Nachruf Annemarie Dose : Gute Reise, liebste Ami!

Abschiedsworte für Annemarie Dose, Gründerin der Hamburger Tafel – und vor allem: für einen ungewöhnlichen Menschen. 

ami-sw-gross-cornelius-m-braun
Abschied von Annemarie (genannt Ami) Doose, 1928–2016. Foto: Cornelius M. Braun.

(aus Hinz&Kunzt 280/Juni 2016)

Es fällt mir schwer zu glauben, dass es sie nicht mehr gibt: Annemarie Dose. Sie war die Gründerin der Hamburger Tafel und vor allem: ein toller, ungewöhnlicher Mensch. Ami, wie wir sie genannt haben, ist am 28. April im Alter von 87 Jahren an den Folgen ihrer Krebserkrankung gestorben. Wie sie es sich gewünscht hat, ist sie zu Hause gestorben, in ihrem Drei-Generationenhaus, in dem sie mit der Familie ihrer Tochter gelebt hat.

1994 habe ich sie kennengelernt. Sie war damals 66 Jahre alt, aber sie kam mir ungewöhnlich lebendig, energisch und innerlich jung vor. Ich werde allerdings auch nie den Eindruck vergessen, den wir hatten, als sie zum ersten Mal durch unsere Tür kam. Uns allen blieb der Mund offen stehen.

Da stand sie, eine Frau im Kostüm und mit schwerem Goldschmuck. Nicht gerade der Anblick, den wir bei Hinz&Kunzt gewohnt sind. Und diese Frau aus ganz deutlich gutem Hause hatte null Berührungsängste – und eine Menge vor. Ein paar Tage vorher hatte es einen Bericht im Fernsehen über die Berliner Tafel gegeben. „Ich würde gerne so eine Tafel gründen, ich weiß aber nicht, wie man das macht“, sagte sie. Wie elektrisiert war sie! Anfangs war es nur ein kleiner Kreis um Ami, aber mit den Jahren wurden es immer mehr. Anfangs waren es nur Lebensmittel, die sie und ihr Team abholten. Heute ist es alles: von Kaffee bis Matratzen, Joghurt bis Gemüse, Schlafsäcken bis Betten.

Sie fand für alle Notfälle eine Lösung

Begegnungen mit Ami waren immer so eine Art Feuerwerk. Man war bei ihr immer gleich mittendrin. Ein Beispiel: „Klopapier“, begann Ami ein Gespräch, als ich sie mal in ihrem Lager besuchte, „ist ganz schwer zu kriegen.“ Klopapier? Was? Wo die Frau und ihr 120-köpfiges Team von Ehrenamtlichen doch tonnenweise „alles außer Drogen und Waffen“ einsammelt und verteilt – und dann redete sie über Klopapier. „Ja, du lachst!“, sagte sie gespielt empört. Aber natürlich: Die Hamburger Tafel bekommt eher Joghurt, ­Gemüse und Fertiggerichte als Klopapier, das kein Verfallsdatum kennt. Aber Ami wäre nicht Ami gewesen, wenn sie für solche Notfälle keine Lösung gefunden hätte.

Einmal stand sie mit ihrem Auto an einer roten Ampel. Wer Ami kannte, weiß: Sie stand nie einfach so an einer roten Ampel. Sie ließ immer den Blick schweifen. Neben ihr stand ein Laster mit einer Aufschrift, in der das Wort „Vlies“ vorkam. Ami schloss daraus, dass der was mit Papier zu tun haben müsse. Nein, sie sprang nicht aus dem Auto, um dem Lkw-Fahrer gleich seine Fracht abzuschwatzen. Sie erkundigte sich erst mal … und überzeugte den Chef. Wie sie so etwas immer wieder schaffte, war ihr Geheimnis. Jedenfalls bekam sie eine Zeitlang regelmäßig Klopapier geliefert. Das lagerte sie mit bestimmten Schätzen, die nur für ganz besondere Zwecke herausgerückt wurden, in ihrem „Hühnerstall“, einem Drahtkäfig.

Ganz offen räumte sie immer ein, dass sie unter einem Hamstersyndrom leide. Bei ihr wurde nichts so schnell weggeworfen. Dazu muss man wissen: Hinz&Kunzt wird regelmäßig von der Hamburger Tafel beliefert. In den Anfangsjahren, als wir intern noch nicht so viel über Nachhaltigkeit diskutiert haben, waren wir regelrecht beleidigt, weil bei manchen Waren das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. „Bei Trockenware halten die Lebensmittel mindestens noch ein Jahr länger“, sagte Ami. Das sei wohl typisch für ihre Generation, sagte sie.

