Rausgeflogen

Hals über Kopf wurden Liana, Grischo und ihr Vater nach Armenien abgeschoben, obwohl die Kinder in Hamburg zu Hause sind. Mutter und Tochter blieben hier
(aus Hinz&Kunzt 185/Juli 2008)

31. März 2008: Liana (14) und Grischo (10) sind zeitig ins Bett geschickt worden, um ausgeruht für die Schule zu sein. In den Morgenstunden werden sie von Polizisten aus dem Schlaf gerissen.Sie dürfen ein paar Klamotten einpacken. Dann werden Liana, Grischo und ihr Vater zum Hamburger Flughafen gebracht. Von hier geht’s über Frankfurt nach Eriwan, in die Hauptstadt Armeniens. Mutter Gohar bleibt verzweifelt mit der vierjährigen Sona zurück.

Monate später: Liana, Grischo und ihr Vater sind immer noch in Eriwan. Es geht ihnen schlecht. Die Kinder besuchen keine Schule – sie sprechen kaum Armenisch, lesen und schreiben können sie es gar nicht. „Deutschland ist für uns unsere Heimat geworden. Ich weiß nicht weiter. Bitte, bitte helfen Sie mir und meiner Familie“, fleht Liana per E-Mail. Sie vermisst ihre Mutter und ihre Freunde – das Leben, in dem sie sich sicher fühlte. Die Kinder haben Angst.

Es gibt einen Grund, warum die Familie aus Armenien floh: Vor 14 Jahren war Vater Ruben Grigorjan in einen Autounfall verwickelt. Ein Kind stirbt. Dessen Familie schwört Rache: Ihr habt unser Kind genommen, wir nehmen eures! In Panik fliehen die Grigorjans mit der erst wenige Monate alten Liana nach Russland. Grischo wird hier geboren, eine Heimat wird Russland nicht. Die Familie kommt im Januar 2000 nach Hamburg, beginnt ein neues Leben. Vater Ruben findet Arbeit. Erst wird Liana, dann Grischo eingeschult. Mit Sona sind die Grigorjans seit 2003 zu fünft. Die Familie ist angekommen.

Warum die drei gerade jetzt abgeschoben wurden, ist unklar. Pikant: Parallel tagte der schwarz-grüne Koalitionsausschuss, stritt unter anderem über aufenthaltsrechtliche Fragen.

Die Abschiebung war vielleicht gar nicht rechtens: „Dem Grundsatz des Schutzes der Familie ist nicht entsprochen worden“, sagt Anwalt Michael Spielhoff. Um sicher zu sein, muss er die Akte des Vaters einsehen. Doch „die will die Ausländerbehörde nicht rausrücken“, so Spielhoff. Merkwürdig: Erst verzögert die Behörde die Akteneinsicht mit der Begründung, dass die Unterschrift auf der Vollmacht Grigorjans gefälscht sei. Jetzt verweigert die Behörde die Einsicht komplett – ohne dass ein Anwalt sie je zu Gesicht bekommen hat. „Akteneineinsicht gibt es auch mit einer anerkannten Vollmacht nur bei laufenden Verfahren“, so der Sprecher der Ausländerbehörde, Norbert Smekal.

Nicht nur im Streit um die Akte tauchen Ungereimtheiten auf. Es gibt eine Regelung, die Ausländern ein Recht auf Aufenthalt zugesteht, wenn sie mindestens sechs Jahre als Familie in Deutschland gelebt haben. Das haben die Grigorjans, doch ihr Antrag wird abgelehnt. Dieses Recht verwirkt, wer seinen Aufenthalt durch Tricks verlängert. Ein solcher Trick ist zum Beispiel die Angabe eines falschen Namens. Das unterstellt die Ausländerbehörde dem Ehepaar. Die beiden gaben bei ihrer Einreise nach Deutschland den Namen Grigorjan an; unter dem sind sie in Armenien nicht registriert. Den Namen tragen sie seit ihrer Heirat in Russland 1992.

Liana und Grischo sind abgeholt worden – die Nachricht verbreitet sich rasch an der Heinrich-Hertz-Schule. Lianas Mitschüler aus der 7a sind entsetzt. Lehrerin Maya Weberruss muss trösten: „Wir haben handfeste Trauerarbeit zu leisten. Der Vorfall macht den Kindern Angst, es wird viel geweint.“ Liana hat viele Freunde, ist als fröhliches und aufgewecktes Mädchen beliebt. „Sie ist eine Hamburger Deern und gehört zu uns“, sagt Maya Weberruss. Liana war Klassensprecherin, alle kennen sie als hilfsbereit und verantwortungsvoll. „Wir konnten mit Problemen immer zu ihr kommen“, sagt die 12-jährige Yves.

