„Wer nicht kämpft, hat schon verloren“

Seit drei Monaten Hinz&Künztler: Kay Blutbacher

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

„Sind wir schon geräumt worden?“ Kay Blutbacher kriecht ziemlich verpennt aus seinem Schlafsack. Seit Mitte Dezember kampiert der 27-Jährige im Altonaer Gählerpark – auf einem ziemlich hohen Baum. Er und die anderen Aktivisten der Umweltschutzorganisation Robin Wood wollen 397 Bäume im Stadtteil retten. Die sollen abgeholzt werden, damit Energiekonzern Vattenfall eine Fernwärmeleitung für das Kohlekraftwerk Moorburg baut.

Walter Giller und Nadja Tiller: Gegen die sehen wir alt aus

Alt werden ist nichts für Feiglinge, miteinander alt werden schon gar nicht. Das wird im Gespräch mit Schauspieler Walter Giller deutlich. Aber er und seine Frau Nadja Tiller nehmen’ s mit viel Humor. In der Filmkomödie „Dinosaurier“ zeigt das Paar, dass die Schwächen des Alters auch Stärken sein können.

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

Dringend gesucht: Eine Vision für die ganze Stadt

Es könnte mehr gegen die soziale Spaltung in Hamburg getan werden. Der Senat setzt aber weiterhin auf
Wirtschaftswachstum und „kreative Viertel“. So droht die soziale Frage trotz eines neuen Stadtteil-Programms wieder aus dem Blick zu geraten.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

