Schnee von gestern

Es wird wieder wärmer. Zum Glück, denn viele Obdachlose schlafen auch bei Temperaturen weit unter null lieber auf der Straße als in
Hamburger Notunterkünften. Wie halten sie extreme Kälte aus?

(aus Hinz&Kunzt 229/März 2012)

Max: „In eine Notunterkunft würde ich nie gehen. Bei den Menschenmassen dort habe ich Angst.“

„Boxershorts.“ Max grinst, aber meint es ernst. „Boxershorts und sonst nichts“, so krieche er jede Nacht in seinen Schlafsack. „Das hält mollig warm, manchmal schwitze ich sogar.“ Kalte Außentemperaturen sei er gewöhnt: Der 26-Jährige lebt seit drei Jahren auf der Straße, zurzeit schläft er mit einer Gruppe von rund acht Obdachlosen unter der Kersten-Miles-Brücke an den Landungsbrücken – auch bei 15 Grad minus.

Trotz der eisigen Temperaturen herrscht hier gemütlich-chaotisches Wohnzimmerflair: Matratzen, Decken und Schlafsäcke stapeln sich, näher zur Straße hin stehen ein Sofa und ein kleiner Couchtisch. „Alles Spenden“, sagt Max. „Es ist toll, wie die Leute uns unterstützen, auch mit Klamotten und Lebensmitteln.“ Am meisten freut sich die Gruppe über einen großen Grill, den sie geschenkt bekommen hat: „Ordentlich Holzkohle drauf, das ist unsere Heizung.“ Und selbst wenn es noch kälter werden sollte: „In eine Notunterkunft würde ich nie gehen“, sagt Max. „Bei den Menschenmassen dort habe ich Angst, dass ich mir Krankheiten einfange.“

Auch Peter (Name geändert) macht lieber Platte, als am Winternotprogramm teilzunehmen. „Da ist es mir zu voll und ich fühle mich unsicher“, sagt er. Deshalb übernachtet er unter der Kennedybrücke – und holt sich zum Aufwärmen abends einen Becher heiße Suppe vom Mitternachtsbus. 50 bis 80 Obdachlose versorgen die ehrenamtlichen Helfer zurzeit jede Nacht pro Tour. „Im Sommer kommen doppelt so viele“, sagt Projektleiterin Sonja Norgall. „Jetzt schlafen viele in Notunterkünften und suchen dort Schutz vor der Kälte.“

Von einem „umfassenden“ Schutz spricht der Senat in einer Zwischenbilanz zu seinem Winternotprogramm. In der Tat gibt es mit 412 zusätzlichen Schlafplätzen (Stand bei Redaktionsschluss) mehr Betten als bisher. Im Winternotprogramm 2010/2011 etwa stellte die Behörde rund 280 Plätze zur Verfügung, davon 90 in einem Bunker am Hauptbahnhof. In diesem Jahr wurden zuletzt noch einmal 50 Plätze in einer Unterkunft am Holstenkamp freigegeben. Und die Behörde betont, sie habe weitere Kapazitäten.

Dass viele Obdachlose wie Max und Peter sich trotzdem gegen das Programm entscheiden, wundert Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer nicht: „Das Angebot der Stadt ist zwar besser als in den vergangenen Jahren. Aber was wir wirklich brauchen, sind angemessene Unterkünfte mit maximal zwei Personen in einem Zimmer. Viele Obdachlose, die jetzt noch auf der Straße schlafen, würden die dann auch in Anspruch nehmen. Unterkünfte müssen so gestaltet sein, dass sich jeder vorstellen kann, in einer Notsituation dort vorübergehend eine Art Zuhause zu finden.“
Stattdessen sind die Notunterkünfte wie die Spaldingstraße oder das Pik As total überfüllt. Einige Obdachlose berichten, dass sie im Pik As mit bis zu 16 Leuten ein Zimmer teilen mussten oder auf Matratzen im Flur schliefen. Dazu kommt die Angst vor Auseinandersetzungen und Diebstahl: „Meine Frau und ich wurden in der Spaldingstraße schon beklaut“, erzählt Patrick. „Gruselig“ seien die Zustände dort gewesen. „Zum Glück können wir jetzt bei einem Freund schlafen.“

