„Sesshaft wurde ich nie“

Der Schauspieler und Entertainer Ilja Richter ist privat ein nachdenklicher Mensch, der sich Gedanken macht über Armut, gutes Benehmen und leere Kindergesichter

(aus Hinz&Kunzt 169/März 2007)

Was Armut heißt, hat Ilja Richter in seiner Kindheit am eigenen Leib erlebt. „Ich habe nicht gehungert, aber ich weiß noch ganz genau, wie es war, als ich sechs war. Da lebten wir in Köln-Nippes, und es kam vor, dass es keine Konserve mehr in den Schränken gab, nichts Warmes zu essen, nur noch Brot und Schmalz. Natürlich hatten wir was zu trinken, weil wir ja eine Kneipe hatten. Von Brot und Schmalz wirst du zwar satt, aber du vergisst dieses Gefühl nie, dass nichts da ist.“

Als zappeliger, grimassierender Teenager finanzierte der heute 54-jährige Schauspieler in den 70ern mit 133 Folgen der ZDF-Kultreihe „Disco“ die gesamte Familie. Immer wieder waren seine kriegstraumatisierten Eltern mit ihren Unt­ernehmungen gescheitert. Die jüdische Mutter, eine Schauspielerin, hatte sich im „Dritten Reich“ als Arierin ausgegeben und in vielen Filmen und Revuen erfolgreich mitgewirkt, immer die Angst vor Entdeckung im Nacken. Der Vater, ein Kommunist, hatte für seine Überzeugungen im KZ gesessen. Egal, was die Richters nach dem Krieg versuchten, ob Theater, Kino, Kneipe, alles ging schief. Erst mit dem begabten jüngsten Sohn, der singen, tanzen, schauspielern und unterhalten konnte, ging es endlich bergauf.

Armut mache opportunistisch, hat Richter in seiner Autobiografie geschrieben, und damals machte er alles, was man ihm antrug: Revuen, schlimme Filmklamotten und schlechte Platten. Heute bevorzugt Richter die leiseren Töne, sei es bei seinem bewegenden Gastauftritt in Dani Levys Film „Mein Führer“, sei es als Autor eines demnächst erscheinenden Kinderbuchs oder mit seinem Engagement am Ernst Deutsch Theater in „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“, einem Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit.

Doch immer noch sind Begegnungen mit ihm große Auftritte eines begnadeten Entertainers. In Mantel und Hut betritt er das plüschige Café Funkeck, perfekte Kulisse für den Theo-Lingen-Fan Richter. Bei Schwarzwälder Kirschtorte und heißer Schokolade spult der elegante, grauhaarige Gentleman dann ein Feuerwerk erprobter Anekdoten und intelligenter Pointen ab. Seinen klugen, empfindsamen Geist hält der Berliner hinter der Fassade des charmanten Dampfplauderers verborgen. In die Karten gucken lässt er sich nur ungern. Richter ist – bei aller Exaltiertheit – privat ein ruhiger, nachdenklicher Mensch und nicht die Stimmungskanone vom Dienst.

Viel hat er erlebt in seiner Karriere vom Kinderstar zum ernst zu nehmenden Schauspieler, Regisseur und Autor, und viel eingesteckt. Für sein Engagement in der Friedensbewegung wurde er 1982 auf der Berliner Waldbühne gnadenlos ausgebuht, 1988 unterzeichnete er einen umstrittenen Appell an den Bundespräsidenten zur Begnadigung des RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock. Damals wie heute glaube er, dass ein Akt der Gnade ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie sei.

„Mir ist wenig fremd“, sagt er. Auch das Gefühl von Heimatlosigkeit nicht: „Sesshaft wurde ich nie.“ Auch wenn er es versucht hat. Eine Ehe ist gescheitert, von der Mutter seines fünfjährigen Sohnes Kolja lebt er getrennt. „Meine Heimat liegt in der Bewegung“, beschreibt er den Zustand seines inneren Unbehaustseins. In ihm sei das Vagabundieren eben drin. „Ich bin aber auch ganz schnell überall zu Hause, wenn’s nicht gar so scheußlich und nicht wirklich kalt und schmutzig ist. Prinzipiell bin ich kein Mauler. Und was das Geld angeht, kenne ich alles von Armut über Mittelstand bis Luxus, alle Ups and Downs.“

Luxus zu definieren fällt ihm leicht. Denn natürlich ginge es, ganz proletarisch, immer erst mal ums Essen: „Luxus ist, wenn ein Mensch, in egal welchem Restaurant, sich von der Karte bestellen kann, was er wirklich möchte; und den anderen auch, wenn er ein großzügiger Mensch ist.“ Er selbst macht seine Großzügigkeit davon abhängig, ob man ihm Respekt entgegenbringt, gerade auch bei Bettlern. „Auch Betteln will gelernt sein. Es gibt Arten von Betteln, da kann ich nicht widerstehen“, sagt er und führt als Beispiel einen Bettler in Berlin an: „Ein Tramp, ein älterer Herr, so um die 70. Ich kenne ihn schon seit 15 Jahren, wir haben einander altern sehen. Bei ihm habe ich mich tausendmal entschuldigt, als ich mal kein Geldstück in der Tasche hatte, wo doch sonst immer was da ist. Das war mir unangenehm!“

Gutes Benehmen ist ihm wichtig, und er hat lange darüber nachgedacht, warum es wieder salonfähig geworden zu sein scheint, auf der Straße auszuspucken. „Das liegt am Fernsehen.

Die Jugendlichen sehen da viele Sportler, die aus Notwendigkeit spucken. Sportler sind Idole, und sie machen das eben instinktiv nach.“ Neulich habe ihm jemand aus Versehen auf die Hutkrempe gespuckt, der habe sich entschuldigt. Er sei sich nicht sicher, ob das heute noch viele Leute täten. „Vor ein paar Tagen hat hier in Hamburg ein Junge gespuckt. Der hat gesehen, dass ich das gesehen habe, und sagte im Vorbeigehen: ,Ist ganz frisch!‘“, gruselt sich der Schauspieler.

Eine negative Form von Erziehung sei durch solche Vorbilder am Werke, glaubt er und denkt laut über die daraus resultierende innere Verwahrlosung nach. „Es gibt eben sehr leere Gesichter, und diese leeren Gesichter produzieren Kinder.“ Die Einsamkeit und Aggressivität, vor allem aber die Hilflosigkeit von Kindern beschäftigten ihn im Moment am meisten. Mit Geld lasse sich dieses Problem nicht lösen: „Wenn man für Afrika spendet, wo dann Schulen und Brunnen gebaut werden, da kannst du dich freuen, dass es eine Verbesserung gibt. Aber hier? Da siehst du in ein leeres Gesicht, und du weißt, es gibt nichts zu verbessern. Die sitzen da und sind leer. Da weiß ich gar nicht, was ich fühlen soll.“

Ilja Richters Handy klingelt, und Kolja ist dran. Auf einmal wird Richters Stimme ganz weich und ein wenig belegt. Als er auflegt, mischen sich Stolz und Liebe mit Wehmut, weil er viel zu wenig Zeit mit seinem Sohn verbringen kann und Kolja doch der einzige Fixpunkt in seinem Vagabundenleben zu sein scheint. Aber der Moment des echten Gefühls ist schnell vorbei. „Sehen Sie, ich streife doch ungefragt alle Themen, auch die privaten. Damit sind wir dann fertig, oder? Auf Wiedersehen!“ Der Entertainer Ilja Richter hat wieder die Regie übernommen.

Misha Leuschen

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