Hamburg ist eine gespaltene Stadt. Angesagte Szene-Stadtteile in zentraler Lage liegen auf der einen Seite des Grabens, Wohngebiete mit Betonklötzen und verschärften sozialen Problemen auf der anderen. Nein, neu ist diese Erkenntnis wirklich nicht. Neu ist aber, dass soziale Fragen derzeit so heftig diskutiert werden. Dazu haben die politischen Protest-Initiativen mit ihrem gemeinsamen Slogan „Recht auf Stadt“ beigetragen, aber auch die Künstler, die im Gängeviertel einen viel beachteten Etappensieg errungen haben.
Allerdings stehen „Kreative“ in der Wirtschaft und Politik sowieso auf der Liste der Gruppen, deren Förderung sich rechnet. Metropolen brauchen kreative Nischen für den internationalen Wettbewerb, davon sind die Stadtplaner schon länger überzeugt. Aber was ist mit den wirklich Benachteiligten, mit Alten, Migranten und Hartz-IV-Empfängern?
Mehr Öffentlichkeit für diese Menschen fordern die Wissenschaftler und Experten aus der Praxis, die auf der Konferenz „Hamburg – Eine Stadt für alle!“ gemeinsam die soziale Spaltung diskutiert haben. „Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass die Stadt in arme und reiche Viertel zerfällt. Wir wollen soziale Teilhabe und mehr Gerechtigkeit“, fasste Mitorganisator Jörg Herrmann, Leiter der Evangelischen Akademie der Nordelbischen Kirche, die Ziele der Teilnehmer zusammen.
Die wichtigste Erkenntnis: Obwohl es Hamburg wirtschaftlich relativ gut geht, verhärtet sich die soziale Spaltung. Professor Jürgen Oßenbrügge, Stadtforscher an der Uni Hamburg, kann das empirisch belegen. So werden nach seinen Daten ältere Menschen, Arme und Migranten durch steigende Mieten an den Stadtrand gedrängt – diese Dynamik entsteht durch die Aufwertung „kreativer Viertel“. Und wer in einem „Problemstadtteil“ wohnt, hat oft allein deshalb Probleme. Ein Bewerbungsgespräch endet manchmal schon, wenn man erzählt, wo man aufgewachsen ist. Dieses Negativ-Image des eigenen Wohnortes ist demotivierend. „So entstehen räumliche Fallen, die Probleme weiter verstärken“, so Oßenbrügge.
Die Ursachen der sozialen Spaltung, weiß Oßenbrügge, sind letztlich europaweit gleich: der Niedergang der Industrie seit Ende der 70er-Jahre, prekäre Arbeitsverträge, Niedriglöhne, der Umbau des Sozialstaats. Die langfristigen Trends werden aktuell durch die Wirtschaftskrise verstärkt. Aber Hamburg könne trotzdem weit mehr für benachteiligte Stadtteile tun. „Das Problem ist, dass es kaum Möglichkeiten oder Treffpunkte in diesen Quartieren gibt“, sagt der Stadtgeograf, „dort ist es einfach zu langweilig.“ Daher brauche es vor Ort mehr Bildungs- und Kulturförderung, auch in Zeiten leerer Staatskassen. „Wenn wir einerseits viel Geld und Energie in die Elbphilharmonie stecken und andererseits zu wenig für die Problemquartiere tun, dann stellt sich bald die Frage, wie viel soziale Spaltung Hamburg vertragen kann.“
Der schwarz-grüne Senat hat diese Spaltung durchaus im Blick. Im Juli 2009 wurde das „Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung“ (RISE) aus der Taufe gehoben. Es soll mit 30 Millionen Euro Förderprojekte bündeln und es setzt auf Bürgerbeteiligung und lokale Initiativen. Professor Oßenbrügge erwartet von RISE dennoch keine wirklichen Lösungen. Die sozialen Prob­leme würden wieder nur in den Problemquartieren bearbeitet, es fehle eine echte Vision. „Der Senat legt exakt fest, wie stark der Hamburger CO2-Ausstoß bis 2020 reduziert werden soll. Dann soll man auch Ziele im sozialen Bereich definieren, zum Beispiel, wie viele Kinder aus benachteiligten Stadtteilen 2020 Abitur machen sollen.“ Er befürchte, dass der Senat die soziale Spaltung eher verwalten als bekämpfen wolle.
Diese Befürchtung wird von vielen Konferenzteilnehmern geteilt. Aber sie haben konkrete politische Vorschläge, was zur Lösung der sozialen Frage in der Stadt getan werden könnte. Es sind Vorschläge, die anderswo bereits umgesetzt wurden. Der Geschäftsführer von „Stattbau Hamburg GmbH“, Tobias Behrens, stellt klar: „Es gibt wirksame Instrumente, mit denen man auf die Luxusbremse treten könnte. Dass Mieten steigen und immer mehr Mietwohnungen in Eigentum umgewandelt werden, könnte durch eine soziale Erhaltungsverordnung für ganze Stadtteile verhindert werden.“ Außerdem müsse der Verkauf von städtischem Bauland überprüft werden: „Wir müssen stärker auf soziale Aspekte achten und für Neubauten längere Mietpreisbindungen festlegen. In München geht das schließlich auch.“ Zwar plane der Senat, wieder mehr Sozialwohnungen zu bauen und weniger Grundstücke nach dem Höchstpreisverfahren zu vergeben. Ob das in der Praxis wirklich umgesetzt werde, müsse aber kritisch überprüft werden, da die Finanzbehörde weiterhin auf den höchsten Verkaufserlös schiele.
Auch für eine bessere Stadtteil-Arbeit gibt es Ideen. „RISE wiederholt alte Fehler“, sagt Professor Ingrid Breckner von der HafenCity Universität, „es geht wenig von den Problemen vor Ort aus und ist wieder für vier Jahre befristet.“ Die Lösung sozialer Probleme bräuchte einen langen Atem statt präsentierbarer Erfolge für den nächsten Wahlkampf. Die Niederlande könnten da ein Vorbild sein. „Dort hat man zuerst übliche Prob­leme definiert und dann nachgeschaut, wo sie verstärkt vorkommen“, erzählt Breckner. „Die Beamten auf nationaler und regionaler Ebene mussten Patenschaften für Stadtteile übernehmen und dann zwei Tage die Woche vor Ort sein. So verhindert man auch, dass in irgendwelchen Büros über die Köpfe der Bewohner hinweg geplant wird!“