Zum Essen sind sie heute in die Tagesaufenthaltsstätte Herz As gekommen – und um sich aufzuwärmen. Denn „wer von morgens bis abends draußen friert, findet auch nachts keine Erholung“, so Patrick. Das Team des Herz As stößt derzeit an seine Grenzen. Es gibt 80 Aufenthaltsplätze, die Mitarbeiter können bis zu 150 Mittagessen ausgeben. Aber: „Der Andrang war teilweise so groß, dass wir leider schon Menschen abweisen mussten“, erzählt Leiter Andreas Bischke. Er meint, die Ursache liege in der Nähe zur Notunterkunft Spaldingstraße, in der der Aufenthalt tagsüber verboten ist. Auch die Bahnhofsmission ist mit 300 Besuchern täglich ausgelastet.

In Bremen erlaubt der städtische Verkehrsverbund wegen der Minustemperaturen Obdachlosen, kostenlos Bus und Bahn zu fahren. „Die, die kein Dach über dem Kopf haben, können sich jetzt in unseren Wagen aufwärmen“, so ein Sprecher. Prompt forderten viele, der HVV solle das auch so handhaben. Doch die Hamburger Hochbahn sieht in so einer Aktion „nicht das richtige Signal“. Stattdessen sei die Stadt in der Pflicht, auch tagsüber für ausreichend Unterkünfte zu sorgen.

Im zweiten Stock im Herz As findet Hassan Platz auf einem Sofa, rollt sich zusammen und schließt die Augen. In der vergangenen Nacht hat er mal wieder keine Ruhe gefunden. Der 33-Jährige arbeitete bis vor Kurzem in Spanien, findet dort wegen der Wirtschaftskrise aber keine Arbeit mehr. In Hamburg übernachtet er draußen, in Hauptbahnhofnähe, zum Schlafen sei es da aber zu kalt. „Meist bleibe ich deshalb bei McDonald’s, bis die schließen. Da ist es warm.“ Auf dem Sofa neben ihm sitzt Christian aus Polen, er arbeitete bis vor Kurzem ebenfalls in Spanien, will jetzt zurück in seine Heimat. Der 29-Jährige trägt nur ein dünnes Hemd und eine Strickjacke. Dass viele wegen der Kälte jammern, versteht er nicht. „Für mich beginnt Kälte erst ab minus 25 Grad“, sagt er großspurig.

Klaus sieht das anders. „Ist ja doch a bisserl winterfrisch“, sagt er augenzwinkernd und zieht seine Mütze zurecht. Der 46-Jährige verkauft Hinz&Kunzt vor Karstadt in der Innenstadt, auch bei eisigen Temperaturen. „Mehr Pausen und früher Feierabend machen“, so schafft er es durch den Tag. „Ich merke leider schon, dass viele Leute nur schnell ins Warme wollen und weniger Zeitungen kaufen.“ Klaus hat trotzdem für jeden Vorbeieilenden einen netten Gruß parat, hält die Türen auf, lacht viel. Sein bester Schutz bei Frostbeulengefahr: „Meine HSV-Handschuhe. Die sind so kuschelig, da wird jeder zum Fan.“ Dito, die am Rathausmarkt Hinz&Kunzt verkauft, hilft sich anders: „Nenn mich die Zwiebel“, sagt die 28-Jährige fröhlich. „Ohne mehrere Klamottenschichten geht es nicht.“ Beschwingt läuft sie auf Passanten zu, ist immer in Bewegung. „So verkaufe ich mehr und bleibe warm“, sagt sie. Trotzdem: „Ich hoffe sehr, dass bald der Frühling kommt.“

Text: Maren Albertsen, Beatrice Blank
Foto: Mauricio Bustamante