Sam Dzong – Ein Dorf zieht um

Sam Dzong ist ein uraltes Dorf im Himalaya, nur per Pferd zu erreichen. Nun muss es aufgegeben werden: Die Sam Dzonger werden in ein anderes Tal umziehen und dort ein neues Dorf aufbauen. Der Schweizer Fotograf Manuel Bauer begleitet und dokumentiert diesen Weg.

(aus Hinz&Kunzt 260/Oktober 2014)

Seit Tausenden von Jahren bestellen die Sam Dzonger ihre Felder im Himalaya auf traditionelle Art. Doch in ihrem alten Dorf macht die KLIMAVERÄNDERUNG das Überleben für die Dorfgemeinschaft unmöglich. (Foto: Manuel Bauer)
Seit Tausenden von Jahren bestellen die Sam Dzonger ihre Felder im Himalaya auf traditionelle Art.
Doch in ihrem alten Dorf macht die KLIMAVERÄNDERUNG das Überleben für die Dorfgemeinschaft unmöglich. (Foto: Manuel Bauer)

Die Menschen aus Sam Dzong wissen nicht, warum es auf ihren Feldern so trocken ist. Vielleicht sind die Götter zornig. Tchu fehlt. Das Wasser. Es fehlt, weil die Winter hier oben wärmer geworden sind. Also schmilzt der Schnee zu früh. Also fehlt im Frühling das Schmelzwasser. Das Schmelzwasser, das die Felder blühen lässt.

Tchu geht, und die Not kommt. Das Dorf ist umgeben von aufgegebenen Feldern. Vor fünfhundert, vielleicht vor tausend Jahren terrassiert und stets gewässert, ist ihr erdiges Braun nun zur ausgetrockneten Brache verkommen. Totes Grau. Beweis dafür, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Die Reise nach Sam Dzong führt zwischen den Achttausendern Dhaulagiri und Annapurna durch die tiefste Schlucht der Welt. Gegraben vom Kali Gandaki, dem schwarzen Fluss, verbindet sie das grüne nepalesische Tiefland mit dem wüstenartigen Mustang. Vom nächsten Flughafen bis nach Sam Dzong dauert die Reise zwei bis sieben Tage, je nach Zustand der Route und Transportmittel. Üblich sind Pferde. Noch nie ist ein Auto bis nach Sam Dzong gekommen.

85 Einwohner hat das Dorf, letzte Siedlung vor der Grenze zu Tibet. Seit das Land des Dalai Lama zu China gezwungen wurde, zerschneidet ein Stacheldrahtzaun das Niemandsland. Bis dahin war es eine offene und durchlässige Grenze, Passage für die Salzkarawanen; denn welchen Sinn sollte es ergeben, diese Einöde zu spalten.

Rückblick, Herbst 2008: Als der Schweizer Fotograf Manuel Bauer zum ersten Mal nach Mustang kommt, hat er kurz zuvor seine Stellung als persönlicher Fotograf des Dalai Lama aufgegeben. Jahrelang begleitete er das geistige Oberhaupt der Tibeter. Nun sucht er eine neue Aufgabe. Seine Arbeit soll etwas bewirken, zumindest an einer kleinen Ecke dieser Welt. Das hofft er. Bauer steigt in der zweitgrößten Stadt Mustangs ab, Tsarang, 700 Einwohner, im Ort ein Palast, der aus dem 15. Jahrhundert stammt und so schön, dass dem Architekten eine Hand abgeschlagen wurde, damit er nie mehr ein solches Werk vollbringen könne.

