Tante Emmas Auferstehung

Ein Projekt erweckt die Dorfläden in Schleswig-Holstein zu neuem Leben

(aus Hinz&Kunzt 129/November 2003)

Gewonnen. 2,50 Euro zwar nur, aber immerhin. Für Tatjana Kramp hat sich der Kurztripp gelohnt. Die junge Frau kommt regelmäßig zum Lottospielen nach Kasseedorf. In dem rund 800 Einwohner-Nest in Ostholstein existiert nämlich ein Dorfladen. In dem kann man freilich nicht nur Lotto spielen, sondern vor allem Lebensmittel kaufen. Oder Briefmarken oder Bücher. Und Geld abheben oder Pakete aufgeben. Selbst Bügeleisen und Wasserkocher sind am Otto-Versand-Schalter zu haben. Im Nachbarort, in dem Tatjana Kramp lebt, „gibt’s nicht mal einen Zigarettenautomaten“. Für jede kleinste Besorgung müsste sie mit dem Auto in die nächst größere Stadt fahren, nach Eutin oder Neustadt. Wenn es in Kasseedorf nicht den Dorfladen „Kiek in“ gäbe.

Das war nicht immer so. Auch Kasseedorf dämmerte eine Zeit lang als „reines Schlafdorf“ vor sich hin. Wie fast überall auf dem Lande – nicht nur in Schleswig-Holstein – kapitulierte der letzte Tante-Emma-Laden vor Aldi, Lidl und Co. Das war 1996 und „ganz schön bedrückend“, findet Karl Schrader. Der 60-Jährige verbrachte sein Leben im Abstand von 200 Metern zum Dorfladen. Schon als kleiner Junge flitzte er rüber und kaufte für zwei Pfennige rote Himbeer-Bonbons. Später erledigte er sämtliche Einkäufe dort. Mit der Pleite des Ladens starb auch ein dörflicher Treffpunkt. „Bei mir“, sagt er, „hinterließ das ein großes Loch.“

Drei Jahre lang rottete das alte Reetdachhaus am Dorfplatz, der einzigen Straßenkreuzung des Ortes, vor sich hin. Dann hörte die Gemeinde von einem Projekt der schleswig-holsteinischen Landesregierung. Die betrachtete seit längerem mit Schrecken, „wie die ganze Versorgung auf dem Land kaputtgeht“, sagt Christina Pfeiffer vom Kieler Innenministerium. „Alle müssen ins Auto“ – auch die Alten, die sich das vielleicht gar nicht mehr zutrauen. 1999 entwickelte das Referat für integrierte ländliche Entwicklung daher einen Plan, um die Grundversorgung der ländlichen Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen vor Ort zu retten: die MarktTreffs.

Sie bestehen in der Regel aus einem Lebensmittelladen und Dienstleistungen wie Post, Bankautomat, Annahmestellen für Reinigung, Fotoarbeiten oder Lotto, Internet-Zugang – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Zusätzlich sieht das Projekt einen Treffpunkt für die Dorfbewohner vor. Damit wird nicht nur das Gemeinschaftsleben im Dorf gestärkt. Die Menschen sollen auch aktiv die Angebotspalette an Lebensmitteln oder Dienstleistungen mitbestimmen. Dahinter steckt die Hoffnung, dass die Menschen ihren MarktTreff wirklich mittragen und nutzen und er somit auf lange Sicht wirtschaftlich arbeitet.

Dass es ein harter Job ist, die Tante-Emma-Läden wieder zu beleben, „lässt sich nicht wegdiskutieren“, sagt Christina Pfeiffer. Die meisten Leute sind mobil, den Großeinkauf erledigen sie woanders. Die Startphase sponsern daher die Europäische Union und das Land Schleswig-Holstein mit 50 Prozent an den Gesamtinvestitionen. Außerdem bietet das Land den MarktTreff-Betreibern kostenlos betriebswirtschaftliche Schulungen und Beratung. Im Gegenzug verpflichtet sich die Gemeinde, das Projekt mindestens zwölf Jahre lang am Leben zu halten. Insgesamt 50 MarktTreffs sollen in Dörfern mit 700 bis 1900 Einwohnern entstehen. 13 sind es bisher.

