Nach dem Winter ist vor dem Winter

Das Winternotprogramm ist beendet. Bis zum letzten Tag waren die Unterkünfte rappelvoll. Darüber, wie es in der Wohnungslosenpolitik weitergehen soll, über Obdachlose aus Osteuropa und über Bürgerproteste sprachen Chefredakteurin Birgit Müller und Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer mit Sozialsenator Detlef Scheele (SPD).

(aus Hinz&Kunzt 231/Mai 2012)

Detlef Scheele (SPD) gilt als enger VERTRAUTER des Bürgermeisters. Als Olaf Scholz Bundesarbeitsminister in Berlin war, war der 55-Jährige sein Staatssekretär.

Leer war das Büro vor einem Jahr, als wir unseren Antrittsbesuch bei Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) gemacht haben. Jetzt hängt ein vielfarbig bearbeitetes Kinderfoto hier, ein bisschen à la Andy Warhol. Außerdem noch ein kleines Bild mit einer Zitrone drauf, von seiner jüngsten Tochter gemalt – und geschrieben: „Gibt das Leben dir Zitronen, mach Limo draus.“

Entspannt ist Detlef Scheele an diesem Tag – und erleichtert. Am Morgen endete das Winternotprogramm, das größte, das die Stadt je aufgelegt hat. Mit 362 Plätzen für rund eine Million Euro. Das verdient Respekt, auch von unserer Seite. „Das Winternotprogramm war ein Erfolgsprogramm“, sagt der 55-Jährige. „Wir hatten genug Plätze, auch wenn sie immer voll belegt waren, bis zur letzten Nacht. Wenn es noch schlimmer geworden wäre, hätten wir noch Betten gehabt.“ (Schade eigentlich, dass er sie nicht freigegeben hat: Im Pik As haben Leute auf dem Fußboden geschlafen! Und in einer Frauenunterkunft konnten zum Schlafen nur noch Sitzplätze angeboten werden.)

Und keiner sei erfroren, das alles sieht der Sozialsenator „erst mal auf der Haben-Seite“. Dass es ihm immer auch ums Geld, um die Bezahlbarkeit geht und ums Sparen, hat er von Anfang an deutlich gemacht. „Mann ohne Moneten“ hatten wir ihn deshalb schon nach unserem ersten Gespräch genannt.

Wir sind nicht so guter Stimmung. Morgens um acht waren wir vor Ort gewesen (Seite 27), als das größte Gebäude im Winternotprogramm an der Spaldingstraße geschlossen wurde und die letzten Obdachlosen das Haus verließen. Mehr als 230 Menschen übernachteten dort noch bis zum Schluss, selbst wenn draußen Plusgrade herrschten. Alle Plätze waren voll belegt. Das zum Vorurteil: Die meisten Obdachlosen wollen ja ­lieber draußen schlafen! 

Mit Taschen und kleinen Koffern zogen die Menschen von dannen, die  wenigsten wussten, wo sie die nächste Nacht bleiben sollten. 150 von den 1400 Menschen, die das Winternotprogramm nutzten, sind direkt in Dauerunterkünfte oder gar in eine Wohnung vermittelt worden. 200 Obdachlose seien es, so schätzt Detlef Scheele, die nach dem Winternotprogramm noch nicht versorgt sind und einen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen ­haben. „Die unterzubringen, das traue ich uns schon noch zu.“ Die Zahl 200 halten wir für zu niedrig. Wir kennen eine Menge Obdachloser, die nicht ins Winternotprogramm ­gingen, weil es ihnen dort zu voll war – und die hätten auch gerne eine Unterkunft.

Die Dauerunterkünfte sind allerdings rappelvoll. Rund 3000 Wohnungslose leben in Hamburg in öffentlichen Unterkünften, oft jahrelang ohne Aussicht auf eine Wohnung. Der Grund: Es gibt zu wenig bezahlbare Wohnungen. Und die Saga/GWG und andere Wohnungsunternehmen haben zwar eine Vereinbarung mit der Stadt, rund 700 Wohnungen jährlich speziell für Wohnungs­lose zur Verfügung zu stellen – kommen dieser Verpflichtung aber seit Jahren nicht nach. Übrigens eine teure Angelegenheit: Denn selbst wenn eine Unterkunft noch so deprimierend und schlecht ist, kostet der Platz dort pro Monat wesentlich mehr als die Miete in einer ganz normalen Wohnung.

