Dieser Job ist Kunst

„Situations-Künstler“ Tino Sehgal stellt in der Hamburger Kunsthalle aus – und hat für sein ungewöhnliches Werk zwei Hinz&Kunzt-Verkäufer engagiert

(aus Hinz&Kunzt 154/Dezember 2005)

Galerie der Gegenwart, dritter Stock. Raum 33 ist fensterlos und hat, wie alle Räume, schwarze Bodenfliesen und weiße Wände. Aber es hängen keine Bilder. Raum 33 scheint quadratisch, praktisch, leer zu sein. Kann ja mal sein, vielleicht wird gerade umgehängt. Nur eine Frau in Jeans, grauer Strickjacke und Turnschuhen steht da. Eine Besucherin wahrscheinlich. Aber was schaut sie an?

Als ein Mann den Raum auf der einen Seite betritt, um ihn zu durchschreiten und den nächsten Ausstellungssaal zu erreichen, sagt die Frau in einem langgezogenen Singsang: „Diiie-seee Beee-schäääf-tiii-guuung.“ Danach in normaler Sprache: „Tino Sehgal. Diese Beschäftigung. 2005. Geschenk der Bâloise-Versicherungsgruppe.“

Diese Beschäftigung ist Kunst. Es handelt sich um ein Werk des 29-jährigen Tino Sehgal aus Berlin. Sehgal schafft keine gegenständliche Kunst, sondern inszeniert im Museum überraschende Situationen. Er entwickelt die Idee, legt den Ablauf fest, doch ausgeführt – er selbst sagt: „interpretiert“ – werden seine Werke von Honorarkräften.

„Diese Beschäftigung“ ist in der Kunsthalle seit Mitte November und noch bis Jahresende zu erleben. Und dafür hat Sehgal arbeitslose Protagonisten engagiert, darunter auch zwei Hinz&Kunzt-Verkäufer. Nach dem einstudierten Satz stehen sie Museumsbesuchern Rede und Antwort und können zum Beispiel erzählen, wie sie leben. Sehgal will damit zum Nachdenken über Beschäftigung anregen – als bezahlter Job einerseits, als Tätigsein andererseits. Und verspricht sich „eine ganz andere Wucht“, wenn Protagonisten sprechen, die selbst von Arbeitslosigkeit gezeichnet sind. Zugleich will er Arbeitslosen einen Zuverdienst ermöglichen: Sie bekommen für ihren Job im Museum zehn Euro pro Stunde. Kunsthistorikerin Nina Zimmer, die das Werk in der Kunsthalle betreut, betont: „Es geht uns nicht darum, einzelne Lebensgeschichten auszustellen, sondern über gesellschaftliche Probleme zu reflektieren. Alles andere wäre unseriös.“

Sehgal, in London geboren, hat Choreografie und Volkswirtschaft studiert. Seit 2000 schafft er Inszenierungen, andere Werke von ihm gibt es nicht. In seiner ersten Arbeit bewegte sich eine Person langsam auf dem Boden und nahm unterschiedliche Positionen ein – ein Verweis auf Arbeiten aus der Videokunst. „Bei anderen Werken wird gesungen oder getanzt, sogar ein Striptease kommt vor“, erklärt Nina Zimmer. Eine weitere Arbeit überrascht derzeit Museumsbesucher im japanischen Yokohama: Mitarbeiter an der Kasse sagen, nachdem sie das Ticket verkauft haben, einen Satz, den sie morgens in der Zeitung gelesen haben, danach die Worte „This is new“ und Sehgals Namen.

Eine Werkform, auf die der Kunstbetrieb offenbar gewartet hat. Dieses Jahr stellte Sehgal im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig aus. Im Jahr zuvor hatte er bei der Kunstmesse Art in Basel den Preis der Bâloise-Versicherungsgruppe erhalten. Damit verbunden ist der Ankauf einer Arbeit, die das Unternehmen dann einem Museum schenkt. So kam die Hamburger Kunsthalle zu ihrem ersten Sehgal, der kunstvollen Beschäftigung in Raum 33.

Um einen theoretischen Überbau ist der Künstler nicht verlegen. In unserer Gesellschaft sei man vor allem beschäftigt, um Einkommen zu erzielen, nicht mehr, um Dinge mit Gebrauchswert herzustellen – die gebe es schließlich im Überfluss. Grundsätzlich interessiere ihn, ob man anders produzieren könne als durch die Umwandlung natürlicher Ressourcen. Folgerichtig will Sehgal keine Gegenstände schaffen, keine Bilder, keine Skulpturen. Und er gestattet auch keine Fotos oder Tonaufnahmen von seinen Werken.

Im Theater würden seine bescheidenen Szenen wahrscheinlich durchfallen. Aber im Museum gelten sie als grandios. Denn hier, im „Tempel der Dinge“ (Sehgal), sind sie unerwartet. Die Jury des Bâloise-Kunstpreises sagt über Sehgal: „Entkleidet von allem Objekthaften und Materiellen können seine flüchtigen poetischen Interventionen lange in unseren Köpfen nachleuchten.“

Ausführlich kann der künstlerische Ökonom über Produktion und Markt dozieren. Aber wie teuer seine Werke gehandelt werden (dem Vernehmen nach für fünfstellige Summen), möchte er nicht preisgeben. Das beantworte er grundsätzlich nicht. Er befürchte, dass Journalisten ein Spektakel daraus machten. Und preist seine Preise dann doch an: „Wenn ich etwas verkaufe, verkaufe ich es für die Ewigkeit. Meines Erachtens ist das total billig. Das Museum kann es für die nächsten 500 Jahre zeigen.“ Im Übrigen solle man seine Galerie anrufen. Die allerdings verweist auf Diskretion und schweigt ebenfalls.

Den beiden Hinz&Kunzt-Verkäufern, die jetzt stundenweise Kunst geworden sind, gefällt’s. Peter und Michael hatten mehrere Treffen mit Sehgal. Sie mussten ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen, das bei beiden nicht ohne Einträge war. Danach erhielten sie einen Mitarbeiterausweis für die Kunsthalle, den sie aber nicht sichtbar tragen, wenn sie in Raum 33 stehen. Beide respektieren Sehgals Motive, aber Peter hat ihm ehrlich gesagt: „Ich mache es des Geldes wegen.“ Was er auch Museumsbesuchern erzählen dürfte, denn für die Dialoge, die auf die vorgegebenen Worte folgen, gibt es kein Drehbuch – ist alles Kunst.

In dem fensterlosen Raum zu stehen, ohne Zigarettenpause, das sei „harte Arbeit“, meint Peter, „härter als Zeitungen verkaufen“. Manche Besucher gingen kommentarlos durch den Raum, so die Erfahrung beider „Interpreten“, aber etliche würden auch nachfragen, manchen sei Sehgals Werk von der Biennale bekannt. Michael erzählt von einem Mann, der mehrmals in den Raum zurückkehrte. Bestimmt zehn Minuten habe er sich mit ihm unterhalten, ihm die Absicht des Künstlers erläutert, von sich erzählt. Der Hinz&Kunzt-Verkäufer: „Das war ein hochinteressantes Gespräch.“

Detlev Brockes