst mal glücklich – aber irgendwann holt einen das wahre Ich ein. Deshalb kam und kommt so ein Weg auch nie in Frage für mich. Dann doch lieber den steinigen Weg gehen und sich selbst gegenüber treu und ehrlich sein.“
Ist ihr etwas persönlich besonders wichtig? „Für mich ist es am wichtigsten, dass ich am Ende des Tages mein Spiegelbild angucken kann“, erklärt sie. In „Die Fremde“ gibt es genau diese Szene: Umays Mutter schaut in den Spiegel und ihr Blick sagt: „Was mache ich hier? Warum helfe ich nicht meiner Tochter? Nein, ich helfe ihr nicht.“ Und sie wendet den Blick ab.

Nervt es sie eigentlich, dass sie so oft auf die Rolle der Deutsch-Türkin festgelegt wird, auf harte, illusionslose Stoffe? Sie schüttelt den Kopf: „Ich freue mich, dass man mir solche Rollen zutraut. Ich verleugne ja nicht meine türkischen Wurzeln; ich fühle mich aber als Deutsche. Ich versuche aus beidem meine Vorteile zu ziehen.“ Ein nächstes Filmprojekt ist bereits in Planung, nach Irland soll es gehen. Sie war noch nie dort, sie freut sich drauf. „Es wird was ziemlich Verrücktes“, sagt sie, so wie sie überhaupt gerne mal in einem Animationsfilm mitspielen würde, was Ausgefallenes, Fantasy, ein Kinderfilm, eine intelligente Komödie. Und wieder blitzt ihr so charmantes Lächeln auf: „Ich glaube, ich kann auch ganz witzig sein.“

Frank Keil

„Ich möchte nicht, dass Günter denkt: du Arschloch.“

Vor 20 Jahren brach Ex-Hinz&Künztler Uwe Wichmann im Drogenwahn in der Agentur „Panfoto“ von Günter Zint ein. Er ließ so viel mitgehen, dass die Fotoagentur fast ruiniert war. Der finanzielle Schaden und der Vertrauensbruch wogen schwer, eine Versöhnung schien ausgeschlossen. Doch ein Artikel in Hinz&Kunzt über Uwes Leben und seine Firma brachte die Männer dazu, nach all den Jahren wieder miteinander zu reden. Nun will Uwe alles dafür tun, den Schaden wiedergutzumachen. Die Geschichte einer Annäherung.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

„Wenn ich an damals denke, zittere ich immer noch“, sagt Günter Zint. „Uwe hat uns im Sommer 1990 bei ‚Panfoto‘ den Laden ausgeräumt; Kameras, Computer, Projektoren, Vergrößerungsgeräte – alles war weg. Selbst die Disketten waren verschwunden; unsere Büros sahen aus wie eine Möbelausstellung. Wir hätten das beinahe nicht überlebt.“ Er schaut geradeaus: „Ich bin wochenlang wie in Trance durch die Gegend gelaufen; ich habe kaum etwas mitbekommen.“ Uwe Wichmann nickt wortlos.

Der einstige Hinz&Kunzt-Verkäufer und der Fotograf sitzen nebeneinander im Sankt Pauli Museum, das Zint ­aufgebaut hat. Seit fast 20 Jahren haben sie nicht mehr miteinander geredet. Jetzt wollen sie ihre Geschichte erzählen.

