Von tierischen Teebeuteln und der Dreiheiligkeit

Fleischeslust bei Hinz&Kunzt: In seinem Restaurant Bullerei verrät Tim Mälzer unserer Kochgruppe, wie man Rind und Huhn perfekt zubereitet. Diese und noch viel mehr spannende Geschichten und Rezepte rund ums Essen servieren wir ab Mitte November in unserem neuen Hinz&Kunzt-Sonderheft „Hamburger Kochschule“.

01_HK213_Titel_RZ2.inddWie bereitet man ein saftiges Steak zu, ohne es zu Tode zu braten? Was muss beim Schmoren beachtet werden? Und woran erkennt man überhaupt gutes Fleisch? Wir haben viele Fragen mitgebracht, die wir Tim Mälzer stellen wollen. Der Chef der „Bullerei“ will uns in einem Grundkurs „Fleisch“ in die Geheimnisse der Fleischzubereitung einweihen. Ihm zur Seite steht der Fleischlieferant seines Vertrauens: Schlachter Michael Wagner.

Wir stehen erwartungsvoll auf der einen Seite des Küchentresens, um den sich auch in Tim Mälzers Kochsendung alles dreht. Der Meister, der Spaß am Kochen vermitteln will, steht auf der anderen und betrachtet prüfend das Fleisch. Schlachter Wagner hat reichlich Ware mitgemacht: Brust und Oberschalendeckel vom Rind, Hühnerkeulen, Schweinebauch sowie Lammnacken und -brust. Das ist selbst für einen Profi kaum in drei Stunden zu schaffen. Tim Mälzer entscheidet sich für Rind und Huhn. „Damit können wir kurzbraten, schmoren und kochen.“ Aber vorher möchten wir noch wissen, woran man denn nun die Qualität von Fleisch erkennt? Es muss gut abgehangen sein und hat seinen Preis. „Für 12 Euro gibt es kein Filet“, erklärt Tim Mälzer knapp. „Ich esse gern Fleisch, aber am Ende des Tages liegt ein Tier vor uns. Und bei billigem Fleisch wird immer am Tier gespart.“ Nachdenklich betrachtet er die Verkäufer und fügt hinzu. „Ich weiß, dass ihr euch finanziell einschränken müsst, aber in meinem Leben dreht sich eben alles um Essen und Genuss.“ Außerdem bereiten wir heute ja auch aus relativ günstigen Fleischteilen wie der Brust eine leckere Mahlzeit zu.
Wir beginnen mit dem Schmorgericht; das braucht am längsten. Michael Wagner reicht ihm die Oberschale, ein Teil der Innenseite der Keule. Deren Deckel ist ideal für Gulasch. „Wer möchte das Fleisch zerteilen?“, fragt Mälzer. Gerrit meldet sich. Das ist keine Herausforderung für den gelernten Schlachter. Zumal das Fleisch vor dem Zerteilen nicht mal pariert werden muss. Das heißt, Sehnen und Fett bleiben dran. „Die Sehnen sitzen wie Nylonstrümpfe am Fleisch und ziehen sich beim Garprozess zusammen, aber beim langen Schmoren dehnen sie sich wieder und zerfallen“, erklärt Tim Mälzer. Schnell hat Gerrit das Fleisch in gleich große Stücke zerteilt. Mälzer mischt etwas Mehl unter die Fleischwürfel sowie Salz und Pfeffer. „Mehl oder nicht ist Ansichtssache. Ich habe nichts dagegen, solange es nicht so viel ist wie bei der Oma. Das gibt Bindung. Und ob ihr vorher oder nachher würzt, ist auch Glaubenssache. Ich mache es immer vorher.“ Jetzt kommt das Fleisch zum Anbraten in die Pfanne mit dem heißen Öl.
„Das Schmoren funktioniert immer gleich“, erzählt Mälzer, während er die Würfel ins heiße Fett gibt. „Kräftig anbraten, das gibt Geschmack. Dann herausnehmen und die ‚Dreiheiligkeit‘ dazu.“ Dazu gehören Karotten für die Süße, Lauch oder Zwiebeln für die Schärfe und Sellerie für die Würze. „Welche Geschmacksrichtungen kennt ihr denn“, will der Koch von uns wissen. „Es sind fünf.“ Die Begriffe süß, sauer, bitter und salzig fallen. Kleine Pause. „Scharf“, sagt jemand. „Falsch, kein Geschmack, das ist ein Schmerz. Nummer fünf ist ‚umami‘“, weiß Mälzer. Umami ist die japanische Bezeichnung für einen Geschmackseindruck, der vor allem durch Glutaminsäure vermittelt wird und sinngemäß so viel wie Schmackhaftigkeit bedeutet.
Während das Fleisch brutzelt, schnippeln wir Gemüse. Das wird nach dem Fleisch ebenfalls braun angebraten. Dann folgen die Gewürze wie Lorbeer („nicht zu ängstlich“), Stern­anis („nicht zu viel, sonst wird es Weihnachtsbäckerei“) und Kümmel. Bei dunklen Soßen darf Tomatenmark nicht fehlen („bringt Säure, Bindung und Farbe“). Der Wein zum Ablöschen fällt heute aus und wird durch einen Schuss Balsamessig und Wasser ersetzt. Die Fleischwürfel dürfen jetzt wieder mit in die Pfanne, und nun muss das Ganze anderthalb bis zwei Stunden kochen. „Aber nicht wie Wäsche, nur köcheln“, mahnt Mälzer.