Lianas Engagement vergelten ihr ihre Mitschüler mit großem Einsatz. Unterschriftensammlung, Flugblattaktion und Demonstrationszüge: Sie wollen ihre Liana zurück. Um die Grigorjans hat sich aus Freunden, Schülern und Lehrern die Aktionsgruppe „Kommt zurück“ gebildet. Der Bleiberechtsausschuss der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Altonaer Initiative Fluchtpunkt und der Flüchtlingsrat Hamburg sitzen mit im Boot.

Nadia Linde ist seit Jahren mit der Familie befreundet und reagiert am schnellsten: Unmittelbar nach der Abschiebung beginnt sie, Lianas und Grischos Geschichte öffentlich zu machen. „Ohne Öffentlichkeit erreichst du nichts“, sagt Nadia Linde.S ie dokumentiert alles – nicht zuletzt, um den beiden sagen zu können: Wir haben euch nicht aufgegeben. Sie hat den einzig möglichen bürokratischen Weg eingeschlagen und Petitionen an den Eingabenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft gerichtet. Immer wieder: Sie haben kein anderes Zuhause! Lasst sie zurückkommen!

Die Freunde in Hamburg fiebern wie Liana und Grischo in Eriwan auf die Sitzungen hin, bei denen der Fall auf der Tagesordnung steht. Doch mehr als einmal werden Entscheidungen vertagt. Ein Hin und Her, das Liana viel Kraft kostet: „Immer wieder wurde gesagt: Nicht heute, nächste Woche. Und immer wieder war es so, als wäre mein Leben vorbei. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann“, schreibt sie.

Für alle ist es schwierig, den behördlichen Lauf der Dinge nachzuvollziehen. Beispiel Härtefallkommission der Bürgerschaft: Die verhandelt dringende Eingaben zum Bleiberecht wie Nadia Lindes Petitionen. Sie ist aber nicht zuständig für Personen, die sich nicht in Deutschland aufhalten – also auch nicht für Liana, Grischo und den Vater in Armenien. Über deren Verbleib kann nur der Eingabenausschuss entscheiden.

Von der Kommission erhofft die Aktionsgruppe fälschlicherweise die Entscheidung, dass Liana, Grischo und ihr Vater nach Hause kommen dürfen . Tatsächlich stehen auf der Tagesordnung nur die Namen Gohar und Sona und die Frage, ob die beiden in Hamburg bleiben dürfen. Ein Bleiberecht für Mutter Gohar wiederum würde den Nachzug ihrer Familie nach Hamburg ermöglichen. Dass sie und Sona überhaupt noch in Deutschland sind, liegt daran, dass Papiere für die Abschiebung der Vierjährigen fehlen.

Von den bürokratischen Umständen erfährt Freundin Nadia Linde erst nach und nach aus der Zeitung. „Ich bin total frustriert. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehmen soll“, sagt die 43-Jährige. „Aber ich muss weitermachen. Für Liana und Grischo!“, motiviert sie sich.

Aus Eriwan kommen weitere E-Mails von Liana. Auch an die Härtefallkommission. Das Mädchen bettelt um Hilfe: „Wir können hier nicht mehr bleiben. Bitte, ich bitte Sie sehr, helfen Sie uns!“ Sie kann nicht glauben, dass es in Deutschland möglich ist, jemanden aus seiner Heimat in die Fremde zu schicken: „Wir sind doch keine Tiere, dass man uns so behandeln kann. Wir haben ein Recht in Deutschland zu leben wie jeder andere auch!“

Zweimal vertagt die Härtefallkommission ihre Entscheidung. Ende Juni beschließt sie, den Fall zurück in den Eingabenausschuss zu überweisen. Kein gutes Zeichen, aber aussichtslos ist die Sache damit noch nicht.

Wenn die Familie gemeinsam in Hamburg leben dürfte, würde sie dem Staat nicht einmal auf der Tasche liegen. Vater Ruben könnte „vollzeit für unseren Lieferservice arbeiten“, sagt Nadia Linde. „Und wir würden der Familie eine Wohnung zur Verfügung stellen.“ Eine Entscheidung über das Schicksal der Familie stand bei Redaktionsschluss noch aus.

Beatrice Blank