Günter Zint und Uwe Wichmann
Günter Zint und Uwe Wichmann

Kennengelernt haben sich die beiden Mitte der 70er-Jahre, sie waren gut befreundet, und Uwe Wichmann arbeitete zeitweise in Zints Agentur Panfoto. „Wir haben auch eine Zeit lang zusammengewohnt, es war wie eine Familie. Das war ein Wahnsinnsvertrauensbruch, den ich da …“, sagt Uwe. Er schluckt, senkt den Kopf, versucht sachlich weiterzureden. Zu erklären. „Ich hab damals in der Freiheit Tür gemacht, da hab ich das Saufen wieder angefangen. Dabei war ich über zehn Jahre trocken. Ich bin bald mit so Halblitertulpen voll Baileys rumgerannt.“
Zint unterbricht: „Aber das war doch nicht nur der Alkohol?“ – „Nee“, sagt Uwe: „Bei den Chefs ging öfters mal eine Nase Koks rum und das war mein Untergang. Dann kam noch das Heroin dazu – Koks mit Heroin, es geht rasant, dass du dich total veränderst. Wenn du keinen Stoff mehr hast, hast du Todesangst.“
Zint hat Uwe damals gleich im Verdacht: „Wegen seiner Drogen und weil er wusste, wie man die Alarmanlage ausschaltet. Und ich hatte ihn schon vorher zweimal aus dem Knast geholt.“ Er sieht Uwe von der Seite an. „Uwe hat unglaublich viele Begabungen, aus denen er alles hätte machen können, wenn er nicht so abgestürzt wäre.“
Uwe rückt mit dem Stuhl näher an den Tisch heran: „Ich wollte – und das ist jetzt kein Spruch – ich wollte von Günter drei Kameras ausleihen, ins Pfandhaus bringen, später wieder auslösen. Ich hatte noch einen Schlüssel zu den Räumen …“ – weshalb später auch keine Versicherung für den Schaden aufkam. „Was ich nicht wusste“, unterbricht ihn Zint erneut. „Ich nehme an, du und deine Freundin …“ Uwe nickt: „Meine damalige Freundin war mit, die war genauso auf Turkey wie ich. Plötzlich hat sie gesagt: ‚Wenn du nicht die Computer mitnimmst und das noch und das alles noch, dann fang ich an zu schreien.‘ Es war der Wahnsinn!“ Uwe Wichmann fährt sich übers Gesicht, schweigt. „Beim Prozess dann bekamst du ein Jahr“, sagt Günter Zint und sieht Uwe an. „Auf Bewährung.“
Uwe Wichmann lebt anschließend lange auf der Straße, wird Hinz&Kunzt-Verkäufer, kommt nicht von den Drogen los. Erst als er niedergestochen wird, nur knapp überlebt, macht er einen Entzug – und hält durch. Heute hat er eine Firma, die bei Dreharbeiten für Film und Fernsehen für die Absperrungen verantwortlich ist. „Panfoto hat ja nicht nur fotografiert, sondern schon immer auch Filme produziert“, erklärt Zint. „Und Uwe hat da Requisite und Aufnahmeassistenz gemacht. Er hat bei uns gelernt, was er heute kann.“
Es bleibt nicht aus, dass Günter Zint Uwe Wichmann ab und zu auf St. Pauli trifft: „Immer, wenn ich ihn mit den Zeitungen gesehen hab, hab ich sofort die Straßenseite gewechselt. Automatisch.“
Uwe seinerseits traut sich lange nicht, auf Zint zuzugehen: „Ich hab das immer wieder versucht, ehrlich, aber ich hatte doch nichts in der Hand.“ Dann fasst er sich doch ein Herz, spricht ihn an: „Da hast du nur zu mir gesagt: ‚Geh mir aus den Augen, du Ratte.‘ Das war der zweite Messerstich für mich“, sagt er. Zint schüttelt den Kopf. „Ich hab gesagt: ‚Dir kann ich nur noch in’ Arsch treten‘; da war ich noch so was von sauer und fertig.“ Beide schweigen.
Im Januar dieses Jahres erscheint die Geschichte von Uwes Firma bei Hinz&Kunzt – der Einbruch wird nicht erwähnt. Zint ruft in der Redaktion an, berichtet entsprechend aufgebracht, was vor knapp 20 Jahren passiert ist: „Ich hätte ihm ja den Gerichtsvollzieher auf den Hals schicken können, aber ich wollte ihm nun auch nicht seine Firma kaputt machen.“
Uwe versucht, mit Zint Kontakt aufzunehmen, ruft ihn an, aber Zint legt immer wieder auf. „Nicht auflegen, nicht auflegen, nicht auflegen!“, flehte er zuletzt. Bei der Feier für den verstorbenen Kiez-Maler Erwin Ross Ende März sitzen die beiden unter den vielen Trauergästen zum ersten Mal länger an einem Tisch. Und halten es aus.
Uwe hat dann eine Idee: Er könnte Fördermitglied beim Verein des Sankt Pauli Museums werden. Könnte wenigstens versuchen, symbolisch den angerichteten Schaden wieder gutzumachen. Zint zögert – und willigt schließlich ein.
Dass Panfoto den Einbruch damals überhaupt überstanden hat, ist der Unterstützung zu verdanken, die Zint erfährt: Keiner seiner Mitarbeiter kündigt. Zugleich erscheint ein Spendenaufruf in der Taz und dem medizinkritischen Magazin Dr. Mabuse: „In der ersten Woche kamen allein 12.000 Mark zusammen; insgesamt wurden es mehr als 35.000 Mark. Wir konnten uns davon neue Computer kaufen und neue Kameras; eben alles, was wir brauchten“, erzählt Zint. „Ich weiß nicht, ob es diesen Zusammenhalt heute noch gibt.“
Und – hat er Uwe verziehen? Günter Zint atmet einmal heftig aus: „Diese Frage habe ich befürchtet.“ Er macht eine lange Pause. „Ehrlich – ich weiß es nicht“, sagt er schließlich: „Ich bitte da noch um eine Frist.“ Uwe Wichmann meint: „Ich kann den finanziellen Schaden nicht ungeschehen machen; aber ich kann versuchen, den emotionalen Schaden wieder gutzumachen.“ Und: „Ich möchte nicht, dass Günter, wenn er Fotos von früher sieht, immer wieder denkt: das Arschloch.“ Zint muss kurz schmunzeln: „Normalerweise gibt es bei uns Menschen einen wunderbaren Mechanismus im Gehirn, der unangenehme Dinge so langsam verschwinden lässt. Wenn du aber Fotograf bist, wenn du dann im Archiv wühlst – dann macht es hin und wieder: Bäng!“
Er wird wieder ernst, atmet noch einmal tief aus, sagt dann: „Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient; bei Uwe dürfte es die vierte sein. Aber ich freue mich, dass er heute clean ist. Ich wünsch mir, dass er diese Chance nutzt und dass er es schafft.“
Draußen beim Fotografieren stehen sie wie selbstverständlich nebeneinander. Sie fachsimpeln über Kameras, es geht zurück ins Museum, sie schauen sich Fotos an. Auch Uwe hat Bilder mitgebracht: darunter ein Kinderfoto – ein kleines Mädchen mit einer Strickmütze und einem Ast in der Hand.
Uwe schiebt das Bild Zint zu. „Weißt du noch?“, fragt er. „Ist das Lena?“, fragt Zint zurück. „Ja“, sagt Wichmann, „das muss im Niendorfer Gehege sein.“ Weitere Namen purzeln; viele, über die sie kurz sprechen, sind nicht mehr am Leben. „Aber wir leben noch“, sagt Günter Zint.

Text: Frank Keil
Foto: Mauricio Bustamante

Wahre Geschichten

Bruno Schrep erzählt von Schicksalen, die zu schlimm sind, um erfunden zu sein. Vier Bücher mit seinen Sozialreportagen sind bereits erschienen.

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

„Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, prophezeit munter der Zivildienstleistende, der Herrn Lipowschek  in den Krankenwagen hievt. „Davor habe ich Angst“, entgegnet der 86-Jährige. Er zieht heute ins Altersheim.
Autor Bruno Schrep begleitet Herrn Lipowschek. Er ist am Tag des Umzugs dabei, hat ihn vorher in seiner Wohnung besucht und wird ihn später im Heim treffen, wo der alte Mann es „viel schlimmer als befürchtet“ findet, obwohl es objektiv dort viel besser für ihn ist.

