Rolands Vermächtnis

Warum eine 18-Jährige sich um die Trauerfeier für ihren Onkel kümmert

(aus Hinz&Kunzt 93/November 2000)

An ihren Onkel konnte sich Thanny kaum noch erinnern. Denn der Hinz&Künztler Roland Heincken hatte zu seiner Familie kaum noch Kontakt. Nach seiner Ermordung waren alle Angehörigen schockiert. Thanny machte sich auf die Suche nach seinen Freunden.

„Ich hatte gar ein Bild von ihm“, sagt Thanny. Sie ist 18, an ihrem zehnten Geburtstag hatte sie ihren Onkel das letzte Mal gesehen. Ein Silberarmband mit Igelanhänger hat er ihr geschenkt, und er kannte schon damals alle möglichen Computerspiele.

H&K-93_Thanny_Lee_93An einem Tag im September kommt sie aus der Schule und erfährt von ihrer völlig aufgelösten Mutter: „Roland ist tot!“ Erst weiß sie gar nicht, wer gemeint ist: „Als Kinder haben wir immer Onkel Tuffi zu ihm gesagt.“

Das erste Bild, das Thanny von ihrem erstochenen Onkel zu sehen bekommt, ist ein ziemlich grausames Foto. Thanny nennt es „krass“! Die Polizei hatte Thannys Mutter gebeten, den toten Bruder zu identifizieren, Thanny geht mit. Um ihre Mutter nicht alleine zu lassen, aber vor allem weil sie sofort „voll das schlechte Gewissen hatte, dass wir uns nicht öfter gekümmert haben“. Das mit dem Gewissen, meint sie, sei immer so, wenn jemand stürbe, genau wie damals bei ihrem Opa. Doch jetzt kommt noch dazu, „dass ich gar nicht wusste, dass er auf der Straße lebt. Ich dachte, der wäre noch bei seiner Freundin“. Sie wirft ihrer Mutter und der Oma vor, ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben, aber sie erinnert sich auch, dass es der Onkel war, der auf Anrufe nicht reagierte oder Besuche versprach, die dann nie stattfanden. „Er war eben so, da hat sich keiner große Gedanken gemacht.“

Thanny sieht einem direkt in die Augen. Sie ist eine Frau, die sich nicht mit irgendeiner Kindergeschichte abspeisen lässt. Auch nicht von der Polizei. „Die wollten uns gar nicht richtig erzählen, was passiert ist, nämlich dass mein Onkel von zwei anderen Typen an seinem Schlafplatz erstochen wurde!“ „Voll unkooperativ“ findet sie das und bekommt den Eindruck, die Polizei werde nicht besonders viel unternehmen, um diesen Mord aufzuklären, „war ja nur ein Obdachloser“. In der Nacht liegt sie wach und beschließt, die Mörder ihres Onkels zu finden, „auch wenn ich jeden Obdachlosen in Hamburg hätte einzeln fragen müssen“. Seit einem halben Jahr hat Thanny, die leidenschaftlich gerne Jazzdance macht und vom Ballett träumt, einen Box-Sandsack in ihrem Zimmer, weil sie oft so wütend ist. Türenknallen hat irgendwann nicht mehr gereicht.

Wenn sie ein Ziel ins Auge gefasst hat, lässt Thanny so schnell nicht locker. Obwohl die Polizei die Mörder dann doch sehr schnell fasst, zieht sie los, mal mit der Mutter, mal mit der Tante, mal alleine geht dahin, wo sich Obdachlose treffen: zum Hauptbahnhof, ins Herz As, zu Hinz&Kunzt. Denn noch immer will sie sich ihr eigenes Bild machen: „Ich hab mir gedacht, okay, wenn er sich bei der Familie nicht gemeldet hat, dann wollte er wohl auch keinen Kontakt zu uns. Aber dann muss es andere Leute geben, die ihm nahe standen, die etwas über ihn wissen. „Die Familienabstinenz ihres Onkels kann sie gut nachfühlen „ich verstehe mich zwar mit meinem Bruder und meiner Mutter, aber ansonsten kann ich meine Verwandtschaft eigentlich nicht ausstehen, Deswegen vermeide ich Familienfeiern, wenn es irgendwie geht.“ Und deshalb ist die Vorstellung, dass ihr Onkel nur im Kreise der fremd gewordenen Familie beerdigt wird, für die unerträglich. „ich habe mir einfach vorgestellt, wie es für mich wäre. Deshalb wollte ich unbedingt, dass seine Freunde, die sein Leben geteilt haben, auch von ihm Abschied nehmen können.“ Sie spricht Leute an, fragt sich durch, hängt Zettel auf, forscht nach und sorgt dafür, dass alle, die es angeht, den Termin der Trauerfeier erfahren.

