Leben in Hamburgs Wohnzimmer

Wie die sozialen Initiativen City das Miteinander in der Innenstadt fördern

(aus Hinz&Kunzt 138/August 2004, Die Verkäuferausgabe)

Er tritt auf der Stelle. Von einem Bein aufs andere. Der große dünne Mann mit dem Bart streicht sich mit der Hand über den Schädel. Die Bewegung kostet ihn Konzentration und wirkt doch unbeholfen. Er spricht die vorbeieilenden Passanten an und bittet um Geld. Das Sprechen fällt ihm schwer, er ist kaum zu verstehen. Die meisten ignorieren ihn oder schütteln den Kopf und gehen weiter – in die Kaufhauswelt mit spiegelnden Fassaden und gläsernen Passagen. Innenstadt, City-Flair.

Zwischen Hauptbahnhof und Rathaus, im Herzen der Stadt, ist Bewegung. Kaufen, essen, arbeiten, flanieren. Mittendrin liegt der Mönckebergbrunnen. Dort, wo die Spitalerstraße auf die Mönckebergstraße trifft, öffnet sich ein kleiner Platz: ein Kunstwerk in der Mitte und ein paar Bäume in der Pflasterwüste. Hier kreuzen sich die Wege tausender Passanten, und der dünne Mann mit den unbeholfenen Bewegungen versucht sein Glück.

Ein paar Meter weiter auf den Bänken unter den Bäumen sitzt eine Gruppe von Menschen. Die meisten trinken Alkohol. Einige sind obdachlos, andere kommen der Geselligkeit wegen. Die Innenstadt ist ihr „Zuhause“. Der Konflikt mit Geschäftsleuten ist programmiert, wenn manche aus der Trinkerrunde im Rausch die Regeln des Zusammenlebens im öffentlichen Raum ignorieren.

Ein Fall für die Sozialen Initiativen City (SIC). Einmal im Monat tauschen sich Sozialarbeiter, Kirchenmitarbeiter, Citymanager und Polizei aus – rund 20 Institutionen sind vertreten. „Die Mannschaft ist der Star“, sagt Pastor Gunter Marwege von der Cityseelsorge. In diesem Fall knüpfen die Straßensozialarbeiter der Heilsarmee, spezialisiert auf die Beratung von Menschen mit Alkoholproblemen, und der Bürgernahe Beamte der Polizei Kontakt zu der Gruppe am Mönckebergbrunnen.

Caren Frank hockt am Boden. Sie geht auf Augenhöhe mit ihren Klienten. Die Straße ist ihr Arbeitsplatz. Sie ist eine von drei Straßensozialarbeitern, die Menschen auf der Straße aufsuchen und betreuen, sie unterstützen und an soziale Einrichtungen vermitteln. Ihre Arbeit profitiert ganz wesentlich von der SIC, von der Transparenz und Kommunikation.

Caren Frank berichtet von Herrn W., der mehr als zehn Jahre obdachlos war. Hin und wieder nutzte er Hilfsangebote. Die Sozialarbeiterin kannte ihn vom Mitternachtsbus des Diakonischen Werkes. Sie kamen ins Gespräch, doch zu den vereinbarten Terminen kam Herr W. nicht. Caren Frank hielt weiterhin Kontakt und machte deutlich, dass er sich jederzeit an sie wenden könne. Nach mehr als einem Jahr meldete sich Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei Hinz & Kunzt, bei der Kollegin. Herr W. war bei ihm und wollte mit Caren Frank sprechen. Diesmal erschien er zum vereinbarten Termin, und von da an ging alles sehr schnell. Sie begleitete Herrn W. aufs Amt. Er wurde Verkäufer bei Hinz & Kunzt, bekam über die Tagesaufenthaltsstätten medizinische und psychiatrische Hilfe. Und innerhalb von wenigen Wochen konnte für Herrn W. eine Unterbringung bei der Stadtmission gefunden werden.

„Die Hauptarbeit liegt im Beziehungsaufbau“, sagt Caren Frank. Wenn die Betroffenen erst den Entschluss gefasst haben, Hilfe in Anspruch zu nehmen, dann sind die Wege dank der internen Kommunikation kurz und effektiv. Doppelbetreuung kann so vermieden werden.