„Jetzt schlaf ich mal aus“, sagte Linda Körber, da hatte sie schon mehrere Monate ohne Unterbrechung als Marktleiterin im „Kiek in“ hinter sich. Aber mit dem Ausschlafen klappte es dann nicht. Wenn man jeden Morgen um fünf Uhr aufsteht, um Brötchen und Brot zu backen, wacht man schließlich früh auf, ob man will oder nicht. Frische Brötchen sind etwas, was die Kasseedorfer gerne im MarktTreff kaufen. „Die bieten wir ab 6 Uhr an“, sagt die 54-Jährige, die im Nachbarort geboren wurde. Am Sonntag steht Linda Körber ebenfalls im Laden – es könnte ja sein, dass jemandem frische Schlagsahne für den Sonntagskuchen fehlt. „Die muss ich dann doch anbieten!“, findet sie. Abends geht Linda Körber als Letzte, gegen 19 Uhr. Wenn nicht gerade an den drei PC-Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich ein Computerkurs stattfindet. Dann schließt sie den MarktTreff um 21 Uhr.

Das zähe Engagement der Marktleiterin ist großartig, aber offenbar gerade in Kasseedorf nötig. Seit Mai 2000 besteht das „Kiek in“, aber das Projekt kam nicht in Schwung. Der Marktleiter sei ihnen unsympathisch gewesen, sagen Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand. Angeblich hat er die Wünsche der Kunden nicht umgesetzt. Kein Wunder also, dass den Menschen die Lust auf ihren Dorfladen verging. Wie überall steht und fällt eine Idee mit denen, die sie umsetzen. Seit acht Monaten rödelt nun Linda Körber dafür, den Ruf des MarktTreffs aufzumöbeln. Betreiber ist die Ostholsteiner Behindertenhilfe. Ihr Ziel ist nicht allein der wirtschaftliche Betrieb des MarktTreffs, sondern gleichzeitig die Schaffung zweier Arbeitsplätze für Menschen mit Handicaps. So bekommt die Aufgabe, den Dorfladen wieder zu beleben, einen zusätzlichen Sinn. Aber die Marktleiterin will trotzdem, dass sich das „Kiek in“ rentiert – allein schon, um der Auzubildenden und den Angestellten den „Alltag eines ganz normalen Ladens“ bieten zu können. Soweit ist es zwar noch lange nicht. Aber seit es Linda Körber gibt, gibt es nicht nur endlich genügend frische Brötchen. Auch die Wurst- und Käsetheke steht, die sich die Kasseedorfer so dringend gewünscht haben.

Vor dem großen Panoramafenster, das zum Dorfplatz zeigt, ist eine kleine Sitzecke eingerichtet. Schon haben ein paar alte Damen entdeckt, dass man dort bei einem Tässchen Kaffee hervorragend sitzen und das Kommen und Gehen der Menschen beobachten kann. Für die Weihnachtszeit hat Linda Körber Buden organisiert, um vor dem „Kiek in“ einen kleinen Markt unterhalten zu können. Der Dienstleistungsbereich wurde um einen Paketdienst aufgepeppt. Und der Computerkurs ist das erste zarte Gemeinschafts-Pflänzchen, das im „Kiek in“ gedeiht. Das neu erwachte Wohlwollen der Kasseedorfer überträgt sich auch auf die Stimmung im Laden: „Das Verhältnis zu den Kunden ist gut bis familiär“, sagt Axel Rudolph, der früher bei Aldi beschäftigt war und seinen Arbeitsplatz im MarktTreff über die Behindertenhilfe erhalten hat. „Hier ist einfach immer ein Klönschnack drin – das ist ganz anders als in den großen Supermärkten.“

Rote Himbeer-Bonbons, die kann man als Kasseedorfer inzwischen auch wieder bekommen. Die sind heute zwar teurer als vor 50 Jahren. Aber dafür, dass es jetzt in 200 Metern Abstand zu seinem Wohnhaus wieder einen Dorfladen gibt, zahlt Karl Schrader „gerne auch mal ein paar Cent mehr“. Er hofft, dass bald nicht nur die Kasseedorfer erkennen, wie wertvoll so ein MarktTreff ist. „Das ist doch ’ne Bereicherung für die ganze Gegend“, sagt er. „Hier haben alle gewonnen.“

Annette Woywode