Nieren gegen Dollars

Moldawien: Aus Armut verkaufen Menschen ihre Organe

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Der Weg zu Andrei und Angela, die ihren Nachnamen nicht nennen wollen, führt hügelaufwärts über eine knöcheltiefe Schlammpiste. Es hat tagelang geregnet in Mingir, einem moldawischen Dorf nahe der rumänischen Grenze, in dem die Bewohner ihr Wasser noch aus Brunnen schöpfen. Ein Auto würde im Schlamm stecken bleiben, ich versuche den Anstieg zu Fuß, rutschend, mehrfach kurz vorm Fallen. Als ich nach 20 Minuten vor dem Haus der Familie stehe, hängen Klumpen von Matsch an meinen Schuhen, die Hosenbeine sind verdreckt. Andrej, erfahre ich später, macht den Weg hinunter ins Dorf derzeit viermal täglich. Morgens trägt er erst seinen Ältesten, Ion, auf den Schultern zur Schule, dann Vasile, den Jüngeren. Mittags holt er die beiden Söhne auf dieselbe Weise wieder ab.

Andrei und Angela geht es für moldawische Verhältnisse einigermaßen gut. Im ärmsten Staat Europas verdienen die Menschen im Schnitt umgerechnet nur 30 Dollar pro Monat, heißt es in einem Bericht über Organhandel für den Europarat, der im Sommer erschienen ist. Mehr als die Hälfte der Moldawier sind arbeitslos. Auch die Eheleute Andrei und Angela beziehen kein geregeltes Einkommen, aber sie können sich und ihre Kinder versorgen. Zum Beispiel besitzen sie ein Stück Land, auf dem sie Gemüse für die Familie anbauen und Wein, den sie verkaufen. Sie halten Hühner und Gänse, die sie selbst essen, aber auch auf dem Markt anbieten. Und sie handeln mit Fisch: Für 8 Lai bekommen sie am Zuchtteich im Dorf ein Kilo, das sie in der Bezirkshauptstadt für 10 Lai verkaufen, macht 2 Lai Verdienst – der Betrag ist so gering, dass man ihn in Euro-Cent nicht ausdrücken kann.

Die Kuh, die ihnen Milch für die Kinder liefert, hätten sie sich von ihren gelegentlichen Einnahmen allerdings nicht leisten können. Ebenso wenig die dringend nötigen Reparaturen am Haus, das Andrei von seinen Eltern geerbt hat. Deshalb entschloss sich Angela vor vier Jahren zu einem riskanten Schritt. Sie wollte ihre Niere verkaufen, wie gut ein Dutzend anderer Bewohner von Mingir auch. Eine Nachbarin, die das Geschäft schon getätigt hatte, bot sich als Vermittlerin an. Die Operation sollte in der Türkei stattfinden, das sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem Umschlagplatz für Nieren entwickelt hat. Es ist nicht der einzige. Obwohl Organhandel international geächtet und in den meisten Ländern verboten ist, hat sich weltweit ein Schwarzmarkt etabliert. Wohlhabende Dialyse-Patienten reisen um den halben Erdball, um eine Niere zu kaufen – was ihnen zu Hause bei Strafe verwehrt ist.

Alles war vorbereitet, die Papiere lagen bereit. Doch dann wurde Angela schwanger. Sie bat die Brokerin um Geld für eine Abtreibung, vergebens: Der Eingriff würde sie zu sehr schwächen, und man wolle kein Risiko für den Nierenkäufer, bekam sie zur Antwort. Doch die Familie brauchte Geld, jetzt war das dritte Kind unterwegs. Also beschloss Andrei, anstelle seiner Frau eine Niere zu verkaufen. Im Sommer 1999 brach er auf, zusammen mit zwei anderen Dorfbewohnern. Über die Ukraine reisten sie nach Istanbul. Dort musste er zu medizinischen Tests in eine Klinik, dann wurde er operiert.

Angst? Andrei lacht verlegen. Nein, er habe keine Angst gehabt. Fast scheint es, als habe er die Zeit im Krankenhaus sogar genossen: Er bekam gutes Essen und Medikamente gegen die Schmerzen; es gab warmes Wasser zum Waschen und eine richtige Toilette; sogar einen Fernseher hatte er auf dem Zimmer. Mit 2900 Dollar in der Tasche reiste Andrei nach acht Tagen zurück, im Bus, die Fahrt dauerte mehr als 20 Stunden.

