Geborene Wilde

Sau rauslassen im Lehmitz auf der Reeperbahn

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Gleich werden sie wieder dort oben auf dem Tresen stehen, die Gitarren in den Händen und unten das Publikum direkt vor den Füßen. Partytime im Lehmitz auf der Reeperbahn, auch diese Nacht spielt nachher die Band so, als wäre sie live im Fernsehen. Noch gehört der Tresen nur dem Publikum und all den vielen Bierflaschen. Doch bald springen dort die Musiker umher und versuchen, dabei nicht auszurutschen in glitschigen Pfützen. Mit Cowboystiefeln, sagt Otto aus der Band, darfst du nie dort hochsteigen. Und immer schön im Auge behalten, wo gerade erschöpfte Häupter schlafen.

Dem Burschen, der hier vorne auf einem Barhocker hängt, ist längst der Kopf durch die Hände und bis auf den Tresen gerutscht. Auch sein Schal klebt in einer Lache verschütteter Reste von Bier und Tequila. Morgen ist großer Fußball im Viertel. Aber heute, hofft Rudi, der Mann neben dem Kopf im Bier, „woll’n wa nur lustig sein“. Auch er trägt schreiendes Rot über dem Pullover, ein Trikot seines Berliner Lieblingsvereins. Und bestimmt ganz doll puppenlustig kommt ihm inzwischen der Abend vor, so angestrengt wie er jetzt versucht, mit den Augen bloß noch etwas Halt zu finden irgendwo an der gegenüberliegenden Wand.

Dann rutscht auch Rudi vom Hocker; und nachdem er seinen Körper wieder gerichtet hat, belohnt er sich erst mal mit neuem Bier. „ßvei Wlaschen“, befiehlt Rudi der Bedienung, die sogleich versteht, und dann beschließt er mit starrem Blick auf den willenlos betäubten Kopf links: „Schaff ich ooch alleene.“ Auf der Reeperbahn, nachts um halb elf im Lehmitz. Alle sind sie wieder erschienen an diesem Samstag, die Trinker und die Träumer, erlebnishungrige Pistengänger aus den Szenevierteln ebenso wie vereinsamte Herzen aus entfernteren Vororten. Junge und ältere Menschen, manche aus gutem Hause und andere, die schon länger ohne wirkliche Heimat sind. Und jedes zweite Wochenende auch die auswärtigen Fußballfans. Die schon mit Schals und Shirts verkleidet angereist kommen aus Berlin, Frankfurt oder Braunschweig.

Es ist wieder einmal überfüllt im engen Raum; nur wer frühzeitig erscheint, hat vielleicht Aussicht auf einen der Barhocker. Deren Sockel stecken starr verankert im Betonboden, und auch beim Spiel mit dem Tischfußballgerät gleich an der Eingangstür verhindern Gitterstäbe vor dem Münzeinwurf Manipulationen. Der Kicker ist mit einer dicken Glasplatte versiegelt, was sich immer wieder als ganz praktisch erweist. Verschüttete Biere können so niemals das Spielfeld verkleben. Sie fließen lediglich seitwärts ab, nur ab und zu auf Hosen oder Schuhe.

Der Laden ist wie ein Handtuch geschnitten, keine hundert Quadratmeter groß. Längs durch den Raum windet sich ein wuchtiger Tresen in Form zweier Hufeisen. Dazwischen ein paar schmale Korridore mit Platz für das Publikum. Bier wird in Flaschen ausgeschenkt, und die Bedienung kommt manchmal kaum nach mit der Beseitigung des Leerguts.

„Tequila!“, singt Offel, ein Wort Text nur in diesem Song der „Champs“ aus den fünfziger Jahren, einer schnellen und rockigen Instrumentalnummer. Offel ist Sänger und Gitarrist der Hausband im Lehmitz, und das Stück ist heute der Opener, ein klassischer Warmmacher zu Beginn ihres Auftritts. Genau genommen eröffnet die Hausband jede Samstagnacht mit „Tequila“, so wie sie das auch später an den Abenden bei jedem weiteren Set macht. Ein Gläschen Tequila wird dann jedem aus der Band gereicht, auch gemeint als Trinkanregung für das Publikum.