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(Foto: Benne Ochs)

Schreps Artikel „Die letzte Station“ erschien 2005 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel und bei Hinz&Kunzt. Herrn Lipowschecks Geschichte und 19 weitere seiner Spiegel-Reportagen hat Schrep 2009 im Sammelband „Nebenan“ veröffentlicht. Die Geschichte vom Umzug ins Altenheim ist die, die Schrep „am meisten beeindruckte“.
Dabei drehen sich andere Erzählungen dieses Bandes um durchaus drastischere Ereignisse: Da ist die 76-jährige Anna D., die ihre schwerst behinderte Tochter nach 52 Jahren Pflege erstickt. Da sind Martina und Elisabeth, die acht- und sechsjährig den Tod ihres Vaters mit ansehen müssen. Und da ist Arne Buckenauer, der – einst erfolgreicher Macher – durch alle sozialen Netze fällt und einsam in einem Zelt stirbt.
Alle Geschichten verbindet für Bruno Schrep, „dass sie vor unseren Augen passieren, eben nebenan“. Der Autor stellt anhand von Einzelschicksalen aktuelle soziale Themen dar und kann für jede seiner Geschichten ein Stichwort nennen: Alter, Sterbehilfe, Vernachlässigung von Kindern, sozialer Abstieg.
Jede Erzählung ist so besonders wie bezeichnend, „im persönlichen Schicksal einzigartig, dabei typisch für eine gesellschaftliche Entwicklung“, so Schrep. Seit 1980 schreibt der gelernte Bankkaufmann für den Spiegel. Für seine Bücher hat der 64-Jährige Artikel aktualisiert und weiter ausgeführt. Anstoß zu den Veröffentlichungen gaben stets Verlage. „Ich freue mich über die Anerkennung“, sagt Schrep. „Ich nehme das als Bestätigung und als Ansporn.“
Wie er selbst zu den Problematiken steht, die er aufzeigt,  lässt Schrep in den Büchern nur dezent durchblicken: „Der Leser soll eine Haltung entwickeln und nicht vorgekaut bekommen, was er für eine zu haben hat.“ Leichter gesagt als getan, denn nicht nur gehen die Schicksale dem Leser gehörig an die Nieren, auch dürfte den meisten ihre Einordnung schwer fallen. Denn Schrep ist kein Schwarz-Weiß-Maler. Hier Opfer, dort Täter, hier Problem, dort Lösung – das gibt es für ihn nicht. „Für mich liegt der Reiz einer Geschichte auch in der Möglichkeit, Vorurteile zu überprüfen und zu hinterfragen.“ Im Klappentext von „Nebenan“ heißt es über Schreps Schilderungen, sie seien karg, nie würde Sentiment ausgestellt. Da widerspricht der Autor: „Unsentimental ist es nicht. Aber es ist doch so: Die Realität ist erschütternder als jede Phrase darüber, wie schrecklich alles ist.“

Beatrice Blank

Lesen Sie weiter!

„Die letzte Station“– Schwerer Abschied: der Umzug vom eigenen Zuhause ins Altersheim. SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep und Fotograf Jörg Modrow begleiteten zwei Hamburger auf ihrem Weg (erschienen in Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)
und
Aufopfern als Lebensinhalt
– „Spiegel“-Reporter Bruno Schrep u ber eine 76-jährige Mutter, die 52 Jahre lang ihre schwerbehinderte Tochter pflegte – und sie dann tötete (erschienen in Hinz&Kunzt 194/April 2009)

