Verkäufer Jörg aus Lübeck : Wiedersehen nach 27 Jahren

Vor 27 Jahren hatten sie jeden Kontakt zueinander verloren, als die damals fünfjährige Madlen mit den Eltern aus der DDR in den Westen übersiedeln durfte, während ihr erwachsener Halbbruder Jörg zurückblieb. Jetzt hat sie ihn wiedergefunden – über einen Bericht in der Straßenzeitung HEMPELS.

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Wieder vereint: Jörg Warkentin und seine Halbschwester Madlen

„Eigentlich war er die ganzen Jahre ja immer da“, sagt Madlen Warkentin, „jedenfalls in unseren Köpfen. Meine Mutter und ich haben oft über ihn gesprochen.“ Neben der 32-Jährigen sitzt ihr 17 Jahre älterer Halbbruder Jörg. „Ich hatte die Hoffnung auf ein Wiedersehen auch nie aufgegeben“, antwortet der und strahlt.

Ein kalter Wintertag in Lübeck. Aus Ostwestfalen ist Madlen Warkentin angereist, ihr erster Besuch überhaupt in der Hansestadt, „ich hab die schönen Seiten dieser Stadt aber noch gar nicht so richtig wahrgenommen“, sagt sie. Viel zu aufgeregt war sie bisher, voller Nervosität vor dem Wiedersehen, „doch dann fühlte sich schon unsere erste Begegnung vollkommen vertraut an.“ Zufällig ist an diesem Tag auch noch ihr Geburtstag, „ein schöneres Geschenk“, sagt die Erzieherin, die seit gut zweieinhalb Jahren in Paderborn in der stationären Jugendhilfe eine Wohngruppe leitet, „hätte man mir gar nicht machen können.“ Jörg, der Bruder, strahlt immer noch: „Bevor du ankamst, habe ich den ganzen Tag geheult vor Freude.“

Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, die hier erzählt werden soll, eine Geschichte, in der es um Hoffnungen und Emotionen geht, um Zufälle und auch den tragischen Tod des gemeinsamen Vaters. Eine Geschichte, die in der DDR begann und die es ohne HEMPELS heute so vielleicht nicht geben würde. Vor 27 Jahren, Anfang 1988, durfte die damals fünfjährige Madlen mit Mutter und dem kranken Vater aus dem sächsischen Plauen in die Bundesrepublik übersiedeln. Jörg, ihr volljähriger Halbbruder, war zu Hause bereits ausgezogen und musste zurückbleiben, später verlor er den Kontakt zur Familie.

Erst vor wenigen Monaten stieß Madlen bei Recherchen im Internet wieder auf ihn. Seit sechs Jahren schon arbeitet Jörg Warkentin in Lübeck als HEMPELS-Verkäufer, im Netz fand seine Schwester nun ein Portrait, mit dem wir ihren Bruder unseren Lesern vorgestellt hatten. „Mein größter Wunsch? Eine friedliche Welt“, lautete dazu die Überschrift. „Ich habe das gelesen“, sagt Madlen, „und dachte sofort: Da macht sich jemand Gedanken über das Leben – wie schön, dass ich mit dem verwandt bin!“

14 war Jörg, als die Ehe der leiblichen Eltern auseinander ging. Sein Vater, Diplom-Ingenieur in einem Plauener Metallleichtbaukombinat, hatte eine neue Frau kennengelernt und war mit ihr sowie deren Sohn und auch Jörg zusammengezogen. „Aber bald gestaltete sich das Zusammenleben als schwierig“, blickt Jörg heute zurück, „es war ein recht spießiges Familienleben, und ich wollte als pubertierender Jugendlicher mit 15 oder 16 doch die Welt revolutionieren und galt deshalb als schwierig.“ Erst als Ende 1982 Madlen geboren wurde, entspannte sich zu Hause die Situation. „Ich habe mich riesig auf meine kleine Schwester gefreut“, erzählt Jörg, „das hat mich auch meinem Vater wieder nahegebracht.“