Das Engagement des Fotografen für die Sache Tibets muss sich bis hierher verbreitet haben; denn anders lässt sich nicht erklären, weshalb ihn eines Nachts heftiges Klopfen weckt. Vor der Türe sei-ner Herberge stehen drei Männer, nach Pferd und Ziege riechend, gekleidet in dieser seltsamen Mischung aus tibetischer Tracht, zerschlissenen North-Face- Jacken und gefälschten Diesel-Jeans. Sie stehen da, die Haut dunkelbraun, die Fingernägel schwarz, die Augen leuchtend klar. Sind hier, weil sie hoffen, dass dieser Mann ihnen helfen kann. Einer, der den Dalai Lama im Unterhemd erlebt hat, ist zweifellos der Richtige für sie.

Sie seien aus einem kleinen Dorf, sagen die Männer, vier Pferdestunden entfernt. In ihrem Dorf gebe es kein Überleben mehr. Das Wasser werde immer weniger, die Not stetig größer. Sie seien auf Hilfe angewiesen. Bauer hört zu, kehrt in die Schweiz zurück und kehrt aus der Schweiz wieder nach Mustang zurück. Sommer 2010. Hier trifft er Lama Ngawang Kunga Bista, einen in Mustang geborenen Mönch und einzigen Macher hier oben. Lama Ngawang will, dass Mustang zur Neuzeit aufschließt. Er schickt Mädchen zur Schule, führt Englisch in den Unterricht ein, er sendet die aufge- wecktesten Kinder ins Unterland, damit sie als Ingenieure und Krankenschwestern zurückkommen. Und er weiß, dass er für Veränderungen die Hilfe des Auslands braucht.

Also beschließen Bauer und Lama Ngawang zu kooperieren: Sie wollen für das am stärksten von der Trockenheit betroffene Dorf einen Ausweg suchen. Und so reiten der Mönch in der roten Windjacke und der Schweizer Fotograf mit dem Sonnenhut bald nach Sam Dzong und von da weiter zum Ursprung des Flusses, dessen Wasser die Felder von Sam Dzong nährt. Begleitet werden sie von einer kleinen Gruppe Wissenschaftler, die die Auswirkungen des Klimawandels in Mustang studiert. Gemeinsam will man herausfinden, ob sich die Wassernot Sam Dzongs lindern lässt, ob sich die Quellen besser fassen lassen und somit wieder eine genügende Bewässerung möglich wird.

Am gleichen Tag, das ist Zufall, macht sich eine Delegation aus Sam Dzong auf den Weg zum ehemaligen König von Mustang. Zwar ist er seit 2008 entmachtet, er ist aber immer noch eine Respektsperson. Die Männer wollen dem Ex-Regenten ihre verzweifelte Lage schildern, wollen ihn bitten, dass er ihnen aus seinem großen Grundbesitz Land zu Verfügung stellt, in einem anderen Tal, mit genügend Wasser. Damit sie wieder Gerste und Senf anbauen könnten, wie schon immer.

Ein ehemaliger König hat den entscheidenden Tipp

Der Zufall will es auch, dass die beiden Gruppen beinahe zur gleichen Zeit nach Sam Dzong zurückkehren. Die einen niedergeschlagen, die anderen jauchzend. Niedergeschlagen sind Lama Ngawang und Bauer. Was die Experten ihnen gezeigt haben, lässt wenig Raum für Hoffnung. In den Bergen rund um Sam Dzong fehlen Gletscher – anders als in den meisten anderen Tälern Mustangs, wo geschmolzenes Eis die Flussbetten füllt und die Felder zum Leben erweckt. Zudem ist die Grenze des Permafrosts gestiegen, was zur Folge hat, dass der Regen nicht mehr wie einst auf gefrorenem Untergrund Richtung Felder fließt, sondern zu einem großen Teil im Sand der Berghänge versickert. Und schließlich der allgemeine Rückgang der Niederschläge: Was die Felder übers Jahr erreicht, ist zu wenig. Alles Folgen des Klimawandels. Es sei nichts zu machen, offenbart Lama Ngawang den Einwohnern von Sam Dzong. Die Familien haben sich draußen unter wehenden Gebetsfahnen versammelt, begierig und ängstlich auf das Ergebnis wartend. Jetzt senken sie die Köpfe, drehen die Perlen ihrer Malas und schauen schweigend ins Nichts. Ein Stein kollert in die Tiefe, irgendwo hinter dem Dorf.