Scheele traf sich nach Amtsantritt auch zügig mit dem Saga-Vorstand und den für die Wohnungsvermittlung zuständigen Fachstellen. Man kann nicht ­behaupten, dass zahlenmäßig seitdem ein Durchbruch erzielt wurde. „Mein Stand ist, dass das Angebot der Saga besser geworden ist“, sagt der Sozialsenator dazu. „Und jetzt ist der Draht da, miteinander zu reden, wenn es wieder hakt.“

Übrigens: Im Herbst will seine Behörde einen Plan vor­legen für die Umstrukturierung der Wohnungslosenhilfe. ­Womöglich soll es ein Clearinghaus für wohnungslose Frauen oder Familien geben, wo schnell Anschlussperspektiven gesucht werden. Und eine Unterkunft speziell für junge Menschen unter 25 Jahren. Aber darüber wollen wir lieber nach dem Sommer noch einmal reden. Denn Scheele sagt offen: „… sofern das durch den Haushalt kommt.“
Der Spardruck in der größten Behörde ist immens. „Nur drei Bereiche sind von Kürzungen ausgenommen“, sagt er, „die Wohnungslosenhilfe, die Frauenhäuser – und natürlich der Allgemeine Soziale Dienst.“ Aber garantieren kann er das nur für den kommenden  Haushalt.

Und nach dem Winter ist vor dem Winter: Detlef Scheele plant schon wieder das nächste Winternotprogramm.Wieder an einem zentralen Standort, wieder in derselben Größenordnung. Wir finden eine zentrale Einrichtung mit 230 Plätzen deutlich zu groß, für die Bewohner und für die Anwohner. „Ich bin ja ein bisschen Realist“, sagt er und räumt ein: „Die Situation in einer großen Institution ist nicht witzig.“ Auch er wünsche sich kleine, dezentrale Unterkünfte. „Aber dass wir das viel sozialverträglicher hinkriegen – mal unabhängig vom Geld – das glaube ich kaum.“

Stimmt: Egal, wo und warum gerade Menschen irgendwo untergebracht werden sollen: Überall gibt es Bürgerproteste, nicht nur gegen Obdachlose, sondern auch gegen Kinder oder gegen ein Hospiz. „Ich kann das nicht verstehen“, sagt Detlef Scheele. In der Wettern­straße in Harburg wollte fördern und wohnen mehr Obdach­lose unterbringen – und stieß auf Widerstand. Der Sozialsenator ist hingefahren und hat vor Ort geprüft: „Ist das ein Protest aus Egoismus oder gibt es auch gute Gründe?“ Er konnte die Einwände nachvollziehen: Zu viele obdachlose Männer würden dann an einer Stelle wohnen. Die Behörde entschied sich für einen anderen Standort – und erlebte eine unliebsame Über­raschung: „Die gleiche Initiative hat dort wieder protestiert. Das fand ich merkwürdig, und da würde ich unterstellen: ­Altruistische Gründe sind es nicht.“

In Wandsbek gibt es Bürgerprotest gegen ein Bauprojekt, „weil behauptet wird, das sei ein Biotop“, sagt Scheele. „Ich muss da mal hinfahren, ob das nicht nur Straßenbegleitgrün ist“, fügt er halb im Scherz hinzu. Er ist zwar oft fassungslos ­darüber, „wie in dieser Stadt mit den Problemen von Minderheiten umgegangen wird“, aber er ist nicht pessimistisch. „Zurzeit dreht sich die Berichterstattung in den Medien“, findet er. Auch die Journalisten hätten inzwischen kein Verständnis mehr dafür, wenn in Sasel protestiert wird, weil dort acht benachteiligte Kinder untergebracht werden sollen.

Was ihn allerdings ernsthaft beschäftigt: Von den 1400 Menschen, die das Winternotprogramm genutzt haben, stammen die meisten aus Polen, Bulgarien und Rumänien. Sie sind auf Arbeitssuche oder arbeiten schon. Aber auch wenn sie Arbeit haben, so die Erfahrung von Hinz&Kunzt, ist die oft so schlecht bezahlt, dass sie sich noch nicht mal eine billige Unterkunft leisten können. Die Behörde hat inzwischen eine Beratungsstelle für die EU-Bürger aus Osteuropa eingerichtet. Dort soll geklärt werden, ob sie rechtliche Ansprüche haben. „Und 160 bis 180 Menschen haben wir die Rückkehr ermöglicht“, sagt Scheele.

Aber er macht sich nichts vor: Es werden wohl noch mehr Menschen kommen. „Diese Herausforderung kann Hamburg nicht allein lösen“, sagt er. Und da das Thema alle Kommunen betrifft, steht es auf der Agenda des Deutschen Städtetages. Scheele will es außerdem mit den anderen SPD-Ministern beim nächsten Treffen besprechen – und „mit Berlin“. Der Bund könnte die Kommunen finanziell entlasten, hofft er, außerdem gebe es noch den Europäischen Sozial- und den Strukturfonds. Auch über direkte Hilfen müsse man nachdenken, so Detlef Scheele. „Und man muss auch mal mit Rumänien und Bulgarien reden, ob man nicht im Heimatland etwas tun kann. In den Regionen, aus denen vorrangig ausgereist wird.“

Text: Birgit Müller
Foto: Maurice Kohl