Ein Herz für Kinder

Professor Jochen Weil behandelt junge Patienten mit Herzfehlern

(aus Hinz&Kunzt 135/Mai 2004)

Glaube, Liebe, Hoffnung – wenn es etwas gibt, das alles drei symbolisiert, dann das Herz. Was aber, wenn das Herz kaputt ist? Nicht, weil es zerbrochen oder verloren gegangen ist im Laufe des Lebens, sondern von Beginn an einen Fehler hat? Professor Dr. Jochen Weil leitet die Klinik für Kinderkardiologie am Universitätsklinikum Eppendorf. Ein Ort der Liebe, der Hoffnung und manchmal auch des Glaubens.

Ohne Arbeit geht es nicht

Kinder in Bolivien zwischen Schule und Broterwerb

(aus Hinz&Kunzt 131/Januar 2004)

Ein Kinderalltag in Bolivien beginnt häufig mit Arbeit und hört mit Arbeit auf. Die Schule kommt dabei meist zu kurz. Nur wenige haben das Glück, beides miteinander vereinbaren zu können. Ein Projekt in der Großstadt Santa Cruz gibt Kindern und Jugendlichen eine Chance, Bildung und Broterwerb miteinander zu vereinbaren.

Auf dem Busbahnhof von Santa Cruz herrscht mittags Hochbetrieb. Lange Reihen von kleinen Stadtbussen schieben sich stockend durch die Gassen. Schulkinder drängeln auf Gehsteigen, Erwachsene eilen vorbei. Im Schatten blauer Plastikplanen warten Straßenverkäufer auf Kundschaft. Radiogedudel, Motorenlärm, Dieselgestank. Dazwischen der Duft von Gebratenem.

Jasmani wartet geduldig vor Bus 105. Er streicht seine rötlich gefärbten Haare aus der Stirn. Ein silberner Ring und ein Freundschaftsband zieren die schlanke Hand. Nachdem der letzte Fahrgast eingestiegen ist, schwingt sich Jasmani hinter den Busfahrer. „Meine sehr verehrten Fahrgäste“, erklingt seine helle Stimme. Das Tuscheln und Kichern lässt nach. Alle lauschen dem freundlichen Jungen, der aufrecht im Gang steht. Er macht einen guten Eindruck mit seinem hellen Jeanshemd und der sauberen Hose. „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag und entschuldige mich, dass ich störe.“

Jasmani verkauft Gedichte. Kleine Heftchen über die Liebe oder über Jesus Christus. Verdient pro Stück 1,25 Boliviano. Bei rund 25 Heftchen am Tag macht das – umgerechnet – knapp fünf Euro. Das meiste Geld liefert er bei seiner Mutter ab, die vor ihrem Häuschen in einem Außenbezirk selbst gemachte Hamburger verkauft. Den Vater kennt Jasmani nur vom Foto: „Er wollte mich als Kind mit einem Lappen ersticken. Da ist meine Mutter mit mir abgehauen.“ Früher schwänzte Jasmani oft den Unterricht, um sich und seine Mutter zu ernähren. Seit sechs Jahren geht er vor der Arbeit zur Schule. Nächstes Jahr beendet der 16-Jährige seine Grundschule. „Ich hatte Glück, dass mich ein Freund zu Mi Tai gebracht hat“, sagt er zwischen zwei Busauftritten. „Die Leute kümmern sich um uns und passen auf, dass wir nicht unter die Räder kommen.“

Mi Tai ist ein Projekt für arbeitende Kinder und Jugendliche. „Wir wollen diesen Kindern ein würdevolles Leben ermöglichen“, sagt Martha Estensoro. Die ehrenamtliche Leiterin betreut mit drei Erziehern und einer Praktikantin 320 Kinder zwischen sechs und 17 Jahren. Viele von ihnen finden in dem Projekt, was der Name in der Indianersprache Guarani bedeutet: „Unser Haus“. In dem Gebäude hinter den hohen Mauern fühlen sie sich geborgen. Hier bekommen sie ein preiswertes Essen, hier können sie spielen, ruhen, Probleme besprechen, Freundschaften schließen. Und hier gehen sie zur Schule.

