Interview mit Feministin Laurie Penny : „Viele Jugendliche sind versteckt obdachlos“

Die britische Feministin Laurie Penny will eine bessere, soziale Gesellschaft für alle. Die 29-Jährige fordert: Meutert gegen die bestehenden Verhältnisse!“ Wir trafen die streitbare Autorin während ihrer Lesetour in Hamburg, wo sie ihre erstes Buch mit Kurzgeschichten vorstellte. 

Redet KLARTEXT: Die britische Autorin und Feministin Laurie Penny (29).
Redet KLARTEXT: Die britische Autorin und Feministin Laurie Penny (29).

 

Frau Penny,  in ihrer Kurzgeschichtensammlung „Babys machen“ gibt es diese Geschichte, in der eine Roboteringenieurin für sich und ihren Partner ein mechanisches Baby baut. Es ist nicht ganz wasserdicht, dafür kann man es abschalten, wenn es nervt. Hinterfragen sie damit das vermeintliche Lebensziels einer jeden Frau, Kinder zu gebären?
Laurie Penny: Natürlich fände ich es großartig, wenn wir technologische Fortschritte im Zusammenhang mit Schwangerschaften finden würden. In dieser Geschichte findet die Frau ja eine kreative Alternative zur Schwangerschaft. Sie hat absolute Kontrolle. Aber das ist nicht als 1:1-Aussage zu lesen, es ist eine Kurzgeschichte.

War es befreiend, Kurzgeschichten zu schreiben und sich ausnahmsweise nicht an harte Fakten halten zu müssen?
Ja, aber auch schwieriger als bei meiner Arbeit als politische Journalistin. Aber es war insofern befreiend, als das nicht alles sofort durchleuchtet wird. Wissen sie, mit 22 Jahren stand ich plötzlich in der Öffentlichkeit, ich war noch sehr jung und das war alles nicht geplant. Heute habe ich einen Zustand erreicht, wo jedes kleine Wort von mir sofort auf die Goldwaage gelegt und öffentlich zerrissen wird. Alles wird beurteilt. Leute wühlen in meiner Vergangenheit herum, um irgendwelche Familiengeheimnisse zu finden, mit dem sie mir schaden können. Sie suchen nach Aussagen, in denen ich mir selbst widersprochen habe, ganz so, als ob man sich politisch nicht entwickeln dürfte. Aber bei den erfundenen Geschichten ist das schlimmste, was jemand sagen kann: „Mir gefällt die Geschichte nicht.“

In ihren Artikeln und Sachbüchern schreiben sie, dass es durchaus Frauen gibt, die keine biologische Uhr ticken hören und zeitlebens keinen Kinderwunsch haben. Meistens bekämen die dann zu hören „Ach, wenn du erst den Richtigen findest, willst du auch Kinder!“.
Ja, oder es wird dieses Bedrohungsszenario aufgebaut: „Niemand wird für dich da sein, wenn du alt bist.“

Laurie Penny schreibt jetzt auch Kurzgeschichten.
Laurie Penny schreibt jetzt auch Kurzgeschichten.

Hat sich daran nichts geändert, seitdem sie über Feminismus schreiben?
Oh Gott, nein! Ich denke sogar, dass der Druck heute noch stärker geworden ist. Speziell seit der Finanzkrise. Mädchen wurde nicht gesagt „Ihr könnt machen, was immer ihr wollt.“ Es geht eher darum, wie man als Frau die Arbeit in Einklang bringen kann mit den Kindern, die man ohne Frage eines Tages in die Welt setzen wird. Ich bin in der britischen Mittelklasse groß geworden. Mir wurde gesagt, dass Frauen jeden Beruf ergreifen können, den sie wollen. Aber mir hat nie jemand gesagt – erst seit Kurzem wird es hinter vorgehaltener Hand im Freundeskreis geflüstert – dass es vollkommen in Ordnung ist, keine Kinder haben zu wollen. Ich bin ambivalent bei dieser Frage. Ich würde gern ein Kind haben, aber im Moment würde es nicht in mein Leben passen. Ich bin auch nicht darauf vorbereitet, mein Leben so zu verändern, dass ein Kind hineinpassen würde. Und das ist schon wirklich traurig. Aber ich sehe das nicht als persönliches Scheitern an. Es ist ein gesellschaftliches Versagen. Wenn die Umstände anders wären, klar! Ich liebe Kinder. Ich liebe Babys. Und, was noch schlimmer ist, Babys lieben mich. Ich bin nicht sonderlich groß und habe eine piepsige Stimme und Kinder fragen sich wohl: „Oh, wer ist diese verrückte Frau?“ Manchmal färbe ich mir die Haare bunt. Kinder lieben das. Sie wollen es immer anfassen.