Als 19-Jähriger, nach Abschluss der Polytechnischen Oberschule und einer Baufacharbeiterlehre, zieht er zu Hause aus; der wieder gute Kontakt zur Familie und insbesondere zu der kleinen Schwester bleibt. Als ihr gemeinsamer Vater an Darmkrebs erkrankt, darf der mit seiner Frau und der kleinen Tochter Madlen Anfang 1988 nach Bayreuth in Franken übersiedeln, der erwachsene Jörg bleibt zurück. „Natürlich kannte ich die neue Adresse“, sagt Jörg, „aber zwischen Ost und West gab es damals wirklich so etwas wie einen Eisernen Vorhang, spontaner Kontakt war nicht möglich. Anrufe zu meiner Familie nach drüben musste ich tagelang vorher auf der Post anmelden.“

banner-vendor-weekEin gutes halbes Jahr nach ihrer Ausreise in den Westen dann ein heftiger Schicksalsschlag, der vieles verändert. Auf der Rückreise aus einem Ungarn-Urlaub rammt ein Auto den Wagen der Familie Warkentin. Der 44-jährige Vater wird dabei getötet, Mutter und Tochter Madlen kommen mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus. Jörg erfährt in der DDR nur auf Umwegen, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. „Tagelang hab ich auf der Post gesessen und Telefonate zur Botschaft in Ungarn angemeldet“, sagt er. Irgendwann wird bloß klar, dass sein Vater nicht mehr lebt, Kontakt zur Stiefmutter und zur Schwester bekommt er nicht.

„Ich habe meinen Vater immer geliebt“, sagt der HEMPELS-Verkäufer, „auch in schwierigen Zeiten, und dann war er plötzlich tot und ich wusste nicht wirklich, wer Schuld daran war.“ Insgeheim habe er damals wohl seine Stiefmutter für alles Unglück verantwortlich gemacht, schließlich sei sie ja mit dem Vater in den Westen gegangen. Für Jörg begann damals eine längere Zeit der inneren Unruhe und Wanderschaft, zunächst in der DDR, später auch durch andere Länder. Den Tod des Vaters habe er so zu verarbeiten versucht, wegen seiner häufigen Ortswechsel war es irgendwann auch für Stiefmutter und Schwester unmöglich, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Schwester Madlen sagt im Rückblick: „Vielleicht fehlte nach dem Tod unseres Vaters einfach der Klebstoff, um die Familie dauerhaft zusammenzuhalten.“

Draußen in Lübeck, ein Spaziergang an der Trave. Stundenlang haben sich die Geschwister Warkentin an den vergangenen zwei Tagen bereits über ihr Leben ausgetauscht, jetzt zeigt Jörg Schwester Madlen einige der schönen Seiten seiner neuen Heimatstadt, in der er seit acht Jahren lebt. Immer wieder nehmen sie sich in den Arm, als wären sie in ihrem Leben nie anders miteinander umgegangen. „Ich bin weiterhin völlig aus dem Häuschen“, strahlt Jörg.

Irgendwann sprechen sie auch über den gemeinsamen Vater und dessen Unfalltod. Bis vor kurzem wusste Jörg nicht, wo er begraben liegt. „Ich habe deshalb nie wirklich Abschied nehmen können von ihm“, sagt er, bald will er das Grab in Bayreuth besuchen. Auch zu seiner Stiefmutter hat er bereits Kontakt aufgenommen. „Mir ist mittlerweile klar, dass sie unseren Vater geliebt hat“, sagt Jörg.

An der Trave nehmen sie sich dann wieder einmal in die Arme. „Wer weiß, wofür die vergangenen 27 Jahre alles gut waren“, sagt Madlen. Jörg antwortet: „Wichtig ist heute nur, dass uns unsere Lebensgeschichten wieder zueinander geführt haben.“ Und dann versprechen sie sich gegenseitig, sich künftig nicht mehr aus den Augen zu verlieren.

Text: Peter Brandhorst
Foto: Heidi Krautwald