Auf der „1. Konferenz zur sozialen Spaltung“ nahmen Anfang Februar 250 Wissenschaftler und Experten aus dem sozialen Bereich teil. Eingeladen hatte unter anderem die Evangelische Akademie der Nordelbischen Kirche und einige Fachbereiche der Hamburger Universität. Die Konferenz soll jährlich wiederholt werden.

Obdachlose im Winter

Es ist kalt: Mindestens 14 obdachlose Männer sind in diesem Winter in Deutschland schon erfroren, einer davon in Hamburg. Denn auch hier schlafen etliche bei Minusgraden draußen – wie die Hinz&Künztler Klaus und Klaus.

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

Die tiefschwarze Nacht weicht einem Dunkel- und dann einem Himmelblau, der unberührte Schnee glitzert. Am frühen Morgen ist es wunderschön an der Alster – und bitterkalt. Atemberaubend.

Der Filmemacher Jens Huckeriede

Das Ende des Schweigens: Der Filmemacher Jens Huckeriede zeichnet in seinem jüngsten Werk die Geschichte einer Villa an der Rothenbaumchaussee nach, wo bis 1938 die jüdische Familie Guggenheim wohnte – und wo sich im Keller ein geheimnisvoller Raum befindet.

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

Musiker Jan Delay: „Alles wird dem Reim untergeordnet“

Wir treffen Jan Delay im Büro seines Labels auf St. Pauli. Der Künstler sieht cool aus mit seinem Basecap und den Streetwear-Klamotten. Er ist höflich und konzentriert, obwohl er schon einen langen Interview-Tag hinter sich hat. Außerdem ist er bedrückt. Vor wenigen Tagen ist die Hamburger Graffiti- und Hip-Hop-Legende Eric im Alter von 40 Jahren von einem Zug erfasst und getötet worden. Jan Delay zeigt uns mehrere frisch gesprühte Bilder, die von Trauernden aus der Szene zum Andenken an Eric direkt um die Ecke der Agentur an Hauswände gesprüht wurden. Er möchte auch unbedingt dort fotografiert werden.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

01HK205_Titel_05.inddHinz&Kunzt: Wer war Eric?
Jan Delay: Eric war so etwas wie der „Godfather of Hamburg Hip-Hop“. Das erste ernst zu nehmende Graffiti-Piece in Hamburg ist von ihm. Es war in diversen Zeitungen und es gab sogar Postkarten davon. Nicht durch dieses Bild, sondern durch seine Aktivitäten war er der Pionier und Pate der Szene und hat sich immer aufopfernd um alle gekümmert.

H&K: Inwiefern?
Delay: Er hat in der Hafenstraße gewohnt und wann immer jemand Stress hatte zu Hause, dann konnten wir bei ihm pennen. Und er hatte einen Treffpunkt, wo wir jede Woche zusammen zeichnen, malen, auflegen und rappen konnten. Mit Eric hat Hamburg jemanden verloren, der mit ganzem Herzen dafür gesorgt hat, dass die Hamburger Kids kreativ sind und bleiben und dass die Gewalt draußen bleibt.

Behütet und gewaltfrei ist auch Jan Delay aufgewachsen. Er wird 1976 als Jan-Philipp Eißfeldt in Hamburg geboren und wächst in einem künstlerisch sehr aufgeschlossenen Elternhaus in einer Jugendstilvilla in Hamburg-Eppendorf auf. Ein Stadtteil, um den er inzwischen einen weiten Bogen macht.