Film, Fön und Fantasie

Gleb Lenz betreibt einen kleinen Frisiersalon in Altona. Daneben beschäftigen ihn menschliche Schicksale, Einsamkeit, Liebe, Träume. So kommt es, dass der Friseur, während er Haare schneidet und Dauerwellen legt, seinen Kunden Geschichten erzählt. Eine davon will er sogar verfilmen. Wie das geht, weiß er: Mit seiner blühenden Fantasie hat es Gleb Lenz schließlich geschafft, Pro­tagonist eines Dokumentarfilms zu werden, der auf der Berlinale zu sehen war.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Neulich ging Gleb Lenz über einen roten Teppich. Gab Interviews, genoss den Applaus. In Berlin war das, bei der Berlinale. Gleb Lenz war dort als Hauptperson in dem Dokumentarfilm „Glebs Film“ zu sehen. Gezeigt wird darin, wie er in seinem Frisiersalon Haare schneidet, Locken legt, Augenbrauen färbt und dabei mit seinen Kunden über seine Filmidee spricht: einen Spielfilm über einen nicht mehr ganz jungen Mann, der stundenlang in zerrissenen Hosen auf der Straße steht; der arbeitslos und obdachlos ist und dem Herr Lenz eines Tages die wirren Haare schneidet. „Für mich heißt dieser Mann – Florian“, sagt Herr Lenz.
Lenz„Der Film, kann man schon sagen, war ein kleiner Erfolg“, erzählt er weiter. „Aber viele haben mich hinterher gefragt: Und? Machen Sie diesen Film über diesen Florian jetzt wirklich?“ Ja, das hat er vor. So, wie er auch weiter mit seinen Kunden über seine Filmidee plaudert.
„Ach, die Geschichte schon wieder; ich kann die nicht mehr hören“, stöhnt denn auch Frau Niemann. Frau Niemann sitzt im Frisierstuhl, ihre Haare verschwinden unter einer Trockenhaube. Frau Niemann kommt wie viele aus der Nachbarschaft. Sie erhält heute eine Dauerwelle. Das dauert.
„Sind Sie manchmal depressiv?“, fragt er sie. „Kommt drauf an“, antwortet Frau Niemann. Herr Lenz nickt: „Hat ja jeder mal. Man will auf das Dach steigen und …“
Gerade hat er in der Zeitung gelesen, dass sich jeden Tag drei Menschen vor einen Zug werfen, im Durchschnitt.
„Drei!“, sagt Herr Lenz. „Aber warum machen die das?“
„Weil sie es satt haben. Da hat man seine Ruhe …“, erklärt Frau Niemann.
Das will Herr Lenz nicht gelten lassen: „Es gibt aber auch schöne Sachen im Leben. Wenn man verliebt ist …“
„Ja, aber das dicke Ende kommt auch“, lacht Frau Niemann.
„Ahhhh“, macht Herr Lenz, wie er es immer macht, wenn ihn etwas sehr erstaunt. Dann fragt er: „Was meinen Sie mit ‚das dicke Ende‘?“
„Na, bleiben Sie ewig verliebt? Der Alltag …“
„Ich weiß, aber diese Droge für kurze Zeit ist ja da, dieses Verliebtsein …“ – Herr Lenz schaut beseelt an die Decke.
„Das Verliebtsein dauert vielleicht ein halbes Jahr. Aber eine Ehe dauert vielleicht 50 Jahre!“, sagt Frau Niemann. Sie hebt den Zeigefinger: „Unter guten Voraussetzungen!“
Herr Lenz nickt versonnen.
„Ach, man muss abwägen, generell“, spricht Frau Niemann weiter: „Ist das Leben gut – dann kann ich ja leben, ist es nur Mist – dann kann ich mich aufhängen.“
Herr Lenz schweigt. Er bestreicht ihr Haar mit einer weißen Tinktur, stellt den Wecker. Zehn Minuten muss die Tinktur jetzt einziehen.
Jedenfalls der Film: Es gibt in dem Film nicht nur Florian in seiner zerrissenen Hose. Es gibt auch Claudia. Claudia hat lange bei ihrer Mutter gelebt, ist einsam und arbeitslos wie Florian. Und Claudia ist ein wenig dicker: „So 140 Kilo“, sagt Herr Lenz: „90, das wäre zu wenig, das ist ja fast normal. 200 wäre wieder zu viel.“ Und wie nun Florian, in der zerrissenen Hose, wie er auf der Straße steht, und die einsame, arbeitslose Claudia zueinanderfinden, davon soll sein Film handeln.
„Ein bisschen Action, aber auch Liebe, dazu Nahaufnahmen: Aus all diesen Zutaten soll mein Film bestehen – wie ein Gericht“, sagt Herr Lenz. „Es soll nicht ganz oberflächlich werden, eine philosophische Note soll auch sein. Eine Szene wird auch in Afghanistan spielen“, sagt Herr Lenz. Weil doch Florian als Polizist in Afghanistan war. Und da hat er einiges erleben müssen, weshalb er heute stundenlang auf der Straße steht, in zerrissenen Hosen.
Noch etwas ist ihm wichtig: „Es soll in dem Film auch etwas über heutige Mode erzählt werden. Es geht darum, die Mode ist nicht nur für dünne Frauen gedacht, sondern auch für etwas korpulentere Frauen. Es wäre ja auch diskriminierend, wenn es nur Mode für ganz dünne Frauen gäbe.“ Wie bestellt, klingelt der Wecker. Herr Lenz löst die Lockenwickler, einen nach dem anderen.
Herr Lenz kommt ursprünglich aus Minsk, Weißrussland. 1991 verschlägt es ihn nach Hamburg. Die Stadt gefällt ihm sofort. Er lernt hier auch seine Frau kennen, die ihrerseits aus Kasachstan kommt, eine Deutschstämmige. Deshalb heißt er auch Lenz: „Ich hab den Führungsnamen meiner Frau angenommen“, erzählt er: „Was sollen sich unsere Kinder auch hier in Deutschland mit einem russischen Nachnamen rumplagen.“ Integration mal ganz praktisch.
Herr Lenz liebt das Theater. Er möchte Maskenbildner werden. Dazu muss man vorher eine Friseurlehre machen. Er macht auch noch die Meisterschule, übernimmt dann vor gut zehn Jahren einen Friseursalon in Altona. „Ich bin sehr zufrieden mit diesem Beruf“, sagt er, „aber man möchte im Leben noch eine zweite Karriere haben.“
Der letzte Lockenwickler ist entfernt. Er wäscht Frau Niemann das Haar. „Die Claudia“, beginnt er wieder, „die Claudia in meinem Film, die macht auf Natur; die will naturbelassen bleiben.“ Er spült das Haar aus, trocknet vorsichtig Frau Niemanns Haar ab. „Das Einzige was wir chemisch bei Ihnen machen, ist die Dauerwelle. Alles andere ist Natur.“
Dann – wieder so ein Einfall! Er schließt kurz die Augen, legt los: „Ich habe eine Kundin, die ist so alt wie Sie, Frau Niemann. Die ist noch dicker. Die ist ein bisschen unglücklich in ihrem Leben. Lebt allein, Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie hat vor Kurzem noch gearbeitet, weil die Rente doch nicht so ausreichend war.“
Herr Lenz ist fertig mit dem Abtrocknen. „Auf jeden Fall hat sie ein Bein gebrochen – und dadurch war sie noch unglücklicher, die Stimme war nicht mehr so fröhlich. Aber sie hatte noch diesen Job – Telefonsex war das praktisch. Ja, sie hat in ihrem Alter das noch gemacht. Warum? Weil von zu Hause aus kann man das machen; man muss nicht wohin gehen. Aber dadurch, dass ihre Stimme so unglücklich wurde, hat man sie dann gekündigt. Und sie war dann dadurch noch mehr unglücklicher.“
Herr Lenz betrachtet Frau Niemanns Haare. „Aber nun kommt’s: Sie hat so ähnliches Haar wie Sie. Aber sie wollte anders sein. Und sie hat sich Perücken gekauft; verschiedene: lange und kurze – und das ist eben der Punkt, das wollte ich Ihnen sagen: Haben Sie schon mal eine Perücke besessen? Nein? – Weil Sie ein Naturmensch sind!“
Und die beiden prusten laut los. „Doch, doch, das ist wahr“, sagt er, als sie fertig gelacht haben. „Ach, Herr Lenz, sie tüdeln doch“, sagt Frau Niemann und schaut vergnügt in den Spiegel.
Hat er schon eine Idee, welcher Schauspieler den Florian spielen soll? „Ich“, sagt Herr Lenz. Denn er stellt sich Folgendes vor: „Der Florian, mit seiner zerrissenen Hose, durch seinen Knick im Kopf sozusagen, sieht er alle Männer, mit denen er spricht, er sieht sein Gesicht bei denen. Er erkennt die Gesichter von denen nicht, das ist das Sonderbare bei ihm. Er sieht sich selbst in jedem, verstehen Sie?“
Von daher ist es ganz praktisch, wenn Herr Lenz den Florian spielt – und alle anderen Männer gleich mit. „Bei der Claudia geht das natürlich nicht; da muss ich mal schauen“, sagt Herr Lenz. „Auch Florians Mutter und Claudias Mutter – obwohl, ich will das meiste durch Florians Träume zeigen; wenn er sich so erinnert: damals Picknick mit der Mutter am Elbstrand; da ist ja auch Sand – wie in Afghanistan.“
Herr Lenz schneidet noch ein wenig nach. „Das kann man ruhig sehen, dass die Szene in Afghanistan nicht in Afghanistan gedreht ist“, erzählt er, „sondern an der Elbe.“ Er sagt ernst: „Am Ende wird mein Film auf dem Mars spielen.“ Auf dem Mars? „Ja, weil man doch sagt“, sagt Herr Lenz: „,Ich könnte diese ganzen Arbeitslosen auf den Mond, also auf den Mars schießen!‘“ Und er schlägt sich auf die Schenkel, lacht sein herzhaftes Lachen, die Schere in der Hand.
Es wird bestimmt ein toller Film werden. „Ja“, sagt Herr Lenz, „das glaube ich auch.“ Das Drehbuch ist fast fertig, er braucht nur noch eine Kamera, Ton, Licht. „Es soll eine Low-Budget-Produktion werden, aber ein bisschen Geld und Unterstützung bräuchte ich schon; dass es jemand gibt, der mir hilft, weil …“ Herr Lenz stoppt. Herr Lenz hat eine Idee! Herr Lenz sagt: „Vielleicht können Sie das in Ihrer Zeitung ja so schreiben, ja?“