Das war Teil eins der Lektion. Nach dem Schmoren lernen wir nun das Kochen. „Jedes Fleisch mit viel Bindegewebe ist dafür geeignet“, erklärt der Koch. „Und für besonders intensiven Geschmack sorgen Knochen, die tierischen Teebeutel.“ Wir nehmen uns die Rinderbrust vor. „Ihr müsst euch vorher entscheiden, ob ihr am Ende eine starke Brühe oder aromatisches Fleisch essen möchtet. Wenn es eine Brühe sein soll, wird alles im Topf kalt aufgesetzt.“
So machen wir es: Die Brust wandert im Ganzen hinein. Dazu kommen walnussgroße Stücke der „Dreiheiligkeit“, außerdem Gewürze wie Piment, Salz, Zucker und Pfeffer. Auch die Tomate für Farbe und Geschmack darf hier nicht fehlen. Jetzt nur noch köcheln lassen und ab und zu den Eiweißschaum und das Fett abnehmen, die sich an der Oberfläche der Brühe bilden. „Da kann man gar nichts falsch machen. Wenn das Fleisch nicht mehr die Konsistenz eines Radiergummis hat, sondern faserig ist, ist alles gut.“
Gulasch und Suppe benötigen jetzt nur noch Zeit zum Garen. Wir können uns anderen Dingen zuwenden. Tim Mälzer schlägt vor, aus den Hühnerkeulen ein Frikassee zuzubereiten. „Ein echtes Seelenessen: Für mich ist es die Bolognese, für meine Süße das Hühnerfrikassee.“ Klassischerweise wandert dafür ein ganzes Huhn in den Topf, aber wenn es schnell gehen soll, genügen auch die Keulen. Geschickt löst Tim Mälzer das Fleisch vom Knochen und schneidet es in mundgerechte Stücke. Es wird mehliert und in einer Butter-Mehl-Mischung leicht angedünstet – Experten nennen das „anstoven“. Dazu geben wir blanchierten, also kurz gekochten und abgeschreckten grünen Spargel und Erbsen. „Eigentlich muss man außer Bohnen kein Gemüse blanchieren. Das ist nur für den Erhalt der Farbe. Dafür das Wasser stark salzen.“ Für den typischen Hühnerfrikassee-Geschmack sorgen außerdem Pilze, in unserem Fall edle Steinpilze statt Champignons sowie Zitronensaft und Estragon.
Während wir genüsslich unsere Probierportion vertilgen, erzählt Verkäufer Stefan von der weniger edlen Variante eines Frikassees, das er auf Platte gekocht hat. „Ich habe Brühe mit Margarine, Mehl und Milch gekocht, dazu gab es Saft aus der Plastikzitrone und Reis. Eine Woche lang jeden Tag.“ Auch Tim Mälzer hat schon kulinarisch schlechte Zeiten erlebt. „Eine Zeitlang habe ich nur gekörnte Brühe gekocht und rohe Spaghetti gegessen.“ Natürlich sei das nicht mit der Not von Stefan zu vergleichen, räumt er gleich ein.
Es ist Zeit für den letzten Teil unseres Grundkurses: das Kurzbraten. „Ich weiß gar nicht, warum die Leute sich dabei immer so anstellen“, wundert sich Mälzer. „Das ist wirklich ganz simpel.“ Zunächst müsse man das Fleisch rechtzeitig aus dem Kühlschrank nehmen, damit die Temperaturunterschiede nicht ganz so groß seien. Dann wieder die leidige Gewürzfrage klären. Er salze vorher und ab in die Pfanne mit heißem Fett. „Wollt ihr ein ganzes Stück braten oder ein Steak?“ Beides natürlich. Kein Problem, denn das Prinzip ist das gleiche: Beidseitig anbraten und in Alufolie ruhen lassen, damit sich die Fasern entspannen können. Das große Stück wandert dann noch mal zum Weitergaren in den heißen Ofen. Zwischendurch dürfen wir immer mal wieder mit dem Finger in das Fleisch drücken und fühlen, wie weich es ist. „Es kann sich anfühlen wie der Arsch einer 16-Jährigen, einer 30-Jährigen oder einer 80-Jährigen, hat mein Küchenchef früher immer gesagt“, erzählt Mälzer grinsend. Es geht allerdings auch anders: mit dem Daumentest. Das Fleisch ist noch blutig, wenn es sich anfühlt wie der Daumenballen, wenn man Daumen und Mittelfinger locker zusammenlegt. Durchgebraten  ist es, wenn es sich anfühlt wie der Daumenballen bei zusammengelegtem Daumen und kleinem Finger.
Währenddessen bereiten wir unter Mälzers Regie seine Lieblingssoße für Kurzgebratenes zu, eine Salsa verde aus Zwiebeln, sauren Gurken, Öl, Essig und Kräutern. Und Balu, unser Wald- und Pilzexperte, brät in Butter seine selbst gesammelten Fetten Hennen. Ein seltener Pilz, der optisch an einen Badeschwamm erinnert und nur an alten Kiefern wächst, die Rotfäule hatten. Zusammen mit dem medium rare gebratenen Fleisch schmecken sie köstlich. Das große Stück ist einen Tick zu roh, findet der Koch, erntet aber Widerspruch. „Genau richtig“, urteilt die Mehrheit.
Unser Kurs ist zu Ende. „Wir können gern noch mal einen Aufbaukurs machen, wenn ihr wollt“, sagt Tim Mälzer. Wollen wir. Lamm und Schweinebauch von Schlachter Wagner haben wir schließlich noch gar nicht angerührt. Noch eine ganze Weile stehen wir um den Küchentresen und reden. Über Essen, über Lebenskrisen und darüber, wie man sich wieder aufrappelt. Gemeinsames Essen öffnet eben nicht nur die Gaumen, sondern auch die Herzen.

Text: Sybille Arendt
Foto: Martin Kath