H&K: Hat deine Herkunft deine Musik beeinflusst?
Delay: Als Kind fand ich es in Eppendorf schön. Ab zehn bin ich dann aber in Eimsbüttel zur Schule gegangen und habe da auch Abi gemacht. Meine ganzen Freunde waren auch in Eimsbüttel oder Winterhude. Das eklige Eppendorf habe ich erst später kennengelernt.

H&K: Was war denn so schrecklich an Eppendorf?
Delay: Während meines Zivildienstes musste ich mich tagsüber auf den Straßen von Eppendorf herumtreiben, mit den militanten, reichen Müttern, die ihre Töchter im Geländewagen von der Schule abholen und in schicken Cafés die Übernahme der nächsten Boutique planen. An dem Tag, als der Zivildienst zu Ende war, konnte ich endlich Eppendorf verlassen. Ich bin an dem Tag ausgezogen. Es gibt auch null Ausländer in Eppendorf, es ist nicht auszuhalten.

Der Rap, den Jan Delay mit zehn Jahren entdeckt, lässt ihn nicht mehr los. Mit 13 Jahren gründet er mit einem Freund ein Hip-Hop-Fanzine und taucht in die sich gerade formierende deutsche Hip-Hop-Szene ein. Später gründet er mit Freunden die Rap-Band „Absolute Beginnerz“, die große Erfolge mit deutschem Rap feiert.

H&K: Wie bist du damals eigentlich darauf gekommen, auf Deutsch zu singen? Das war zum Beginn deiner musikalischen Karriere ja eher ungewöhnlich.
Delay: Ich wusste, ich will nicht auf Englisch rappen, weil ich nicht so gut Englisch kann. Auch die, zu denen ich spreche, können kein Englisch. Martin und Dennis damals bei den Beginnern fanden das peinlich und wollten auf Englisch singen, aber die Tapes der Pioniere von Advanced Chemistry (Urväter des deutschen Rap, d. R.) haben sie überzeugt. Auf einmal war es nicht mehr peinlich. Und so wurden aus uns die Absoluten Beginner. Wir haben dann sogar Texte vom Englischen ins Deutsche übersetzt, die wir schon hatten.

Eine gute Entscheidung, denn die Band kommt groß heraus. Seit 2004 ist Jan Delay solo unterwegs und hat sich zum Superstar entwickelt. Auf der Straße erkennt ihn inzwischen beinahe jedes Kind. Musikalisch lässt er sich abseits vom Rap inspirieren: Für seine drei Solo-Alben bediente er sich bei Reggae, Soul und Funk. Im Sommer 2009 erschien „Wir Kinder vom Bahnhof Soul“.

H&K: Gibt es Themen, über die du nicht singen würdest?
Delay: Nicht direkt. Ich würde niemals etwas Politisches-Kritisches machen, wenn mir dazu keine schönen Bilder, keine schöne Geschichte, keine entertainende Sprache einfällt. Dann würde ich es lassen. Alles wird dem Reim untergeordnet, dem guten Reim. Wenn es keinen Reim zu dem Thema gibt, dann wird das Thema fallen gelassen.

H&K: Was wird dein nächstes Projekt?
Delay: Weiß ich noch nicht. Ich bin jetzt erst mal noch ein dreiviertel Jahr unterwegs und was danach kommt, darüber mache ich mir keine Sorgen. Bisher hat sich immer etwas ergeben.

H&K: Und wirtschaftlich kannst du dir eine
Pause leisten?
Delay: Ja, ich habe ein Dach über dem Kopf, um jetzt im Hinz&Kunzt-Vokabular zu reden.

Solo-Percussionistin Evelyn Glennie

Als Kind wurde Evelyn Glennie fast taub, und keiner traute ihr eine Karriere als Musikerin zu. Trotzdem beschloss sie, Solo-Percussionistin zu werden. Mit Erfolg: Glennie ist heute eine weltweit gefeierte Schlagwerkerin. Jetzt tritt die Britin in Hamburg auf.