Einen Arzt hat er seit der Operation nicht mehr gesehen. Dabei sind in Deutschland für Nierenspender lebenslange medizinische Kontrollen gesetzlich vorgeschrieben. Falls sich dabei zeigt, dass die übrige Niere erkranken könnte, lässt sich mit Medikamenten gegensteuern und so verhindern, dass der Spender eines Tages selbst die künstliche Blutwäsche benötigt. Sollte Andrei irgendwann Probleme mit seiner einen Niere bekommen, sieht es schlecht für ihn aus. Medikamente kann er sich nicht leisten, die Möglichkeit der künstlichen Blutwäsche gibt es nicht in seinem Dorf. Das Geld für seine Niere ist längst ausgegeben, und Angela denkt wieder darüber nach, wie sie dazuverdienen könnte. Ihr neuer Plan: Sie könnte nach Italien gehen und dort als Haushaltshilfe arbeiten. Laut der Internationalen Organisation für Migration arbeiten bis zu einer Million der 4,3 Millionen Moldawier inzwischen im Ausland, die Überweisungen an die Familien zuhause machen mehr als die Hälfte des Bruttoinlandprodukts aus. Manche Frau, die sich auf eine Anzeige meldet, findet sich allerdings in der Prostitution wieder.

Oft sind es so genannte verwundbare Familien, aus denen die Opfer des internationalen Frauenhandels stammen, berichten Sozialarbeiter in der moldawischen Hauptstadt Chisinau. Das gilt auch für Organgeschäfte. Nach Angaben der moldawischen Journalistin Alina Radu, die in mühsamer Recherche mehr als 30 Fälle von Organhandel in ihrem Land aufdeckte, benötigen die meisten Spender psychologische und soziale Unterstzützung. Wie zum Beispiel Mihail Istrati aus dem Dorf Susleny nördlich von Chisinau. Geld verdient er nur gelegentlich, wenn er Nachbarn bei der Ernte hilft oder im Herbst die Walnüsse in seinem Garten sammelt und zum Markt trägt. Dennoch sagt Istrati, es habe keinen rechten Grund gegeben, warum er vor vier Jahren seine Niere verkaufte.

Natürlich brauchte er Geld, aber das war nicht entscheidend. Er ließ sich beschwatzen, von einem Kumpel aus dem Dorf, der seine eigene Niere verkauft hatte. Istrati ist Waise. Er wünscht sich heute, er hätte Eltern gehabt, die ihn beschützt hätten. Er ist sich sicher: Dann wäre er nicht auf das Angebot eingegangen.

Anders als Andrei und Angela wusste Mihail Istrati mit den 3000 Dollar für seine Niere nichts anzufangen. 400 Dollar nahm ihm allein der Organ-Broker im Dorf ab. Dann waren da noch Freunde und Verwandte, die ihren Teil von seinem plötzlichen Reichtum abhaben wollten. Den Rest gab er für Kleidung und Essen aus und für Decken, die er seiner über 90-jährigen Großmutter schenkte. Dem 29-Jährigen blieben nur ein neuer Fernseher und die 25 Zentimeter lange Narbe als Erinnerung an die Operation.

Istrati hat den Empfänger seiner Niere nicht kennengelernt, nur einmal kurz gesehen, auf dem Krankenhausflur: einen übergewichtigen Mann mit weißem Haar, schätzungsweise 60 Jahre alt. Der Patient war Israeli, sie konnten nicht miteinander reden. Von einer Krankenschwester erfuhr Istrati, dass der Mann sich das Leben mit der neuen Niere einiges hatte kosten lassen: rund 100.000 Dollar, der übliche Tarif für eine illegale Transplantation in der Türkei. Dass er selbst nur einen Bruchteil der Summe bekam, empörte ihn, aber er wagte nicht zu protestieren. Am Ende wäre er womöglich ganz leer ausgegangen.

Istrati ist ein schüchterner Mann. Zudem hatte ihm der örtliche Broker eingeschärft, er dürfe nicht von seinen Erfahrungen reden. Doch im Sommer reiste Istrati auf Einladung des Europarats nach Straßburg, um vor einer Kommission der parlamentarischen Versammlung zu berichten. Den Kontakt vermittelte die Journalistin Alina Radu. „Ich möchte, dass sich niemand mehr überreden lässt, ein Organ herzugeben, um Geld zu verdienen“, erklärte Istrati den Parlamentariern. „Ich fühlte mich schrecklich ausgenutzt.“

Martina Keller