Der Berliner Fan mit dem Schal um den Hals hat diese Aufforderung nicht mehr nötig. Schwerfällig versucht er, ganz langsam den Kopf zu heben. Und sinkt doch gleich wieder kraftlos zurück zu seinen leeren Flaschen. Rudi sitzt kerzengerade schwankend und sucht Blickkontakt mit der Wand.

Oben auf der Tresenbühne covern sich derweil Otto und Offel, die zwei Gitarristen, durch die Geschichte der Rockmusik, von Hendrix zu den Doors, über die Chilli Peppers zurück zu Chuck Berry. Davor ergibt sich das Publikum trinkend und rauchend, lärmend oder schlafend der Nacht. Draußen könnte es tote Vögel regnen – vermutlich bliebe das Leben im Lehmitz davon gänzlich unberührt.

Jan sitzt am Schlagzeug, aufgebaut auf einem winzigen Fleckchen Raum direkt beim Abgang zum Klo. „The Devil“ nennen sie ihn, weil er die Trommeln so schnell schlägt wie jemand aus einer anderen Welt. Er ist der jüngste im Quartett, 25 Jahre alt, und er trommelt immer dann, wenn Jörg, Lehmitz-Besitzer und ebenfalls Schlagzeuger, pausiert. Er ist glücklich, dass bisher noch niemand die Idee hatte, auch ihn inmitten seiner Trommeln über dem Tresen zu platzieren. „Bei meinem ersten Auftritt“, sagt Jan, „da hab ich gedacht: Wer ist hier nicht durchgeknallt? Und was ist normal?“

Die musikalische Magie des „Roadhouse Blues“ von den „Doors“ zieht an diesem Abend eine junge Frau hinauf auf den Tresen. Da tanzt und rappt sie jetzt ganz ohne Scheu. Neben sich die zwei Jungs mit den Gitarren, dort unten die anderen, ihr Publikum. „Ich wollte, dass mich alle mal sehen“, sagt sie später, „alle haben plötzlich zu mir nach oben geschaut. Das war ein schönes Gefühl.“ Wenn nicht Samstagnacht, wann sonst schon kann der Mensch auch mal ein wenig seine Moral vergessen? Am Montag wird sie wieder die unauffällige Studentin sein, und ihr blonder Freund gesteht ganz schnell, doch immer noch irritiert: „Klar, ich fand das schon ganz gut. Aber eifersüchtig war ich auch.“

Und die Musiker? Wie spielt es sich dort oben auf dem Tresen vor 70, manchmal mehr als 100 Leuten, von denen nur ein Teil wegen der Band gekommen ist? „Oft kriegen wir sie zu fassen mit unserer Musik“, sagt Offel, der 34-jährige Sänger. Und Otto, der kahl geschorene 44 Jahre alte Gitarrist, fügt hinzu: „Bei einigen tut es schon weh, zu sehen, wie fertig sie sind. Die haben ein Scheiß-Leben hinter sich und meist auch noch vor sich. Aber Anerkennung kriegen wir irgendwann von jedem.“

So wie jetzt von dem jungen Mann mit dem langen, schwarzen Haar. Den ganzen Abend hat er vorne am Tresen gesessen, inmitten all der anderen und dabei doch nur für sich. Ein wenig bierschwer fällt ihm nun das Gehen, nachdem er aufsteht, das ist nicht zu übersehen. Doch dann ergreift er vor der Bühne das Mikrofon und singt mit Werner, dem Bassisten, erstaunlich stimmsicher „Born to be wild“. „Mir gefällt, wie die Band sich und die Musik präsentiert“, sagt er später, „zum Quatschen könnte ich auch zu McDonalds gehen.“

„Man muss sich arrangieren können, wenn man so eng zu dem Publikum steht“, sagt Otto irgendwann, „man schwitzt den Leuten ja direkt in die Bierflasche.“ Früher hat er schon auf den ganz großen Bühnen gestanden, unter anderem mit seiner eigenen Gruppe „Ottodox und die Reformierten“ oder auch bei „Charly Schreckschuss“ in der Bluesband. Sie alle sind professionelle Musiker, basteln gerade an neuen Gruppen oder helfen aus in befreundeten Kapellen. „Die Arbeit hier hilft uns, künstlerische Routine zu bewahren“, sagt der 39-jährige Werner, der früher mit seinem Bass bei „Cats“ im Orchestergraben gegenüber auf der anderen Straßenseite anzutreffen war.