Santa Cruz de la Sierra ist das Wirtschaftszentrum Boliviens. Gut eine Million Menschen – ein Achtel der Gesamtbevölkerung – leben in der Tieflandmetropole. Tendenz: rasant steigend. Santa Cruz zieht vor allem Arme an. Davon hat der Andenstaatgenug. Zwei Drittel der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, in ländlichen Regionen sind es bis zu 95 Prozent. Tausende von ihnen hoffen vergeblich auf ihr großes Glück in Santa Cruz. Die meisten halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, putzen Schuhe oder verkaufen alles Mögliche auf den Straßen. Rund 20.000 von ihnen sind Kinder. Kinderarbeit ist in Bolivien gesetzlich verboten. Schulpflicht besteht für die Dauer von fünf Jahren auf dem Land und von sechs Jahren in der Stadt. Dennoch brechen viele die Schule ab. „Die Mitarbeit der Kinder ist für breite Teile der Bevölkerung lebensnotwendig“, wettert Martha Estensoro. „Das Verbot der Kinderarbeit geht an der Realität völlig vorbei!“

Aus diesem Grund entstand 1996 Mi Tai. „Wir wollen arbeitende Kinder in ihren Rechten stärken, ihre Arbeitsbedingungen verbessern, Berufsperspektiven bieten und gleichzeitig Prävention betreiben“, erklärt Erzieherin Dolly Rivas. Die Ausbildung spielt dabei eine zentrale Rolle. Auch bei Mi Tai besteht Schulpflicht. Wer dreimal fehlt, fliegt raus. Drogenkonsum, Diebstahl oder der Besuch von Spielhöllen sind weitere Gründe.

Dolly Rivas zwängt sich durch das Gewusel der Markthalle Abasto. Hier betreut sie die „carreteros“: Jungen, die für wenig Geld die Einkäufe auf Schubkarren transportieren: Fleisch, Gemüse, Stoffe, Küchenartikel, Eisenwaren. Der Abasto ist ein riesiger Markt mit 3.776 offiziellen Ständen. Dazwischen hocken Indianerfrauen auf Planen und bieten Orangen, Melonen oder Kartoffeln an.

Die Jungs von Mi Tai sind mit ihren grünen Kitteln schon von weitem erkennbar. Dolly grüßt ihre Schubkarrenfahrer, knufft ihnen liebevoll in die Seite. Vor allem den Halbstarken schaut sie eindringlich in die Augen: „Hallo Roberto, kommst du am Sonnabend zur Gesprächsrunde?“ Die Stippvisiten am Arbeitsplatz dienen der Kontrolle, aber auch der Konfliktlösung: „Es gibt immer wieder Probleme mit anderen carreteros, die unsere Jungen erpressen oder bedrohen“, weiß die 30-jährige Erzieherin. „Manchmal bedrohen sie die Jungen sogar mit dem Messer.“

Der 12-jährige Diogenes arbeitet mit seiner Schubkarre seit einem halben Jahr auf dem Markt. Seine Eltern haben ihn an eine Tante abgeschoben. Für sie buckelt er nun zwölf Stunden am Tag, um am Abend 20 Boliviano abzuliefern. Kleinlaut pirscht er sich an Dolly ran. Er kennt die Jungen von Mi Tai und möchte gerne dazugehören. Dolly hört ihm aufmerksam zu, fragt nach und beschließt: „Okay, ich werde sehen, dass ich mit deiner Tante spreche.“ Im Gegensatz zu Straßenkindern haben die Mitglieder von Mi Tai Familienanschluss und schlafen zu Hause. Auch wenn die häusliche Situation schwierig ist.

Viele von ihnen kommen aus kinderreichen Familien. Die Väter haben sich meistens aus dem Staub gemacht. Oder sie trinken und arbeiten selbst als Handlanger für einen Hungerlohn. „Unser Kinder arbeiten auf der Straße“, betont Leiterin Martha Estensoro. „Es sind keine Kinder von der Straße.“ Die Stadt zahlt 12.000 Boliviano im Monat. Das sind theoretisch vier Boliviano Essensgeld täglich für 100 Kinder – umgerechnet rund 65 Cent pro Nase für zwei Mahlzeiten. Doch über Spenden aus der Nachbarschaft und einen geringen Eigenanteil der Kinder verpflegt Mi Tai tatsächlich dreimal so viele Kinder und finanziert außerdem noch einen Zahnarzt. Ein Arzt kommt regelmäßig vorbei, ohne Geld zu verlangen.

Wasser, Strom sowie die Gehälter für Erzieher und Lehrer zahlt die Stadt extra. Für das Gelände hat Mi Tai ein 30-jähriges Wohnrecht. „Zum Glück“, so die Leiterin. „Sonst wären wir schon eingegangen wie viele andere Projekte.“ Die Schulglocke läutet zur Pause. Die Großen stürzen auf den betonierten Innenhof zum Fußballspielen. Viele sind barfuß, einer trägt unterschiedliche Schuhe. Die sengende Mittagshitze macht ihnen nichts aus. Sie rennen, lachen, schnaufen und fluchen. Im Schatten der Backsteinmauern lungern die Erstklässler herum. Kleine Mädchen kämmen sich die Haare. Ihr Kichern hallt unter dem Vorbau der Waschräume wider.

