Wohnungslose Frauen : „Meistens sind sie ganz entzückend“

Die Chefin nennt sie nur „meine Ladies“: 150 wohnungslose Frauen leben in der Bahrenfelder Notkestraße in einer öffentlichen Unterkunft von fördern und wohnen. Manche schon ihr halbes Leben – wie Frau H., die 74-jährige Plattensammlerin.

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Frau H. will nicht in ein Seniorenheim ziehen, weil das teurer für die Behörden wäre.

„Wohnunterkunft Notkestraße, grüß Gott!“, sagt Christiana Kant so bayerisch ins Telefon, wie sie es gerade über die Lippen bekommt. Vorher hatte sie auf dem Display gesehen, dass jemand aus München anruft. Bei ihren Kolleginnen sorgt die Improvisation für freudiges Kichern. Wie hier ohnehin während der Arbeit viel gelacht wird: „Das Wichtigste, was du hier brauchst, ist Humor“, sagt Kant, nachdem sie den Hörer aufgelegt hat. „Weil es hier so schon traurig genug ist.“

Das Team um Frau Kant ist verantwortlich für 150 Frauen, die keine eigene Wohnung haben oder obdachlos waren. Sie ist Sozialarbeiterin in der größten städtischen Unterkunft für wohnungslose Frauen, die von fördern und wohnen (f&w) betrieben wird. 80 Prozent der Bewohnerinnen gelten als nicht alleine wohnfähig. Viele von ihnen sind psychisch krank. Zwei Drittel ihrer „Ladies“, wie Kant sie nennt, hören Stimmen, sehen Dinge, die andere nicht sehen, oder leiden unter Verfolgungswahn: „Wahrscheinlich sind sie hier gelandet, weil sie sich nicht behandeln lassen.“

Und viele leben hier schon sehr lange. Kein einfacher Job, sie alle zu betreuen. „Es war nicht leicht, geeignete Mitarbeiterinnen zu finden“, sagt Kant. Sie selbst sei aber vor einem Jahr in die Notkestraße gekommen und habe sich gesagt: „Oh, eine Herausforderung!“ Eigentlich waren es gleich mehrere Herausforderungen. Eine davon war Frau H. Der Flur vor ihrem Zimmer im ersten Stock ist lang und mit Linoleum ausgelegt. Es gibt eine gemeinsame Küche und einen Waschraum. Die Räume versprühen den Charme von Jugendherbergen oder Schwimmbädern. Umkleidekabinen inklusive. 50 Frauen wohnen in diesem Gebäude.

Das Zimmer von Frau H. ist karg eingerichtet. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Fernseher, ein Kühlschrank und ein Schrank. An der Wand hängt eine Quarzuhr, auf den Tisch hat sie neben H-Milch und Margarine ein paar Blumen in eine Vase gestellt. Ihr ganzer Schatz sind ihre Langspielplatten. Stolz hält sie diese in unsere Kamera. Die 74-Jährige hat mehr als ein Drittel ihres Lebens in der Notkestraße verbracht. Ans Ausziehen, zum Beispiel in ein Seniorenheim, denkt sie trotzdem nicht: „Das ist hier billiger fürs Sozialamt“, sagt sie. „Da nehme ich Rücksicht drauf.“

Ein Argument, das man auf den Fluren in der Notkestraße sehr häufig hört. Für viele Frauen ist die Gemeinschaft im Haus inzwischen aber auch ein Familienersatz geworden. „Sie hassen und sie lieben sich“, sagt Christiana Kant. „Meistens sind sie entzückend zusammen.“ Schon die Ankündigung, einen Ausflug zu machen, löse bei manchen Bewohnerinnen Angst aus: „Wenn du denen sagst, dass sie ausziehen müssen, rasten sie aus.“

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Frau B. ist die dienstälteste Bewohnerin der Unterkunft in der Notkestraße: Seit 40 Jahren lebt sie schon hier.

Auch Frau B. plant keinen Auszug aus der Unterkunft. 40 Jahre lebt sie schon hier. Die Frauen bekommen hier eine Nummer, wenn sie einziehen. Inzwischen sind diese Nummern sechsstellig, die von Frau B. hat noch drei Ziffern. „Wo soll ich denn hin?“, fragt die 73-Jährige. Zeit für ein Interview hat sie eigentlich nicht, denn freitags muss sie zur Bank. Auf der gemeinsamen Busfahrt dorthin erzählt sie, wie sie in die Notkestraße gekommen ist: In den 70ern habe sie noch in einer Wohnung auf St. Pauli gelebt und bei sich einen jungen Mann aufgenommen. Der habe allerdings seine Miete nicht bezahlt, sodass beide letztlich zwangsgeräumt worden seien. Seitdem, so berichtet sie es den vielen Fahrgästen, die inzwischen gespannt zuhören, sei sie wohnungslos.