Glebs Film, ein Dokumentarfilm von Christian Hornung, 2009. Weitere Informationen unter: www.glebsfilm.de Friseursalon Lenz, Windhukstraße 15, Telefon 880 05 01
Text: Frank Keil
Foto: Daniel Cramer

Das Hartz-IV-Tagebuch

Kann man von 351 Euro im Monat mehr als überleben? Hinz&Kunzt-Volontärin Beatrice Blank hat es im Hartz-IV-Selbstversuch probiert

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Fette Beute

Wie die Stadt zweifelhaften Vermietern Steuergelder hinterherschmeißt

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Jahrelang hat der Senat tatenlos zugeschaut, wie preiswerter Wohnraum in Hamburg knapp und knapper wird. Die Rechnung zahlen wir alle, mit unseren Steuergeldern, Monat für Monat: Weil die Stadt keine Alternativen hat, überweist sie Mondpreise für Bruchbuden, die als „Wohnungen“ an Hartz-IV-Empfänger vermietet werden. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Nachts hört sie die Ratten trappeln. Die Nager haben sich zwischen den Stockwerken eingenistet in dem Mietshaus in Ottensen, in dem Jana E. seit August vergangenen Jahres wohnt – wohnen muss, wie sie selbst sagt. Dutzende Wohnungen habe sie erfolglos besichtigt, sagt die 34-jährige Hartz-IV-Empfängerin. Schließlich landete sie „Am Sood“. Beim Einzug war die Ein-Zimmer-Wohnung frisch gestrichen, jetzt schimmeln die Wände. Die Badezimmerdecke ist nach einem Wasserschaden notdürftig ausgebessert worden, mit Spanplatten. Eine Heizung hat Jana E. nicht, nur einen Gasofen, für den sie die Gasflaschen eigenhändig in den ersten Stock schleppen muss. Immerhin reicht das Gerät aus, um die knapp 20 Quadratmeter im Winter zu wärmen.

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Foto: Benne Ochs

300 Euro Kaltmiete zahlt die Arge monatlich für die Mini-Wohnung an den Vermieter, die Rauch&Veth GbR aus Berlin. Stolze 15 Euro pro Quadratmeter sind das – noch. Denn Jana E. hat einen Staffelmietvertrag unterschrieben, nach dem sich die Kaltmiete jedes Jahr um 10 Euro erhöht.
Teils marode Unterkünfte zu völlig überzogenen Preisen, bewohnt von Hilfeempfängern, bezahlt vom Amt: Das ist als das „Geschäftsmodell Kuhlmann“ in Hamburg bekannt, seitdem Hinz&Kunzt schon im Herbst 2009 und etliche andere Medien in den vergangenen Wochen über die Kuhlmann Grundstücks GmbH berichteten. Weil die Firma des Hausbesitzers, CDU-Politikers und Rennfahrers Thorsten Kuhlmann offenbar vielfach falsche Quadratmeterangaben in die Mietverträge mit Hartz-IV-Empfängern schrieb, hat die Arge im März Strafanzeige wegen des Verdachts auf Betrug und Mietwucher gestellt.