Aber kaum hat Lama Ngawang erzählt, was er erzählen muss, da hören sie von fern Johlen und Rufen, hören das Trommeln von Pferdehufen, näher und näher, und schon springen die Männer aus den Sätteln, erhitzt, atemlos. Der König!, rufen sie. Ja, er hat ihnen zugehört, zwei Stunden lang! Und ja, Land für alle! Geschenkt! Drei Reitstunden entfernt von hier, direkt am Fluss im Haupttal, der nicht nur von spärlichen Niederschlägen wie in Sam Dzong genährt wird, sondern von Gletschereis. Das Wasser fließe hier das ganze Jahr, jubilieren die Männer; Tag für Tag, ohne Unterbrechung.

Namashung heißt der neue Ort: ein Plateau in einem Flussknie, etwas mehr als zehn Hektar groß. Rundherum ist das Land fruchtbar, sogar einige Pappeln lispeln im Wind, doch in Namashung selbst ist der Boden grau. Der König hat den Menschen von Sam Dzong Land vermacht, das in den achtziger Jahren von einem plötzlich auslaufenden Gletschersee überschwemmt worden war. Die Flutwelle trug neben einer dicken Schicht Gesteinsmehl auch Hunderte mannshoher Findlinge mit sich und lagerte die Fracht in Namashung ab. Seit dieser Überschwemmung hat sich niemand mehr um das Land ge- kümmert, niemand erhob Anspruch darauf. Bis die Männer aus Sam Dzong in ihrer Not zum König ritten. Bis sich Lama Ngawang und Manuel Bauer zu engagieren begannen.

Im Juli 2013, drei Jahre nach der Schenkung, sieht Namashung ganz anders aus. Lama Ngawang hat Arbeiter von der anderen Seite des Himalayas engagiert, damit sie die Findlinge zerkleinern, so weit, dass die Bruchstücke für die Fundamente der neuen Häuser verwendet werden können. Auch Manuel Bauer hat zur Rekultivierung von Namashung beigetragen. Er hat in der Schweiz mit Vorträgen über Mustang Geld gesammelt, genug, um den einzigen Bulldozer hier oben über Monate zu beschäftigen. Alle überzähligen, von den Steinhauern nicht benötigten Findlinge hat die Maschine vom Plateau in das Flussbett hinuntergestoßen, ebenso den abgelagerten Sand. Jetzt ist der Boden von den gröbsten Spuren der Flutwelle gesäubert.

Und nun sind die Bewohner Sam Dzongs zum neuen Ort geritten. Lama Ngawang hat sie hierher beordert, um ihr neues Dorf zu entwerfen. Zwei Tage lang arbeiten sie an dieser Aufgabe, unterstützt von Lama Ngawangs Assistenten, in seiner Jugend bester Schüler weit und breit, nun damit beauftragt, die Ideen des Lamas umzusetzen. Der Assistent erklärt den Menschen, wie sie mit Hilfe von Pythagoras und drei Seilen auf dem neuen Heimatboden die Grundrisse der geplanten Häuser markieren können. Also folgen sie ihm, auch wenn sie seine Erklärungen nicht verstehen, auch wenn die Seile hoffnungslos zu kurz sind, aber hier oben begnügt man sich mit Vorhandenem. Entlang der Linien heben sie kleine Gräben aus, diese füllen sie mit weißen Steinen, sodass klare Markierungen entstehen. Am Abend des zweiten Tages ist das Werk vollbracht, ohne Geometer und Geolith, ohne aus dem Himmel gesteuertes GPS: die Grundrisse von 18 Häusern; das Layout eines neuen Dorfes auf dieser Welt.