(aus Hinz&Kunzt 204/Februar 2010)

Diagnose: manisch-depressiv

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt: Klaus Lenuweit ist seit 15 Jahren Hinz&Künztler – und manisch-depressiv. Mal will er sich mit einem Messer am liebsten die Arme aufschnibbeln, dann wieder durch den Park tanzen. Die Geschichte einer Krankheit – von innen betrachtet.

(aus Hinz&Kunzt 205/März 2010)

„Scheiße ist das, wenn du hier landest“

Auch in diesem Winter haben viele Obdachlose trotz klirrender Kälte draußen geschlafen, anstatt die städtischen Notunterkünfte zu nutzen. Warum? Fabian Zühlsdorff und Hanning Voigts haben getarnt als Obdachlose eine Nacht im Notasyl Pik As verbracht – und Antworten gefunden.

(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)

Seit mehr als einer Stunde liege ich wach. Es ist halb drei Uhr nachts, und obwohl ich zum Umfallen müde bin, kann ich nicht einschlafen. Im Bett unter mir liegt ein Mann, der sich ununterbrochen kratzt. Durch das Kratzen wackelt und quietscht das metallene Doppelstockbett, außerdem quält mich die Frage, ob mein Bettnachbar eine ansteckende Hautkrankheit hat. Aber auch sonst finde ich im Zimmer 412 der Notunterkunft Pik As keine Ruhe. In einem Raum sind hier 13 Männer untergebracht, nur eines der 14 Betten ist leer. Es riecht nach Schweiß und ungewaschenen Körpern. Nur zwei der Männer scheinen zu schlafen, zumindest schnarchen sie laut. Wie soll ich hier erholsamen Schlaf finden?

Dabei ist mein Aufenthalt im Pik As bisher besser verlaufen als erwartet. Nachdem Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas im Dezember 1999 eine Nacht hier verbracht hatte, berichtete er von überforderten Mitarbeitern, exzessivem Alkoholkonsum der Bewohner und skandalösen hygienischen Zuständen. Mittlerweile hat sich einiges geändert: Betrunkene sind heute kaum zu sehen, die Toiletten sind sauber, das Haus ist einigermaßen ruhig.
Vier Stunden zuvor: Unser Aufenthalt im Pik As beginnt gegen 22 Uhr mit einem überraschend freundlichen Empfang. „Wie, ihr habt keine Ausweise dabei?“, fragt uns ein Mitarbeiter erstaunt. Wir schütteln den Kopf. „Na, dann müsst ihr beide uns einfach eure Namen und  Geburtstage aufschreiben“, meint er versöhnlich. „Trinkt erst mal einen Kaffee, meine Kollegin kümmert sich gleich um euch.“

Wir ziehen uns am Automaten einen kostenlosen, dünnen Kaffee. In der Ecke der neonbeleuchteten Eingangshalle kriechen gerade drei junge Männer auf dem nackten Fußboden in ihre Schlafsäcke. Sie reden laut auf Spanisch miteinander. Und im Gegensatz zu uns scheint ihnen die triste Atmosphäre hier nicht die Laune zu verderben. Das seien arme Teufel ohne deutschen Pass, die hier kein Recht auf ein Bett hätten, erklärt uns der Mitarbeiter: „So haben sie bei der Kälte wenigstens ein Dach über dem Kopf.“
Kurz darauf nimmt eine Mitarbeiterin unsere Daten auf. „Wir haben für euch nur noch Platz in einem der Notaufnahmezimmer“, sagt sie entschuldigend, „da schlafen schon mehrere, und besonders hygienisch ist es auch nicht.“ Während sie uns jeweils ein belegtes Brötchen, Decken und frische Bettwäsche in die Hand drückt, schärft sie uns ein: „Ihr müsst auf eure Wertsachen aufpassen.“ Diese Warnung haben wir schon oft gehört. Hinz&Künztler berichten immer wieder von nächtlichen Diebstählen im Pik As.

