Her mit dem Strampler!

In der „Geschwisterschule“ bereiten sich Kinder auf Nachwuchs in der Familie vor

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Sonnabendnachmittag in der Geburtshilfe des Allgemeinen Krankenhauses Altona. Die vierjährige Helene hat soeben ein Geschwisterchen bekommen. Es ist rund 50 Zentimeter groß, etwa vier Kilo schwer und bereits bekleidet mit Hemd und Strampler. Der Kopf fällt, wie bei jedem Baby, zurück, wenn man ihn nicht stützt. Aber warum schreit das kleine Kind nicht, als Helene es an einem Arm unbekümmert in die Höhe schwenkt?

Das Geschwisterchen ist eine Puppe. Sie war in einer blauen Tasche, bevor sie das Licht dieses Tages erblickte. Ort des Geschehens ist auch nicht der Kreißsaal, sondern ein Konferenzraum, der mit Luftballons dekoriert ist. Helene besucht die „Geschwisterschule“, einen zweistündigen Kurs für Kinder, die demnächst Bruder oder Schwester bekommen. An der Puppe wird sie nachher erproben, wie man den Nachwuchs anfasst. Und wie besser nicht.

Wenn ein Baby kommt, verändert sich die Welt des älteren Kindes. Bei aller Freude: Es muss die Eltern nun teilen, empfindet vielleicht Konkurrenz und Eifersucht, fühlt sich ausgeschlossen oder ist einfach unsicher, was man mit diesem runzeligen Wesen anstellen soll, das zum Spielen doch nicht taugt.

„Wir zeigen den Kindern ganz praktisch, wie sie mit dem Säugling umgehen können“, erklärt Jasmin Szameitat, die den Kurs in Altona mit drei Kolleginnen leitet. Die künftigen Geschwister lernen, dass sie etwas tun können und nicht abseits stehen müssen. Sie hören, wie wichtig sie für das Baby sind – schließlich können sie all das schon, was ihr Bruder oder ihre Schwester erst noch lernen muss. Das stärkt das Selbstbewusstsein, erst recht mit dem „Geschwisterdiplom“, das sie sich ins Kinderzimmer hängen können.

In den USA sind solche Angebote üblich, in Deutschland noch rar. In Hamburg ist Hilkka Zebothsen, Öffentlichkeitsreferentin beim Landesbetrieb Krankenhäuser, die Mutter der Kurse: „Das Projekt ist mein Baby“. Sie hörte über eine Freundin von der Idee, recherchierte, schrieb ein Konzept. Im Juni fand im AK Wandsbek der erste Kurs statt, weitere folgen seitdem vierteljährlich. Im Oktober begannen monatliche Veranstaltungen im AK Altona. Demnächst will das AK Barmbek starten.

Das kostengünstige Angebot – Wandsbek verlangt 5 Euro, Altona 10 Euro – ist „Marketing fürs Krankenhaus“, sagt Hilkka Zebothsen. Schließlich ist die Geburtshilfe ein Bereich, in dem die Patienten frei zwischen den Häusern wählen; die Kliniken müssen die Zahler umwerben. In Altona haben sich diesmal drei Mädchen (die jüngste zweidreiviertel) und drei Jungen (der älteste acht) zum Diplom eingefunden. Die Eltern bleiben draußen. Einige Kinder halten sich deshalb an mitgebrachte Plüschbären, andere kuscheln sich bei Jasmin Szameitat und ihren Kolleginnen an.

Die anfängliche Zurückhaltung verfliegt schnell. Kinderkrankenschwester Ulrike Vick schlägt ein Buch auf – „Woher die kleinen Kinder kommen“ – und erklärt anhand der Zeichnungen, wie ein Baby in den Bauch der Mutter gelangt und wie hinaus.