Trotz anderer Träume kommen die Musiker gerne jede Samstagnacht ins kleine verräucherte Lehmitz. Der da vorhin mitgesungen hat, sagt Otto, der hat Spaß gemacht. „Aber ob wir nun dort stehen und Musik machen oder nicht“, fügt Otto nach einer Weile hinzu, „wer im Leben einfach nur noch röcheln kann, der wird das sicher auch ohne uns tun.“

Peter Brandhorst

Letzte Filiale Reeperbahn

Die Haspa an der Reeperbahn regelt für alle die Geschäfte – und manchmal auch mehr

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

In kaum einer Straße wird so viel Geld umgesetzt wie auf der Reeperbahn. Die Banken haben dennoch die Flucht ergriffen. Nur noch eine Filiale regelt hier Finanzgeschäfte persönlich: die Hamburger Sparkasse.

Reichtum ist relativ. „Soll ich Ihnen mal mein Zahngold zeigen?“, fragt die alte Frau den Filialleiter nicht zum ersten Mal. Carsten Maywald, ganz Diener seiner Kundin, nickt ergeben. Gemeinsam gehen sie zu den Schließfächern, und die Witwe zeigt stolz das Schächtelchen mit ihrem Vermögen: „Mein Mann hat gut für mich gesorgt!“, sagt sie wie jedes Mal.

In die HASPA-Filiale an der Reeperbahn kommen alle: die Immobilienbesitzer wie die Bordellbetreiber, die Einzelhändler wie die alten Mütterchen, die Arbeitslosen wie die Sozialhilfeempfänger, in Spitzenzeiten bis zu 500 Menschen am Tag. „Eine sehr vielschichtige Kundschaft“, sagt Maywald, seit 25 Jahren in der Filiale und seit drei Jahren deren Leiter. Seinen Beruf hat der 48-Jährige in einer Zweigstelle in Blankenese gelernt. Dorthin zurück würde er nie gehen: „Hier ist es sicher nicht leichter – aber ich fühle mich pudelwohl. Ich mag es, wenn das Leben pulsiert!“

Nachdem die Commerzbank kürzlich ihre Zweigstelle geschlossen hat, betreibt die Haspa die einzige Filiale an der Reeperbahn. Andere Geldinstitute wie die Dresdner Bank, die Deutsche Bank oder die BfG (heute: SEB) haben schon vor Jahren das Weite gesucht.
Banken-Kritiker sehen darin eine Entwicklung nach US-amerikanischem Vorbild: Mit ihren immer genaueren Controlling-Systemen können die Geldinstitute mühelos feststellen, wo sie wie viel mit ihren Kunden verdienen. Ergebnis: der Rückzug der Banken aus den Vierteln, in denen viele Menschen mit wenig Geld leben und die deshalb nicht lukrativ erscheinen.

Dass die Armut auf St. Pauli – 13,3 Prozent Sozialhilfeempfänger und etwa noch mal so viele Arbeitslose – der Grund sein könnte für die Abwanderung der Geldinstitute, das will Maywald „so nicht stehen lassen“: Kleinere Zweigstellen würden „immer mal“ geschlossen. „Und die Großbanken haben sich nicht nur hier zurückgezogen, sondern zum Beispiel auch an der Hoheluftchaussee.“ Zudem, meint Maywald, auch Menschen mit geringem Einkommen könnten für Banken interessante Kunden sein, wenn sie sich „vertragskonform“ verhielten: „Das kann sich ja entwickeln.“

Der Morgen des Filialleiters ist ruhig verlaufen. Ein Angestellter fragte nach einem 10.000-Euro-Kredit, er will sich ein neues Auto kaufen. Ein Selbstständiger suchte Rat, wie er den Bau eines Einfamilienhauses finanzieren könnte, er wird wiederkommen mit den nötigen Unterlagen. Ein im öffentlichen Dienst Beschäftigter hat sein Aktiendepot aufgefrischt, „der kauft jetzt zu niedrigen Preisen nach“, weiß der Experte.