Nicht alle Geschichten enden so gut wie die von Herrn W. „Seine Geschichte zeigt, dass langfristige Arbeit notwendig ist und dass das Konzept der aufsuchenden Straßensozialarbeit funktioniert“, sagt City-Manager Henning Albers, der die Interessen der Geschäftsleute vertritt. „Das gemeinsame Interesse zu helfen steht im Vordergrund.“

Die Betreiber eines Geschäfts nahmen Kontakt zu Henning Albers auf, weil ein Obdachloser mit Unmengen Gepäck im Eingang sein Lager aufgeschlagen hatte. Der City-Manager brachte das Problem in die SIC. Es stellte sich heraus, dass der Mann schwer psychisch krank war. Jemand, der nicht in der Lage ist, von sich aus Hilfsangebote aufzusuchen. Ein Mitarbeiter vom „StützPunkt“, einer Anlaufstelle für Obdachlose (siehe Info-Kasten), nahm Kontakt auf, und es kam zu der Einigung, dass er tagsüber mit seinen Habseligkeiten in einen Seiteneingang umzieht. Damit konnten auch die Geschäftsleute leben.

Das soziale Krisenmanagement funktioniert, aber der Übergang in ein Leben mit Kontinuität, Heim und Sinn bleibt dennoch schwierig. Denn Übernachtungsplätze für Wohnungslose und vor allem Wohnraum für sozial Schwache gibt es in Hamburg viel zu wenig. „Von Jobs ganz zu schweigen“, fügt Pastor Marwege hinzu. Hier stößt die Arbeit der SIC an Grenzen – Grenzen einer sozialen Realität, in der Verarmung, Schulden, Suchtprobleme und psychische Störungen zunehmen.

Für den Mönckebergbrunnen gibt es seit diesem Frühjahr eine kleine Absprache: Diejenigen, die sich dort täglich treffen und trinken, ziehen ab mittags auf den nahe gelegenen Gertrudenkirchhof um. Keine Lösung, aber ein Kompromiss.

Der dünne Mann mit den unbeholfenen Bewegungen hat Glück: Eine junge Frau bleibt stehen und spricht mit ihm.

Runder Tisch. 1999 gegründeter Gesprächskreis mit Vertretern der Geschäftsleute, der Kirchen, der Behörden und der sozialen und karitativen Initiativen, die in der Innenstadt tätig sind. Initiiert wurde der Runde Tisch von Dr. Lutz Mohaupt, Hauptpastor an St. Jacobi, und Prof. Dr. Hans-Jörg Schmidt-Trenz, Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Hamburg. Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Interesse, Obdachlosen, Bettlern und Suchtkranken zu helfen. Verdrängungspolitik ist für niemanden eine Lösung. Der Runde Tisch hat unter anderem den „StützPunkt“ ins Leben gerufen. Die aktuelle Forderung an die Behörde für Soziales und Familie: drei zusätzliche Straßensozialarbeiterstellen für die Innenstadt.

StützPunkt. Umgebautes Toilettenhäuschen auf dem Domplatz bei der Hauptkirche St. Petri. Fritz-Schumacher-Backstein-Bau am Rande eines Parkplatzes. Hier können Obdachlose ihr Gepäck tagsüber einschließen und die sanitären Einrichtungen nutzen. Täglich (außer sonntags) nehmen rund 25 Männer und Frauen das Angebot an. Der „StützPunkt“, eine in Deutschland einmalige Einrichtung, ist ein Projekt des Runden Tisches. Finanziert wurden der Umbau und die halbe Sozialarbeiterstelle durch Spenden aus der Aktion „Ein Dach für Obdachlose“; die Hamburger Sozialbehörde verdoppelte den Betrag. Träger ist der Caritasverband. Auf dem Domplatz sollen archäologische Ausgrabungen stattfinden, später soll der Platz bebaut werden. Nach einem neuen Standort für den „StützPunkt“ wird gesucht, das Angebot soll auf jeden Fall bestehen bleiben.

Hummel-Figuren. Seit Mai 2003 bevölkern 117 überlebensgroße Hummel-Figuren die Hamburger Innenstadt. Der Wasserträger Johann Wilhelm Bentz, genannt Hummel, diente als Vorbild. Die Figuren sind von Künstlern gestaltet und von Firmen gesponsert. Hinter der Aktion steht das City-Management Hamburg. Der Zusammenschluss von Geschäftsleuten hat sich zum Ziel gesetzt, die Innenstadt für Hamburger, für Menschen aus dem Umland und für Touristen so attraktiv wie möglich zu gestalten. Im Herbst 2005 werden die Figuren, soweit deren Eigentümer sie nicht behalten wollen, zugunsten der Initiative „Ein Dach für Obdachlose“ versteigert. Weitere Informationen im Internet unter www.hanshummel.de

Annette Scheld