Die Kinder kennen sich schon gut aus in der Welt von Scheide und Pipimann, von Samen-Rennbahn und Fruchtwasser. Star der Aufklärung ist der fünfjährige Ciwan, der seine Antworten stets mit einem ausholenden „Also…“ einleitet. Also, er weiß, was eine Nabelschnur ist und dass die Milch in Brusthöhe aus der Mutter kommt. Nur die Dauer einer Schwangerschaft legt er mit zwei Jahren etwas zu großzügig fest.

Theoretisch gerüstet, geht’s in die Praxis. Lilli hat bereits eine der Puppen adoptiert, die erst später auf dem Programm stehen. Sie schleppt das Baby, das halb so groß ist wie sie selbst, während des Ausflugs durchs Geburtshilfezentrum vergnügt mit. Etwas ratlos stehen die Kinder in einem der Geburtszimmer. Auf diesem Bett sollen Frauen unter großen „Bauchschmerzen“, wie Ciwan weiß, ein Kind zur Welt bringen? Das übersteigt – wen wundert’s – das Vorstellungsvermögen.

Da ist Zimmer 113 schon anschaulicher, wo zwei Neugeborene auf dem Arm ihrer Mütter schlafen. Der Junge Bo ist sechs Tage alt, das Mädchen Jette zwei. Leise und mit großen Augen stehen die Kinder vor den Babys und streicheln vorsichtig über die faltigen Händchen. Weiter geht’s zum Kardiogramm, das den eigenen Herzschlag hörbar macht. Beim Geschwisterchen, noch im Bauch der Mutter, soll man ja die Herztöne hören können. Jetzt erfahren die Jungen und Mädchen, dass sie so etwas auch haben – kein Grund also, auf das Baby neidisch zu sein.

Zurück im Konferenzraum: Die Kinder stärken sich mit Fruchtjoghurt und Vitaminsaft von bekannten Kindernahrungs-Herstellern – keine Geburtshilfe ohne Werbegeschenke. Dann dürfen die Kids zur Tat schreiten: Ulrike Vick gibt jedem eine Baby-Puppe, die Kinder legen sie auf weiße Tücher und nehmen den Kampf mit Strampler und Body auf, um bis zur Windel vorzudringen. Wichtigste Lektion: immer den Kopf des Babys stützen. Das gilt auch, als die Kinder die Puppen in eine blaue Plastikwanne legen und waschen spielen. Anschließend: abtrocknen, neue Windel anlegen und die Kleidung wieder antüdeln.

Direkt anstrengend, so ein Geschwisterchen. Verständlich, dass es gelegentlich zu grob unsportlichem Verhalten kommt: Ein Junge stützt sich auf dem Gesicht der Puppe ab. Ein Mädchen wendet sich lieber ihrem Teddy zu, wodurch der Kopf des Babys mit einem unschönen „Klack“ auf dem grauen Teppichboden aufschlägt. Und ein anderer Junge erkundigt sich schon mal nach den Geschenken, die für den Abschluss versprochen wurden.

Freundlich greifen die vier Leiterinnen ein, zeigen, helfen, ermuntern. Als die Eltern zum Abholen kommen, können alle sechs Kinder mit Bravour vorführen, wie sie ein Kleinkind tragen. Alle sind gewachsen in diesem Kurs. Sogar die Puppen: Als Ciwan stolpert und seine Puppe hinfällt, sagt er souverän: „Macht nichts, das Baby ist ja jetzt schon älter.“

Stolz nehmen die Kinder ihre „Diplom“-Urkunde entgegen sowie eine Medaille zum Umhängen, die eine Kollegin aus Pappe und Glitzersternen gebastelt hat. Das Namensschild, das sie für alle Zeiten als wichtige Mitarbeiter des AK Altona ausweist, dürfen sie behalten.

Für den Start ins Geschwisterleben gibt es außerdem eine Tragetasche mit Babyöl, Seife und Creme. Sicherheitshalber ist auch die „Milumil-Schlaflied-Hitparade“ auf CD dabei – falls den Profi-Geschwistern der Nachwuchs doch mal auf die Nerven geht.

Detlev Brockes