Sollte sich die Stadt dazu entschließen, nachhaltig gegen den zweifelhaften Vermieter vorzugehen, könnte am Ende eine stattliche Summe zusammenkommen. Für 300 Hartz-IV-Bezieher überweist die Arge Mietzahlungen direkt an die Kuhlmann Grundstücks GmbH. Allein im Namen eines Hilfeempfängers fordert der Mieterverein 5443,74 Euro zurück. Sollte der Vermieter bis Ende März nicht gezahlt haben, wollen die Mieterschützer das zu viel überwiesene  Geld per Klage zurückholen.
Kuhlmann ist aber kein Einzelfall: Es geht um Millionen Euro Steuergelder, die seit Jahren in die Taschen fragwürdiger Vermieter fließen. Dass das mit Wissen und Billigung der Stadt geschieht, legt das Beispiel eines ehemaligen Studentenwohnheims an der Ifflandstraße in Hohenfelde nahe.
Schon 2002 berichteten das Hamburger Abendblatt und Hinz&Kunzt über René D. Zerbe, der bevorzugt an Hilfeempfänger vermietet. Kein Wunder: 287 Euro kalt kassierte seine „Bau-Service-Verwaltung“ schon damals Monat für Monat vom Amt für rund 14 Quadratmeter kleine „City-Appartements“. Die Sozialbehörde kündigte an, das Problem „strukturell“ zu lösen. Tatsächlich unternahm sie nichts.

Fast acht Jahre später bescheren Hilfeempfänger dem Vermieter weiterhin gute Einkünfte. Die Behörde will erneut von nichts gewusst haben: Auf Nachfrage von Hinz&Kunzt erklärt sie Mitte März, der Fall und das Haus seien ihr „nicht bekannt“. Just in diesen Tagen klingeln Mitarbeiter der Arge (angeblich in „enger Abstimmung“ mit der Sozialbehörde) an den Türen der Bewohner, messen Wohnungen aus und sammeln Verträge ein. Ob die dabei gewonnenen Erkenntnisse an die Staatsanwaltschaft übermittelt wurden, wollte Arge-Sprecher Horst Weise nicht verraten: „Wir wollen nicht die Wölfe scheu machen!“

Rückblende: September 2009. Eine Hinz&Kunzt-Verkäuferin kommt in die Redaktion und berichtet von der „Wohnung“, in der sie mit ihrer Freundin und deren Tochter wohnt: ein feuchter Keller am Roßberg in Eilbek, der gar nicht als Wohnung vermietet werden darf. Die im Mietvertrag angegebene Größe: „ca. 70 Quadratmeter“. Hingegen die tatsächliche Größe: 56 Quadratmeter. Die Miete: 720 Euro warm. Der Vermieter: die Kuhlmann Grundstücks GmbH.

Hinz&Kunzt fragt nach. Hört sich bei den Bewohnern des Hauses am Roßberg, fast ausschließlich Hartz-IV-Empfänger, um. Vernimmt Klagen, vermisst einige Wohnungen. Und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen: Wohnungen, die laut Mietvertrag 40 Quadratmeter groß sein sollen, messen tatsächlich nur 21. Der Effekt: Die Kuhlmann Grundstücks GmbH bekommt deutlich mehr Geld als angemessen von der Arge, die die Mieten bezahlt. Die Behörde spielt die Hinz&Kunzt-Recherchen herunter, spricht von „Einzelfällen“ und sieht keinen Anlass, gegen den Vermieter vorzugehen (siehe H&K Nr. 200 und 201).
Das ändert sich erst, als der Fall bundesweit Aufmerksamkeit erregt. Im Februar berichtet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel über das Haus am Roßberg und Kuhlmann. Und in der Folge die Hamburger Morgenpost und mehrere TV-Sender. Was vorher angeblich unmöglich war, macht nun der Pressesprecher der Arge vor laufender Kamera: Die Behörde misst „verdächtige“ Wohnungen aus. Elf Mieter treffen die Amtsmitarbeiter zum Beispiel am Roßberg an. Elf Mal stimmen Mietvertrag und Realität nicht überein.

Dass Kuhlmann und Co. mit ihrem Geschäftsmodell Erfolg haben, hat vor allem einen Grund: Es fehlen Wohnungen für diejenigen, die kaum einer als Mieter haben will. „Wir wüssten nicht, wohin wir die Menschen sonst schicken sollten“, sagt ein Helfer, der die Kuhlmann Grundstücks GmbH mit Kundschaft versorgt. Er will ungenannt bleiben, aus Angst, der Hartz-IV-Vermieter könnte die Zusammenarbeit beenden. „Keine Frage, die Wohnungen sind nicht in gutem Zustand“, sagt er. „Aber die Menschen sind froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.“
Die Arge ließ wissen, ihre Mitarbeiter würden von den Hilfeempfängern oftmals nicht in die Wohnung gelassen. Siegmund Chychla vom Mieterverein hat eine Erklärung: „Der Hartz-IV-Bezieher ist am Ende oft der Dumme.“ Zwar zahlt die Arge Betroffenen die Beiträge für den Mieterverein, damit dieser zu viel gezahlte Gelder eintreiben kann. Doch den Ärger haben im Zweifelsfall die Hilfeempfänger. Viele fürchten den Rausschmiss – auch wenn der rechtlich gar nicht möglich ist. „Wo soll ich dann wohnen?“, sagt ein Kuhlmann-Mieter zu Hinz&Kunzt stellvertretend für viele. „Ich hab ein Jahr nach dieser Wohnung gesucht, vorher auf der Straße gelebt!“ Die Vermieter Kuhlmann, Zerbe und Rauch&Veth GbR ließen Fragen von Hinz&Kunzt bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche der Kuhlmann Grundstücks GmbH. Und die Sozialbehörde prüft, inwieweit Hilfeempfänger ihre etwaigen Mietminderungs- und Rückzahlungsansprüche an die Arge abtreten könnten. Aber warum die Stadt keine bezahlbaren Wohnungen baut, obwohl das Problem der Wuchermieten bei Hartz-IV-Empfängern seit Jahren bekannt ist, erklärte sie nicht.