In Zimmer 412 wird mir schnell klar, dass ich hier kein Auge zumachen werde. Die Luft ist zu unangenehm, die Atmosphäre zu unruhig. Wieder auf dem Flur treffen wir Rolf *, der sich gerade umständlich eine Zigarette dreht. Er trägt einen geflochtenen Bart und hat bis vorgestern auf der Straße geschlafen. „Alle paar Minuten fuhr ein Auto an mir vorbei“, sagt er, „da kriegst du kein Auge zu.“ Ich frage ihn, wie es ihm im Pik As gefällt. „Es ist ruhiger“, sagt Rolf langsam, „aber die Luft ist so schlecht und trocken.“

Im Treppenhaus kommt uns ein alter Mann in zerschlissenen Jeans entgegen. Er trägt keine Schuhe, seine schorfigen Hände und Füße stecken in schmutzigen Verbänden. Lallend fragt er mich nach einer Zigarette. „Danke Mann, du bist der Boss“, sagt er, als ich ihm eine gebe. Sein Anblick ist deprimierend. Der Alte tut mir leid. Im Aufenthaltsraum ist die Stimmung besser. Im Fernsehen läuft der Hollywood-Western „Der mit dem Wolf tanzt“. Die Film-Idylle mit Indianern und weiter Prärie will nicht so recht zu dem spartanisch eingerichteten Zimmer passen, aber immerhin ist der Raum sauber und dient nicht mehr vorrangig zum Trinken wie noch vor zehn Jahren. Neben Fabian und mir sitzt Arne, ein junger Punker mit roten Haaren. „Mit 18 bin ich zu Hause abgehauen, hab meine Lehre geschmissen, mal hier und mal da gepennt“, erzählt er. Nach Hamburg ist er wegen seiner Freundin gekommen, die hat ihn im September 2009 aus der Wohnung geworfen. „Seitdem schlag ich mich so durch“, sagt Arne. Das Pik As stört ihn nicht, er ist froh über die Unterkunft: „Ich stelle kaum Ansprüche.“

Als der Aufenthaltsraum gegen ein Uhr früh geschlossen wird, gehe ich kurz an die frische Luft. Im Innenhof stehen zwei junge Männer mit Bierdosen in der Hand. Der eine guckt mich plötzlich an. „Und du musst hier pennen?“, fragt er. Ich nicke. „Scheiße ist das, wenn du hier landest“, meint er, „hast du wenigstens ein Einzelzimmer?“ Ich verneine. „Ach du Scheiße“, sagt er und sieht mich mitleidig an. Ich schäme mich ein bisschen, ihm etwas vorzuspielen.
Um halb zwei Uhr gehe ich ins Zimmer 412 und lege mich ins Bett. Ich fühle mich unwohl, an Schlaf ist nicht zu denken. Fabian nickt immerhin für zwei Stunden ein. Gegen fünf Uhr halte ich es einfach nicht mehr aus. Als wir zum Ausgang gehen, schlafen in der Eingangshalle sieben Menschen, einige einfach gegen die Wand gelehnt.

* alle Namen geändert

Die Kosten der Übernachtung in Höhe von 24 Euro pro Person haben wir an fördern und wohnen überwiesen.

Das Pik As in der Neustädter Straße 31a ist Hamburgs zentrale Notunterkunft für obdachlose und wohnungslose Männer. Getragen wird es vom städtischen Unternehmen fördern und wohnen. Das Haus hat derzeit 190 Betten, zumeist in Vier-Bett-Zimmern. Außerdem gibt es 24 Einzelzimmer, in denen die Bewohner auch Hunde halten können. Das Pik As ist verpflichtet, jederzeit allen
obdachlosen Männern einen Schlafplatz zur Verfügung zu stellen.
Von November 2009 bis Februar 2010, während des Winternotprogramms für Obdachlose, haben im Schnitt 167 Menschen pro Nacht in der Notunterkunft geschlafen.
Obwohl das Pik As nur eine vorübergehende Notlösung sein soll, leben einige Bewohner seit vielen Jahren dort, darunter auch einige Hinz&Künztler. Das Winternotprogramm wird nach Angaben von fördern und wohnen in diesem Jahr am 15. April enden.