H&K-93_Roland_HeinckenStück für Stück entsteht ein Bild: „Unheimlich viele hatten ihn schon mal gesehen, manche kannten ihn näher. Und alle haben nur erzählt, was für ein lieber Mensch er war, und wie hilfsbereit. Bei einem, da hat er immer auf den Hund aufgepasst und eine Frau besucht er täglich im Krankenhaus.“ Jemand anders erzählt, dass ihr Onkel ihm Geld geliehen habe. Sogar einen Freund in Frankfurt macht sie ausfindig, der sich an die guten Zeiten mit ihrem Onkel erinnerte und ein Foto von damals schickte. Doch, ja, jähzornig sei er wohl auch gewesen, aber niemand habe vergessen zu erwähnen, was für ein verschmitztes Lächeln Roland, den sie auch „Shadow“ nannten, immer hatte. „Nur er selbst wollte sich nie helfen lassen“, fasst sie zusammen, was sie erfahren hat. „Irgendwie schien er zufrieden gewesen zu sein mit seinem Leben auf der Straße.“ Nachvollziehen kann sie das nicht, aber sie respektiert es. Auf dem Baustellen-Gelände in Lokstedt schaut sie sich an, wo ihr Onkel „Platte gemacht“ hat und ist gerührt und getröstet zugleich: „Da wachsen ein Pflaumen- und ein Apfelbaum, und er hatte es sich richtig schön gemacht. Das war eben sein Zuhause auf der Straße. Da hat er auch nie jemanden mit hingenommen“, glaubt sie. „Und als er es einmal doch getan hat, haben sie ihn umgebracht.“

Mit dem, was sie auf der Beerdigungsfeier zu sehen bekommt, hätte Thanny vorher nicht gerechnet. Die Kapelle ist voll, gut 40 Menschen sind gekommen, um sich von Roland zu verabschieden, „Wildfremde haben mich plötzlich umarmt, und die Tränen flossen wirklich i Strömen. Aus jeder Reihe hat man andauernd laute Schluchzer gehört.“

Thanny weint an diesem Nachmittag nicht Ihr Blick bleibt ungetrübt: „Viele haben dann nur von alten Zeiten geredet, wie sie zusammen zur Schule gegangen sind und so. Um meinen Onkel ging es denen gar nicht.“ Für Thanny ist das Heuchelei, für die sie kein Verständnis hat. Genausowenig wie für ihre Freunde, die sich von ihr abgewandt haben, „weil sie meinten, ich brächte mich nur in Gefahr, wenn ich mit Obdachlosen rede“. „Voll Scheiße“ sei vor alle die Reaktion ihrer besten Freundin gewesen, „nur so Sprüche, von wegen alle Obdachlosen sind asozial und wollen ja gar nicht arbeiten.“ Vorurteile, die sie, zugegeben, früher selbst auch hatte. Aber jetzt sieht sie das eben anders und weil sie „eigentlich immer“ sagt, was sie denkt, muss sich die Freundin „eine richtig fette Entschuldigung einfallen lassen“. Auch ihrer Mutter kann sie einen Vorwurf nicht ersparen: „Sie hätte sich um Roland kümmern müssen, egal was er gemacht hat. Schließlich war es ihr Bruder.“ Sie sei ja auch für ihren Bruder da, „obwohl der oft eine Nervbacke ist“.

Die Familie ist durch den Tod des Onkels ein bisschen enger zusammengerückt. Vorurteile wurden über Bord geworfen, ein paar alte Freunde werden sich entschuldigen müssen. Doch das Entscheidende ist, dass Thanny jetzt ihr eigenes Bild von dem Mann hat, den die einen Tuffi nannten und die anderen Shadow: „Ich bin total stolz auf meinen Onkel Roland.“

Text: Sigrun Matthiesen