Zahlt die Arge auch Ihrem Vermieter eine Wuchermiete? Dann melden Sie sich bei uns: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de

Ulrich Jonas, Beatrice Blank

„Ohne die Tafel würde ich es nicht schaffen“

Die Idee ist nach wie vor genial: Tafeln sammeln unverkäufliche Lebensmittel und verteilen sie an Bedürftige. Das System der Spenden lindert kurzfristig die Not. Doch es sorgt auch dafür, dass sich der Staat im Kampf gegen die Armut weiter aus der Verantwortung stehlen kann, kritisiert der Soziologe Stefan Selke. Das sieht man bei der Wilhelmsburger Tafel ähnlich – ohne die Tafeln wäre die Armut aber noch größer.
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Der erste Besuch war der schwerste, daran erinnert sich Ida Zepenick* genau. „Ich hab mein ganzes Leben gearbeitet“, sagt die 79-Jährige, „und plötzlich musste ich um Lebensmittel bitten. Das war erniedrigend für mich.“ Die Rentnerin steht zwischen den fünfzig anderen, die an diesem Dienstag geduldig an der Ausgabe der Wilhelmsburger Tafel anstehen. Wie die meisten hier möchte sie ihren Namen nicht in einer Zeitung lesen, auf keinen Fall fotografiert werden. Aus Scham. Der Gang zur Tafel kostet sie noch immer Überwindung. „Aber ich bekomme nur 700 Euro Rente, davon muss ich alles bezahlen“, sagt sie. Trotz ihrer Sparsamkeit sei das fast unmöglich: „Ohne die Tafel würde ich es nicht schaffen.“
Von solchen Sorgen hört Uwe Menzel täglich. Der gelernte Versicherungskaufmann ist seit Oktober 2009 Projektleiter der Wilhelmsburger Tafel, die im Alten Deichhaus am Stübenplatz und an drei Außenstellen Lebensmittel ausgibt. Woche für Woche werden so mehr als 500 Menschen mit dem Nötigsten zum Leben versorgt. Die Tafel wird seit 1994 von der Arbeitsloseninitiative Wilhelmsburg organisiert, die Arbeit vor Ort leisten Ein-Euro-Jobber und Ehrenamtliche. Der Ablauf ist wie bei den meisten Tafeln: Mit Lkws holen die Mitarbeiter Lebensmittel von Supermärkten oder Großhändlern ab, dann werden sie portioniert und verteilt.
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„Seit es Hartz IV gibt, hat sich unsere Kundschaft verändert“, sagt Menzel. „Anfangs hatten wir hier vor allem Migranten, heute kommen Menschen aus allen Schichten zu uns.“ Und die Kunden kommen nicht nur wegen der Lebensmittel: Die Tafel bietet ein günstiges Mittagessen an, zweimal die Woche gibt es eine Sozialberatung. Hier ist ein Treffpunkt, wo es Rat und Austausch gibt. Von dem herzlichen Miteinander profitieren auch die Mitarbeiter. „Unseren Ein-Euro-Jobbern tut es gut, wenn sie wieder eine Aufgabe haben“, weiß Menzel, „viele fühlen sich so wohl, dass sie nach Ablauf ihres Jobs als Ehrenamtliche weitermachen.“
Um 13 Uhr beginnt auf der Rückseite des Alten Deichhauses die Ausgabe. Im Keller liegen die Lebensmittel schon bereit: Brot und Kartoffelsalat, Brokkoli und Tomaten. Jessica Böttcher zieht sich ihre Plastikhandschuhe an. Die 28-jährige Harburgerin bezieht seit drei Jahren Hartz IV und kam auf eigene Initiative als Ein-Euro-Jobberin zur Tafel. Ihre Ausbildung musste sie wegen einer komplizierten Schwangerschaft abbrechen. „Ich arbeite gern hier“, sagt sie, „das Arbeitsklima ist super, wir sind ein tolles Team. Und ich habe eine sinnvolle Aufgabe, ich kann den Bedürftigen wirklich helfen, die haben oft noch weniger als ich.“

Obwohl die Tafeln für ihre Kunden unersetzlich sind, sind sie in den letzten Jahren in die Kritik geraten. Der Soziologe Stefan Selke befürchtet etwa, die Tafeln würden durch ihre Zuverlässigkeit dem Staat die Möglichkeit geben, seine Sozialleistungen weiter zu kürzen. Durch den Boom der Tafeln drohe in Vergessenheit zu geraten, dass ihre Notwendigkeit eigentlich ein Skandal sei (siehe Seite 9). Dieser Kritik stimmt Uwe Menzel im Grundsatz zu. „Der Staat verlässt sich ganz klar auf gemeinnützige Projekte wie die Tafeln“, sagt er. Immer wieder würden Hartz-IV-Empfänger von der Arge zur Wilhelmsburger Tafel geschickt mit dem Hinweis, dort werde man auch mit gekürzten Bezügen satt. „Letztlich können wir von den Tafeln die Armut nicht wirklich bekämpfen“, sagt Menzel. „Wenn diese Gesellschaft den Reichtum anständig verteilen würde, bräuchte es uns nicht zu geben.“
Während Jessica Böttcher und ihre Kolleginnen im Alten Deichhaus die ersten Lebensmittel ausgeben und jeden Kunden mit einem Lächeln begrüßen, steht hinten in der Schlange der Kunden Martin Siemers* und sieht sich nervös um. In seinem Wintermantel, Anzughose, Hemd und Schlips sieht er aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann. „Ich bin das erste Mal hier“, sagt er leise, „Mann, ist mir das unangenehm.“ Der 32-Jährige hat Informatik studiert und sich gerade als Finanzdienstleister selbstständig gemacht. „Die Ausbildung war teuer, die Gewerbeerlaubnis auch, ich muss die Miete für mein Büro bezahlen“, erzählt er. Er steckt jeden Euro in seine Firma, schränkt sich selbst ein. „Aber trotzdem komme ich nicht über die Runden“, sagt er, „darum stehe ich hier.“ Auch wenn es ihm unangenehm ist, schämt er sich nicht, die Lebensmittel anzunehmen: „In der HSH Nordbank wurden gerade Milliarden verpfeffert, die Manager da sollten sich schämen, nicht die armen Leute hier.“