Jasmani schlendert zum Speisesaal. Gleich gibt es Suppe mit Reis und Tee. Danach geht er wieder zum Busbahnhof, Geld verdienen und ein bisschen sparen. Denn Jasmani hofft wie alle Kinder von Mi Tai, dass er eine weiterführende Schule besuchen kann und einen richtigen Beruf ergreifen wird. „Ich möchte gerne wie Dolly als Erzieher arbeiten“, sagt er und geht verträumt zum Essen.

Constanze Bandowski

Apfel ist nicht gleich Apfel

Von wegen Chancengleichheit: In der Vorschule zeigt sich, wer zu Hause gefördert wird

(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)

Ein Apfel ist rund, fast wie ein Kreis. Er ist rot, manchmal auch etwas grün und gelb, und er hat einen Stiel. Das weiß auch Isabel. Schließlich ist sie sechs Jahre alt und hat schon oft einen Apfel in der Hand gehabt. Sie nimmt ihre Stifte aus der Ablage unter ihrem Tisch und betrachtet etwas hilflos und skeptisch das vor ihr liegende Arbeitsblatt. Es ist neun Uhr morgens, ein ganz gewöhnlicher Tag in einer Vorschule mit ganz ganz gewöhnlichen Kindern, in einem privilegierten Stadtteil Hamburgs.

Ein Blick zum Nachbarn hilft Isabel auf die Sprünge: Konzentriert verbindet sie die eng zusammenstehenden Punkte miteinander. Die Verbindungslinie wird etwas krumm und schief. Aber nach einem prüfenden Blick sieht Isabel recht zufrieden aus. Als sie fertig ist, staunt Isabel nicht schlecht: Die zittrigen Umrisse eines Apfels liegen vor ihr. Ganz erfreut über das Ergebnis beginnt sie mit dem Ausmalen. Ein bisschen Rosa hierhin, dann noch etwas Lila, und natürlich darf auch Gold auf keinen Fall fehlen. Dass am Schluss das gesamte Blatt und nicht nur der Apfel ausgemalt ist, stört Isabel überhaupt nicht.

Auch Tine macht sich an das Arbeitsblatt mit dem Apfel. Sie verbindet sorgfältig die Punkte miteinander, sodass eine gleichmäßige Kontur eines Apfels entsteht. Dann überlegt sie sich, welche Farben sie verwenden möchte und nimmt sie aus dem Kasten. Tine malt nicht über den Rand. Sie lässt rot, grün und gelb ineinander fließen und lässt einen Apfel entstehen, der fast schon plastisch wirkt.

„Schon jetzt stelle ich fest, welch ungleiche Voraussetzungen die Kinder von zu Hause mitbringen“, sagt Elisabeth Hoffmann, die seit fünf Jahren als Sozialpädagogin in Vorschulen tätig ist. „Schließlich haben die Kinder schon mindestens fünf Jahre ihres Lebens hinter sich“, sagt Hoffmann, „und je nachdem, wie die Eltern sich kümmern, ist in der Zeit schon unheimlich viel an Entwicklung gelaufen.“ Deshalb sieht die 39-jährige Vorschullehrerin es als Aufgabe der Vorschule an, Ungleichheiten entgegenzuwirken.

Bevor Hoffmann ihren Dienst in dieser Vorschule antrat, arbeitete sie ausschließlich in den sozialen Brennpunkten Hamburgs. Dass sie in einem privilegierten Stadtteil unter ganz anderen Voraussetzungen arbeiten würde, war ihr klar: In den Brennpunkten kamen Kinder ohne Frühstück in die Vorschule, „ungewaschen und verwahrlost“. Deshalb wundert es Hoffmann auch nicht, wie „ungleich die Chancen auf eine gute Entwicklung und erfolgreiche Zukunft in unserer Gesellschaft sind“. Sie konnte beobachten, wie viele Kinder schon im harten Kampf des Lebens standen: „Wenn Kinder morgens ihre Eltern wecken müssen, mit fünf Jahren alleine zur Vorschule kommen, dann bleibt kein Raum, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln.“

In ihrer jetzigen Wirkungsstätte sehe das ganz anders aus, „die materiellen Grundbedürfnisse sind in diesem Stadtteil auf jeden Fall gedeckt“, beobachtet Hoffmann. Dafür fehle es in den Familien aber manchmal an Zeit und Ansprache.