Aber welche Familie erhält welches Grundstück? Wer wird wessen Nachbar? Lama Ngawang legt die Lose in eine geweihte Schale, der Boden mit Reis bedeckt, sie darf nie leer sein. Hübsch sehen die Papierröllchen aus. Sein Assistent hat sie mit farbigen Bändern verschnürt. Mit der Schale in der Hand stellt sich Lama Ngawang vor die Grundstücke, die 18 Familienvertreter im Halbkreis um ihn und greift nach dem ersten Los. Er entrollt es, liest den darauf notierten Namen, dann ein Gedicht, das der Assistent sich ausgedacht hat, speziell passend zu dieser Familie. Jubel. Applaus. Der soeben auserkorene Besitzer wirft Blumen in die Luft, er schreitet über die Markierungssteine und betritt erstmals, was ab sofort sein Land ist. Hier wird sein Haus entstehen. Und lacht. Und ruft: „Ein Sieg der Götter!“ Dann entrollt der Mönch das zweite Los, das dritte. Jedes Mal klatschen die Menschen.

Als alle Lose gezogen sind, schüttelt der Assistent ungläubig den Kopf und sagt: „Es ist ein Rätsel!“ Die Götter haben ganze Arbeit geleistet und die Grundstücke so verteilt, wie es sich die Menschen insgeheim gewünscht hatten: Geschwister werden künftig neben Geschwistern wohnen, Freunde neben Freunden, eher ungeliebte Mitbewohner am anderen Ende der Häuserzeile – alles perfekt. Zur Feier tanzen die Men- schen, linkes Bein vor, Zwischenschritt, rechtes Bein vor, singen dazu; ein simpler Tanz zu Ehren der Götter, die ihnen in den letzten Minuten so sehr beige- standen sind, in diesem Moment, der für sie und die Generationen nach ihnen entscheidend sein wird. Überglücklich sind die Menschen, strahlen und freuen sich. Zur Feier gibt es Cola, Made in China. Wohin mit den leeren Büchsen, weiß niemand.

In den kommenden Wochen werden bereits die Vorbereitungen für die erste Ernte am neuen Ort beginnen. Die Einwohner werden in Sam Dzong den Kot ihrer Ziegen sammeln. Sie werden Hunderttausende von kleinen Kugeln zusammenwischen, in Säcke abfüllen und auf ihrem Rücken nach Namashung tragen, drei Stunden ein Weg, dazwischen ein Pass so steil wie der Aufstieg in einen Kirchturm, und jede dieser Kotkugeln wird sich über den Winter in ein paar Gramm Humus verwandeln. Sie werden 180.000 Backsteine aus Lehm herstellen, zehntausend für jedes Haus, das können sie gut. Die Frauen werden neue Teppiche weben, und sie werden bei jedem Besuch die Blumen gießen, die bereits am Rande der neuen Grundstücke eingepflanzt wurden. Und sie werden darauf warten, dass Fotograf Manuel Bauer aus der Schweiz wieder nach Mustang kommt, diesmal mit Geld. Denn sie können fast alles selbst herstellen, die Fundamente aus Bruchsteinen, die Wände aus Lehm, aber sie brauchen Balken für die Decken, sie brauchen Bretter für die Türen. Und dafür brauchen sie Holz.

Doch Holz gibt es auf 4000 Metern viel zu wenig, also müssen sie es kaufen. Mit Geld, das sie nicht haben und nie haben werden. Deshalb brauchen sie Manuel Bauer. Er werde in großen Zeitungen über ihr Schicksal berichten, hat er den Bewohnern von Sam Dzong an- gekündigt. Die Menschen in Europa hätten ein gutes Herz. Versprechen könne er nichts, aber er sei zuversichtlich, dass alles gut komme.

Webseite und Spendenkonto finden sich unter www.samdzong.org

Text: Christian Schmidt
Foto: Manuel Bauer