* Name geändert

Was Tafeln leisten können – und was nicht

01HK206_Titel.inddTafelarbeit allein ist keine Armutsbekämpfung, kritisiert der Soziologe Stefan Selke. In Hinz&Kunzt erklärt er, warum die Tafeln aufpassen müssen, dass ihre Zuverlässigkeit nicht vom Staat ausgenutzt wird.

In Zeiten steigender Armut und sinkender sozialstaatlicher Leistungen kommt der Verdacht auf, dass das „System Tafel“ nur ein Symptom sozialer Versäumnisse ist und das Engagement der Tafelhelfer die Einschnitte lediglich abfedert, ohne die Armut nachhaltig zu bekämpfen. Der eigentliche Skandal aber ist die Tatsache, dass durch die Verlässlichkeit der Tafeln immer weniger über Alternativen der Armutsbekämpfung nachgedacht wird. Wie kam es dazu?
Die ursprüngliche Idee der Umverteilung von Überfluss wandelte sich bei den Tafeln zur Prämisse, das Fehlende zu ersetzen. Jetzt etablieren sich Tafeln als Regelangebot in der Armutsversorgung. Sie erschaffen eigene Märkte und parallele gesellschaftliche Strukturen. Die Tafelbewegung ist Ausdruck privater Mildtätigkeit und ersetzt schleichend lang erkämpfte Bürgerrechte. Ihre Entwicklung zeigt beispielhaft, wie Leistungen der Existenzsicherung zunehmend durch Privatpersonen statt vom Staat übernommen werden.
Was Tafeln leisten können, ist erfolgreiche Armutsbewältigung, nicht aber nachhaltige Armutsbekämpfung. Tafeln sind ein Freiwilligensystem, das jederzeit wieder verschwinden kann. Das ist der Unterschied zwischen einem privaten Almosensystem und rechtsstaatlicher Absicherung. Dem Sozialstaatsgedanken liegt die Überzeugung und die Garantie zugrunde, dass jedem Bürger die Teilhabe an materiellen und geistigen Gütern ermöglicht werden soll, damit alle ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Selbstachtung führen können. Das kann von den Tafeln nicht garantiert werden.
Die Hilfe, die bei Tafeln geleistet wird, kann deshalb im engeren Sinne niemals solidarisch sein. Solidarität ist eine Haltung der gegenseitigen Verbundenheit und Unterstützung zwischen gleichgestellten oder gleichgesinnten Personen. Bei Tafeln begegnen sich aber meist Personen mit unterschiedlicher sozialer Stellung. Die Begegnungen sind nicht symmetrisch: Die unterschiedlichen Gesten des Gebens und des Nehmens sind verbunden mit Macht- und Demutserfahrungen. Als pragmatische Hilfseinrichtungen greifen Tafeln erkennbar vor Ort ein. Das ist wichtig und für viele Bedürftige unverzichtbar. Immer aber besteht die Gefahr, dass die Hilfe zum Selbstzweck für die Helfenden wird und die eigentlichen Adressaten aus dem Blick verliert. Die Hilfe bei Tafeln wird dann eine Art „Solidarität mit Pay-back-Funktion“ für die Helfenden.

Prof. Dr. Stefan Selke lehrt Soziologie an der Hochschule Furtwangen University und ist als Autor und Publizist tätig. Er hat das Onlineportal www.tafelforum.de initiiert.

Hilft viel, braucht wenig Platz: Eine Box zum Überwintern

Das Diakonische Werk sucht Kirchengemeinden, die in der kalten Jahreszeit Wohncontainer für Obdachlose bereitstellen.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

Heiß begehrt: Die 87 Schlafplätze in Wohncontainern, die es im vergangenen Winter im Hamburger Notprogramm für Obdachlose gab, waren ruck, zuck besetzt. Kein Wunder: Sie bieten nicht nur eine trockene und warme Bleibe in den kältesten sechs Monaten des Jahres, sondern auch eine Chance, sich ein wenig zu erholen und neue Kraft zu sammeln.

„Wir sind doch keine Affen im Zoo!“

Unter der Kersten-Miles-Brücke am Bismarck-Park wohnt seit Monaten eine Gruppe junger obdachloser Punks. Die Bild-Zeitung machte im März lautstark Stimmung gegen sie und warf ihnen vor, Touristen abzuschrecken und den Park zu vermüllen. Auch der Bezirk Mitte möchte die Punks möglichst schnell von der Straße kriegen. Wir haben die jungen Leute kennengelernt und uns selbst ein Bild gemacht.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)

„Das war das Beste, was uns passieren konnte.“

Auch die „Holstenpunx“ waren obdachlos, bevor sie im Sommer 2008 in zwei leer stehende Häuser in Bahrenfeld einzogen. Seitdem schauen sie nach vorne, beginnen Ausbildungen und pflanzen Apfelbäume. Und sie wollen um ihr Zuhause kämpfen. Denn weil der ­Häuserkomplex von der Stadt verkauft wurde, steht das Projekt vor dem Aus.
(aus Hinz&Kunzt 207/Mai 2010)