Ami stammte aus einem wohlhabenden, behüteten Elternhaus in Sachsen. Dann kam der Krieg. 1948 schlug sie sich nach Hamburg durch, landete auf einem Bauernhof als Magd. Einer Kollegin von mir, Stephanie Lambrecht von der Morgenpost, erzählte sie in einem Interview, dass sie deshalb auch so ein Mitgefühl mit den Flüchtlingen habe. In Hamburg hat sie nämlich selbst „in einem ausgebombten Keller an der Eiffestraße gewohnt. Ich weiß wie es ist, keinen Namen zu haben.“ Das war auch der Grund, warum sie mit ihren 87 Jahren einfach nicht ganz aufhören konnte, sich für die Hamburger Tafel und vor allem für Menschen zu engagieren.

Erinnerungen an Ami Dose: Bildergalerie

  • ami-gespraech-1994-hoffmann-sliderAmi Dose im Gespräch im Oktober 1994 – das Jahr, in dem sie die Hamburger Tafel gründete. Foto: Frederika Hoffmann.
  • ami-jubilaeum-huk-sliderBeim 10-jährigen Jubiläum von Hinz&Kunzt mit Dieter Ackermann (li.) und Michael Hansen, beide damals Caritas Hamburg. Foto: Maurico Bustamante/Martin Kath
  • ami-bim-1994-hoffmann-sliderHinz&Kunzt-Chefredakteurin Birgit Müller (li.) im Oktober 1994 mit Ami Dose und einer früherer Tafel-Mitarbeiterin. Foto: Frederika Hoffmann.
  • ami-dose-Brinckmann-sliderIm März 2009 bekommt Ami Dose (bereits zum zweiten Mal) das Bundesverdienstkreuz verliehen – aus der Hand des damaligen Sozialsenators Dietrich Wersich (CDU). Foto: Martin Brinckmann.
  • ami-tafel-92-f-hoffmann-sliderIm Gespräch mit Tafel-Mitarbeitern. Foto: Frederika Hoffmann.
  • ami-dose-arbeit-sliderAnpackend war sie immer – wie hier auf der Internorga 2009. Foto: Martin Brinckmann.
  • ami-sofe-geb--Brinckmann-sliderAnnemarie Dose bei der Feier anlässlich ihres 80. Geburtstages. Foto: Martin Brinckmann.

Später lernte sie „ihren“ Herbert Dose kennen. Die ­beiden haben zwei Töchter, er verdiente das Geld, sie hielt ihm den Rücken frei. Sie führten ein sorgenfreies Leben in Volksdorf. Dann starb ihr Mann. Ami war damals Mitte 60. „Manchmal wusste ich gar nicht mehr, warum ich morgens aufstehen sollte“, sagte sie über diese Zeit. Ihre Kinder gaben ihr Tipps: zu verreisen, es sich gut gehen zu lassen. „Ich habe alle Ratschläge befolgt“, sagte sie. Aber nichts half. Erst die Hamburger Tafel hat ihr neuen Lebensmut gegeben.

Über den Tod haben wir beide nie gesprochen. Vielleicht, weil ich mir nie vorstellen wollte, dass sie eines Tages nicht mehr da ist. Das Interview, das sie mit Morgenpost-Kollegin Stephanie Lambrecht führte, hat mich tief berührt. Da war sie schon schwer krank, telefonierte aber trotzdem mit Prominenten und Firmen, um etwas für die Tafel an Land zu ziehen. Der Krebs sei nicht ihr wichtigstes Thema, sagte sie zu Stephanie Lambrecht. „Ach, ich bin 87 Jahre alt, ich stehe vor der letzten Tür, was soll ich mich da verrückt machen?“

Durch diese letzte Tür ist die zweifache Bundesverdienstkreuzträgerin jetzt gegangen …, und uns bleibt nur noch, Danke zu sagen: Danke, liebste Ami, für deine Energie, für deine Zuversicht und dafür, dass du trotz vieler dunkler Tage in deinem eigenen Leben nie das Positive verloren hast. Ich höre innerlich, wie Ami auf dieses Danke reagieren würde – stolz, aber auch abwehrend: „Das tue ich auch für mich.“ Und dass ihr der Dank ja nicht alleine gebühre, sondern auch den 120 Ehrenamtlichen. Zum Schluss möchte ich noch einmal ein Kompliment für Ami zitieren, mit dem sie durchaus einverstanden war – und das Ami so gut beschreibt. Es stammt von der ehemaligen Hamburger Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram. „Annemarie Dose ist der einzige Mensch, den ich kenne, der einem die Tür eintritt – und man sagt noch Danke.“

Text: Birgit Müller
Fotos: Cornelius M. Braun, Mauricio Bustamante, Martin Kath, Martin Brinckmann, Frederika Hoffmann.

 

 

Weitere Artikel zum Thema