Neben dem Haus, in dem Frau H. und Frau B. wohnen, hat f&w gerade ein neues Gebäude eröffnet, in dem weitere 50 Frauen unterkommen können. Es ist ein modernes Haus mit Balkonen. Für die Sozialbehörde, die gerade aus der Not heraus in der ganzen Stadt Containerdörfer als öffentliche Unterkünfte errichten lässt, ist das etwas Besonderes: „Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir auch schöne und langfristige Unterkünfte bauen wollen“, hatte Staatsrat Jan Pörksen bei der Eröffnung im Juni gesagt. Das ging auch deswegen gut, weil ausreichend Platz vorhanden war: Das Grundstück befand sich bereits im Besitz von fördern und wohnen.

In dem neuen Gebäude ist der Grundriss anders als in dem alten, und er bietet den Bewohnerinnen etwas mehr Privatsphäre: Sie leben hier zu viert in Wohngemeinschaften, nutzen Bad und Küche gemeinsam. Jeweils zwei Frauen teilen sich ein 15 Quadratmeter großes Zimmer. „Für die, die so leben können, ist das die bessere Wohnform“, sagt Kant. Aber bei der Planung des Gebäudes ging es eigentlich darum, die Zimmer später einmal als normale Wohnungen vermieten zu können – „falls der Bedarf zurückgeht“, sagt die Sozialarbeiterin. Rücksicht auf die Wünsche der Bewohnerinnen erlaube die angespannte Lage in den städtischen Unterkünften nicht, erklärt sie: „Wir sind an dem Punkt, an dem wir nicht mehr darüber nachdenken können, welche Form der Unterkunft sinnvoll ist.“

Die Frauen, die im neuen Haus wohnen, unterscheiden sich von den Frauen aus dem alten. Die, die jetzt neu eingezogen sind, gehen häufig sogar noch arbeiten oder wurden gerade von ihren Eltern vor die Tür gesetzt. So lange wie Frau H. und Frau B. wird von ihnen wohl keine bleiben. Die ersten, die hier im Februar eingezogen sind, haben inzwischen eine eigene Wohnung gefunden und konnten aus der Notkestraße ausziehen. Vier der Wohngemeinschaften hält das Team für Frauen unter 25 frei. Als die noch bei den alten Damen auf dem Flur schlafen mussten, kam es häufig zu Konflikten, berichtet Kant: „Die haben es mit den Alten nicht ausgehalten und sind schreiend wieder rausgelaufen.“

Hinter Bäumen verbergen sich noch zwei andere Gebäude von f&w. Darin leben weitere 50 Frauen, die den Absprung aus der öffentlichen Unterkunft geschafft haben und dort in eine eigene Wohnung ziehen konnten. Sie sind jetzt ganz normale Mieterinnen.

Eigentlich sollen Kant und ihre Kollegin hier den „sozialen Frieden“ sicherstellen. So will es das Sicherheits- und Ordnungsrecht. Außerdem sollen sie die Frauen ins Hilfssystem vermitteln. „Aber das, was wir hier machen, überschreitet diesen Auftrag bei Weitem“, sagt sie. Dafür bekommen die Mitarbeiterinnen Anerkennung. „Sie haben den nötigen Respekt vor den Bewohnerinnen und deren Lebenssituationen“, hatte f&w-Bereichsleiter Till Kobusch das Team bei der Eröffnung des neuen Gebäudes gelobt. „Prima“ würde es in der Notkestraße laufen. Und: „Sie zeichnet der richtige Mix aus Empathie und professioneller Distanz aus.“

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Christiana Kant hat ihren „Herzensjob“ gefunden.

Selbstverständlich ist dieses Engagement wohl kaum, aber für Christiana Kant ist das hier ein „Herzensjob“, wie sie sagt. Und das merkt man. „Wir möchten diesen Menschen einen ehrwürdigen Lebensabend bereiten, ohne sie in ein Heim zu stecken.“ Das Team gibt sich alle Mühe, das zu schaffen. Im Keller des neuen Gebäudes haben sie einen Raum um Secondhand-Kaufhaus hergerichtet, das ein Mal in der Woche geöffnet ist. Die Einnahmen sollen das gemeinsame Frühstück finanzieren, das eine Freiwillige jeden Freitag im Gemeinschaftsraum organisiert. Ohnehin gibt es viel Unterstützung: Der Bürgerverein Flottbek-Othmarschen bietet für die Bewohnerinnen zum Beispiel Kaffeefahrten an und der Lions Club organisiert Sommerfeste.

Der Mann aus München, den Kant mit „Grüß Gott!“ begrüßt hatte, stellte sich als Cousin einer Bewohnerin heraus, einer, die Kant als „sehr impulsiv“ beschreibt: „Sie macht ja so Sachen, dass sie ihre Wohnung unter Wasser setzt oder ihre Sachen aus dem Fenster wirft.“ Beliebt ist sie hier trotzdem: „Ich mag sie so gerne, sie ist so entzückend“, schwärmt Frau Kant.

Das Team hat schon lange nach ­ihren Verwandten gesucht, von denen sie immer wieder erzählte. Den Bayern konnte es aber nie ausfindig machen. „Den gibt’s also wirklich!“, freut sich Kant. „Das ist toll!“ Denn jetzt kann die Bewohnerin in eine Einrichtung in der Nähe ihrer Familie umziehen. Für Christina Kant ein Erfolg: „Das ist das, was die Arbeit hier so schön macht!“

Text: Benjamin Laufer
Fotos: Miguel Ferraz