„Wir sind doch kein Hotel!“: Wie es Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas vor zehn Jahren ging, als er eine Nacht im „Pik As“ verbrachte

„Alkohol und Schläge, das war normal“

Seit zehn Jahren bei Hinz&Kunzt: Armin S.

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Der Bruch fehlt in Armin Satzingers Leben. Er ist nicht abgestürzt, er war nie oben. Erinnerungen an seine Kindheit in Bayern sind vor allem Erinnerungen an Suff, Streit und Schläge. „Bei uns wurde ziemlich viel Alkohol getrunken, damit bin ich aufgewachsen“, sagt der 33-jährige Hinz&Künztler. „Das war ganz normal.“ Auch dass sein Vater ihn und seine drei Geschwister regelmäßig verprügelte.
Als er ein kleiner Junge war, machte das auch „das große Haus mit eigenem Swimmingpool“ nicht besser. In der Schule ließ Armin seinen Frust an Lehrern und Mitschülern aus. Die einen beschimpfte er, die Schwächeren schlug er. Wenn sein Vater davon erfuhr, setzte es die nächste Tracht Prügel – und Armin wurde noch wütender.
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Mit 16 Jahren fand er eine Möglichkeit, seine Wut zu betäuben. Es fing mit Alkohol an, ging mit Haschisch weiter, mit Tabletten und Koks. Bis er sich den ersten Schuss Heroin setzte. Da klappte erst recht nichts mehr: Er bekam den Ausbildungsplatz als Schlosser nicht und die Zulassung zur Führerscheinprüfung auch nicht. Armin weiß selbst, was sein größtes Problem ist: „Drogen.“ Mehrere Entgiftungen hat er schon hinter sich, aber nie lange ohne Betäubungs mittel durchgehalten.
Den ersten Rückfall hatte Armin, als vor zehn Jahren seine schwangere Freundin an einer Überdosis starb. Bis heute macht Armin sich Vorwürfe, dass er Heike nicht beschützt hat. Nach ihrem Tod verließ er seine bayerische Heimat und schlug sich nach Hamburg durch. Auch hier kam er nicht von den Drogen los, dafür zu Hinz&Kunzt. Das Magazin – „Ich verkaufe jeden Tag“ – ist die einzige Regelmäßigkeit in seinem Leben.

HINZ&KUNZT: Was hast du diese Woche Besonderes erlebt?
ARMIN: Auf dem Weihnachtsmarkt habe ich eine Frau kennengelernt. Sie war hübsch und wir haben uns gut unterhalten. Sie hat sogar nach meiner Telefonnummer gefragt, aber ich habe ja kein Telefon.

H&K: Wo wohnst du derzeit und wie ist es da?
ARMIN: Ich mache Platte in der Stadt, ist mir lieber als Winternotprogramm. Da ist mir zu viel los.

H&K: Wie hat dir die Dezember-Ausgabe gefallen?
ARMIN: Den Regisseur auf dem Titelblatt fand ich gut, ich hab ihn sofort erkannt. Die neue Gestaltung sieht auch gut aus, die Zeitung kenne ich seit Jahren, und ich finde, die wird immer besser.

H&K: Wie möchtest du in fünf Jahren leben?
ARMIN: In eigener Wohnung, mit einer Freundin und einem Hund.

H&K: Hast du eine schöne Kindheitserinnerung?
ARMIN: Wir haben früher öfter Urlaub in Spanien gemacht. Sonne, Meer, und die ganze Familie war gut drauf. Das war schön.

Text: Beatrice Blank

Foto: Mauricio Bustamante