Nicht immer geht es so friedlich zu in der Filiale gegenüber dem Spielbudenplatz. Wenn die Ämter am Monatsende Geld überweisen an die Armen, „gibt’s schon mal Aufregung“, berichtet Maywald. Dann müssen die Mitarbeiter im Ansturm der Ungeduldigen, die sehnlichst die Überlebenshilfe erwarten, auch mal Schimpfkanonaden hören wie: „Ihr sitzt doch auf dem Geld! Zahlt das endlich aus!“

Maywalds Frau für alle Fälle heißt Bärbel Schultze. Die 56-jährige Kundenberaterin ist auf St. Pauli aufgewachsen und auch schon 24 Jahre in der Filiale tätig, sie kennt das Quartier und seine Schwierigkeiten. „Für den Stadtteil wird nicht genug getan“, meint die resolute Bankangestellte, weshalb „viele Menschen mit wenig Einkommen“ zu ihr kommen, die „Beratung und Betreuung brauchen“. Oft, erzählt sie, „wissen die Leute nicht, wo sie anpacken sollen, um aus der Geldmisere rauszukommen“.

Ein älterer Herr mit viel Gold an den Handgelenken sucht das Gespräch. „2000 Euro kostet der Spaß!“, ruft er Bärbel Schultze zu. Der offenbar nicht schlecht gestellte Rentner ist schockiert angesichts der Reparaturkosten für seinen Mercedes. „Das kriegen wir schon hin!“, beruhigt ihn die Bankangestellte. „Kommen Sie morgen noch mal!“

Am Vormittag hat sie bereits einem Arbeitslosen aus der Patsche geholfen. Der ehemalige Verlagsmitarbeiter hatte mit seiner Kreditkarte immer weiter Geld abgehoben, obwohl sein Konto längst in den Miesen war – wohl auch aus Frust angesichts von 60 erfolglosen Bewerbungen um einen neuen Job. „Das ist einer, der immer wieder auf die Beine kommt“, sagt Bärbel Schultze – und hat die Schulden in ein ratenweise abzuzahlendes Darlehen umgewandelt.

Die zahlreichen Gewerbetreibenden vom Kiez – rund 1000 der 7500 Konten sind Geschäftskonten – sind meist einfach zu versorgen, so Carsten Maywald. Viele bringen ihre Einnahmen täglich und holen sich Wechselgeld, „da bauen sich Kontakte viel besser auf.“ Kurz wird die unsichtbare Mauer sichtbar, die sich auch durch die menschlichste Bankfiliale zieht: Die „sehr schöne Beratungszone“ im ersten Stock, jener Ort, an dem „diskrete Atmosphäre“ herrscht, lernt ein schlichter Guthabenkonto-Besitzer „höchstens zur Eröffnung“ kennen.

Schwierig gestalten sich die Darlehensgespräche auf St. Pauli. Oft muss der Filialleiter Nein sagen angesichts von „Schnapsideen“ und unsicheren Einkommensverhältnissen. Das fällt ihm nicht immer leicht: „Es gibt immer Fälle, bei denen du denkst: Dem würd ich’s gönnen! Aber die Vorschriften?
Wer nur von Rente, Stütze oder Mini-Jobs lebt, kann auf einen Kredit kaum hoffen. Im besten Fall schickt ihn Maywald ins „Start-up-Center“ der Bank, wenn die Geschäftsidee pfiffig erscheint. Es bleibt den Bankmitarbeitern die Hilfe zum Überleben, und die kann ebenso bedeutsam wie zeitaufwändig sein: Wenn etwa der alte Mann mit der kleinen Rente auch beim dritten Mal nicht begreift, dass ihn eine Sammelüberweisung viel billiger käme als acht einzelne Transaktionen, dann ist Geduld gefragt. Zumal der Rentner am Ende entscheidet: „Nein, ich will das so wie bisher!“ „Ich versuche allen Kunden gerecht zu werden“, sagt Maywald, und einer wie er meint das auch so.

Vor einigen Wochen allerdings wurde seine Toleranzgrenze doch überschritten: Ein offenbar geistig Verwirrter überfiel mit einem Gaspistolen-Imitat die Bank, die direkt im Blickfeld der Davidwache liegt. Da übernahm der Chef persönlich die Verfolgung – und ermöglichte den Polizisten die schnelle Festnahme.

Ulrich Jonas