Justus kommt immer sehr früh in die Vorschule. Oft sitzt er schon alleine auf den Bänken im Vorraum, lange bevor jemand da ist. Justus sieht nicht fröhlich aus. Seine Augen gucken müde zur Treppe, er wartet auf die Vorschullehrerin. Justus hat noch Straßenschuhe und seine Jacke an, denn seine Eltern hatten keine Zeit, ihm beim Ausziehen zu helfen. Vielleicht haben sie ihn nicht einmal bis in den ersten Stock gebracht, sondern unten vor dem Haupteingang verabschiedet. Eigentlich weiß Justus, dass er seine Jacke aus- und seine Hausschuhe anziehen soll, wenn er in die Vorschule kommt, aber weil er noch so müde ist, vergisst er das immer wieder. Wenn dann Elisabeth Hoffmann die Treppe heraufkommt, wartet Justus oft schon eine halbe Stunde darauf, ihr etwas erzählen zu können.

Justus’ Haare sind nicht gekämmt, und auch seine Fingernägel sind nicht geschnitten, aber das stört ihn nicht. Denn Justus hat einen Gameboy bekommen, den er stolz vorführt. „Du, Frau Hoffmann, weißt du was? Den hab’ ich von meiner Mama bekommen, und heute Mittag bekomme ich eine Angel“, erzählt Justus, denn jeden Tag darf er sich etwas Neues zum Spielen aussuchen.

Elisabeth Hoffmann glaubt, dass die Vorschule ein „Ort des Vertrauens“ sein muss. „Wenn man die Chance hat, bei Kindern etwas in Gang zu setzen, sie zu motivieren und ihnen Freude an Neuem und am Lernen zu geben, dann entsteht eine starke emotionale Bindung“, sagt Hoffmann. Kinder würden nur unbefangen an Neues herangehen können, wenn sie keine Angst davor haben müssen, Fehler zu machen.“ Sie ist überzeugt davon, dass die Vorschule benachteiligte Kinder so fördern könnte, dass sie trotz ihrer Herkunft in nichts nachstehen müssen – in kleinen Fördergruppen oder auch durch Einzelunterricht. Aber Hoffmann meint auch, dass es an personeller Ausstattung fehle, um diesem Ziel gerecht zu werden, denn es brauche vor allem Zeit, um Kinder individuell zu fördern.

„Die Vorschule bereitet auf die Grundschule vor, und deshalb ist es wichtig, den Kindern Selbstbewusstsein zu geben, damit sie Spaß am Lernen haben, ohne zum Einzelkämpfer zu werden“, erklärt sie. Das passiere erstaunlich oft in finanziell gut abgesicherten Stadtteilen. „Allerdings lassen sich Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft gegenüber anderen hier oft noch gut entwickeln“, sagt Hoffmann, die in sozialen Brennpunkten oft das Gegenteil feststellen musste.

Auch einige ausländische Kinder gehören zu Elisabeth Hoffmanns Gruppe. So wie Cham. Er ist gerade ziemlich frustriert. Er soll einen Igel ausschneiden. Seine Schere hält er in der Hand, als ob er gar nicht recht wüsste, wozu man ein solches Gerät benutzt. Vielleicht hält er sie auch nur in der falschen Hand.

Doch das mit dem Nachfragen ist nicht so einfach, denn Cham spricht kaum Deutsch. Der Fünfjährige ist das einzige Kind in dieser Vorschulklasse, das türkische Eltern hat. Zwar ist Cham in Deutschland geboren, er war vor der Vorschule aber noch nie in einem Kindergarten oder einer Spielgruppe. Seine Eltern arbeiten den ganzen Tag, und so passt seine Oma auf ihn auf, die nur türkisch mit ihm spricht.

Nach kurzer Zeit versucht Cham es mit der anderen Hand. Das Schneiden gelingt ihm schon besser. Doch es fällt ihm schwer, auf der Linie zu bleiben, denn Cham kann sich schlecht konzentrieren. Lieber schaut er, was andere Kinder machen, die an ihm vorbeilaufen.

„Der Sinn der Vorschule ist nicht darauf beschränkt, Sprachschwierigkeiten zu beseitigen“, stellt Hoffmann klar. Doch oft beschränke sich vieles darauf, „denn Sprache ist die Voraussetzung, Inhalte zu begreifen.“

„Als Mediziner, als Anwalt, als Betriebswirt: Für alles braucht man ein Diplom“, sagt Hoffmann, „nur nicht, um Kinder zu erziehen.“ Oft fasst sie sich an den Kopf, wenn sie sieht, dass viele Menschen sich scheinbar kaum Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder machen und nicht merken, wieviel Schaden dadurch schon bei kleinen Kindern angerichtet wird. „Schließlich kann sich ein Kind seine Erziehung nicht aussuchen.“

Annika Sepeur