Uwe Dierks : Unser Mann vorm Rathaus ist tot

Uwe gehörte bei Hinz&Kunzt zum Inventar und war immer wieder auch in der Zeitung abgebildet – wie hier 2017 anlässlich der Bundestagswahlen. Foto: Mauricio Bustamante

Jahrzehntelang verkaufte Uwe Dierks Hinz&Kunzt in der Rathauspassage. Jetzt ist er gestorben. Ein Nachruf von Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Uwe Dierks, unser dienstältester Verkäufer, ist gestern mit 78 Jahren im Krankenhaus gestorben. Wir sind sehr traurig. Seit Mitte der 1990er-Jahre stand er in der Rathauspassage, er kannte viele Bürgerschaftsabgeordnete persönlich – und sie ihn. In den letzten Monaten war bei ihm Krebs festgestellt worden. Obwohl er immer schwächer wurde, blieb er unverwüstlich optimistisch. „Tut alles, damit ich überlebe“, sagte er. „Ich will nichts verpassen.“

Und das taten die Rettungskräfte. Gestern brach er auf dem Weg zur Chemotherapie bewusstlos zusammen. Die Rettungskräfte konnten ihn zwar kurzfristig wiederbeleben, aber er kam nicht mehr zu Bewusstsein und starb.

Uwe, Ausweisnummer 38, gehörte zu den Verkäufer*innen der ersten Stunde. Als wir ihn kennenlernten, war er Anfang 50 und stark verelendet. Er hatte eine Odyssee hinter sich: Kinderheim, Männerwohnheim, Straße, vom Staat bezahltes Billighotel auf dem Kiez. Jahrzehnte früher hatte er einmal eine Lehre zum Tankwart angefangen und wieder abgebrochen. Manchmal hatte er einen Job, aber nie lange. Er war alkoholkrank, spielsüchtig und ruhelos. Über Hinz&Kunzt fand er schließlich eine Wohnung, die erste in seinem Leben.

Meine Kinder hatten etwas Angst vor ihm. Wenn er lachte, sah man, dass er keine Zähne mehr hatte – nur noch spitze Eckzähne. Und er trug immer Hausschuhe, sommers wie winters – dann mit mehreren Paar Socken drin. Das hat meine Kinder regelrecht empört: Ob wir ihm nicht mal richtige Schuhe kaufen könnten. Wollten wir, aber das wollte er nicht. Er fand seine Hausschuhe gemütlich.

Seine Kundschaft liebte ihn

Er hatte in den 27 Jahren nur zwei Verkaufsplätze. Den ersten vor der Parfümerie Douglas in der City. Es gibt noch ein altes Foto: Die Douglas-Verkäuferinnen und Uwe – strahlend und stolz. Mitte der 1990er-Jahre eröffnete ein anderes Projekt von Hinz&Kunzt-Gründer Stephan Reimers: die Rathauspassage. Reimers-Fan Uwe zog um und repräsentierte seitdem den „Mann aus dem Volke“ im Bannkreis der Politik. Er kannte alle Politiker*innen, glauben wir. Viele gehörten zur Stammkundschaft und hielten mit dem Hinz&Künztler ein Schwätzchen. Was er erlebte, erzählte er uns begeistert brühwarm weiter. Einmal bekam er vom Manager der Klitschko-Brüder zwei Ehrenkarten in der ersten Reihe für einen wichtigen Kampf. Er zeigte die Karten stolz überall herum, alle mussten sie bestaunen – und dann verkaufte er sie. Er brauchte das Geld. Denn er trank zwar inzwischen weniger, aber er blieb ein Leben lang spielsüchtig. Für mich als Suchttherapeut eine große Herausforderung. Nur ein cleanes Leben war für mich ein lebenswertes Leben. „Stephan, warum soll ich eine Therapie machen?“, sagte er zu mir. „Ich schade doch niemandem, warum soll ich auf etwas verzichten, was mir solchen Spaß macht?“

Apropos Geld: Noch in den 1990er-Jahren hatte er eine wahnsinnig hohe Geldstrafe wegen ständigen Schwarzfahrens zu bezahlen, um die 3000 Mark. Vor Gericht hatte er zu unserem Entsetzen damit geprahlt, dass er am Tag um die 100 Mark verdienen würde. Das stimmte überhaupt nicht, aber prompt kassierte er einen entsprechend hohen Tagessatz. Wir haben ihn entgeistert gefragt, warum er das gesagt hätte. Seine Antwort: Er wollte doch seriös wirken, damit er nicht in den Knast muss. Immerhin konnten wir mit dem Gericht eine Ratenzahlung vereinbaren …

„Wenn ich Hinz&Kunzt nicht hätte, wäre ich längst tot“, sagte er immer wieder. Und vielleicht stimmt das sogar. Hinz&Kunzt war sein Leben. Und er war wichtig für uns.

Uwe war einer der optimistischsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Ich habe nie erlebt, dass er über einen längeren Zeitraum jemandem böse sein konnte, dass er überhaupt böse über jemanden dachte. Und die Menschen begegneten ihm freundlich und liebevoll. Für diese Zuneigung lebte er förmlich. Sogar dann noch, als er wegen des Krebses nur noch zu Hause war. Er freute sich überschwänglich, wenn ihn jemand besuchte und ihm etwas mitbrachte. Seine Nachbarin Sonja klingelte häufig und brachte ihm etwas zu essen. Und auch sein Pflegedienst mochte ihn. Warum er so beliebt war? Vielleicht weil ausgerechnet dieser alkoholkranke und spielsüchtige Mann so etwas wie Unschuld verkörperte – und pure Lebensfreude.

Uwe Diercks starb am 17. Dezember an den Folgen seiner Krebserkrankung. Wir werden ihn vermissen.

 

Autor:in
Stephan Karrenbauer
Stephan Karrenbauer ist Sozialarbeiter und politischer Sprecher bei Hinz&Kunzt.