„Viele Jugendliche sind versteckt obdachlos“

Ich möchte mit ihnen über Obdachlosigkeit sprechen. Sie wohnen in London in einem Kollektiv mit bis zu 16 Mitbewohnern. Dort bieten sie immer wieder von Obdachlosigkeit bedrohten LGBT-Jugendlichen eine Zuflucht. Außerdem waren sie in der Occupy-Bewegung aktiv. Wie nehmen sie Obdachlosigkeit wahr?
In Großbritannien gibt es viele Menschen, die gerade so an der Obdachlosigkeit vorbei schrammen. Die Menschen schlafen nicht alle unbedingt auf der Straße, aber auf der Couch von Freunden, wo sie jederzeit rausgeschmissen werden können. Ich selbst habe nie auf der Straße geschlafen, hing aber in der Luft während der Suche nach einer Wohnung oder nach Umzügen. Viele der Jugendlichen sind versteckt obdachlos. Sie würden auf der Straße landen, wenn sie keine Community hätten, die sie unterstützt. Dazu zählen junge LGBT-Menschen, die nicht mehr bei ihren Eltern wohnen können. Unser Haus ist ständig komplett voll: Derzeit sind wir zu acht. Für einige Wochen im Winter waren wir 16 Leute – das war zu viel. Für lange Zeit habe ich ein winziges Zimmer mit einem Mädchen geteilt, weil wir beide einen Ort zum Schlafen brauchten, aber es gab nicht genug Platz für uns beide, also mussten wir den einen Raum teilen. Aber die Vorstellung, ein eigenes Haus nur für mich zu haben, wo niemand anderes wohnt, ist total fremd für mich.

Also nicht das klassische Reihenhaus mit Mann und Kind für sie?
God, no way! Ich fühle mich so viel freier und glücklicher. Wir haben schon darüber gesprochen was wir tun würden, wenn der Vermieter das Haus verkauft. Wohin würden wir gehen? Wie könnten ein paar von uns oder am besten alle zusammenbleiben? Da einige jetzt mehr Geld verdienen, könnten wir zusammen schmeißen. Ich wollte in einem Kollektiv leben, seit ich den schwedischen Film „Tilsamens!“ gesehen habe. Ich war 14 und dache ‚Das bin ich! Das ist mein Leben!‘ So will ich leben!“ Ein brillanter Film, der nichts romantisiert. Es gibt den verrückten Kommunisten und die Hippies, die den TV verbannen und das schlampiges Mädchen, das nie abwäscht. Sehr real. Ich bin besessen von dem Film und sehe ihn jedes Jahr wieder.

Ihr Ideal von einem freien Leben?
Es ist ja so: Jede Art zu leben ist unterdrückend, wenn du den Menschen sagst, sie müssten es so. Wenn sie keine andere Wahl haben. Es ist nichts falsch an Monogamie, so lange dich niemand dazu zwingt, monogam zu leben. Es ist nichts falsch daran, hetero zu sein, so lange du nicht angeschrieben wirst, wenn du es nicht bist. Innerhalb des Feminismus gibt es so viele Menschen, die sich selbst dafür kritisieren, dass sie Make-Up, Hübschsein und traditionelle Dinge mögen und es ist nicht die Tatsache, dass wir uns dafür entscheiden, die problematisch ist. Es wird erst problematisch, wenn es zur Pflicht wird, Make-Up zu tragen, hübsch zu sein und traditionelle Dinge zu mögen.

„Ich wollte schon immer in einem Kollektiv leben“

Sie haben in sehr vielen WGs gewohnt: viele davon heruntergekommene, schimmlige Buden, in denen Drogendealer und Ratten so groß wie Hunde sich die Klinke in die Hand gaben …
Ja, ich bin oft umgezogen. Mit gefällt gemeinsames Wohnen sehr gut, das Leben in WGs, im Kollektiv oder in der Kommune. Das ist nicht nur eine gute Lösung für die Wohnungskrise in London, sondern es entspricht meiner Vorstellung, wie ich gern leben möchte. Ich möchte an einem gemeinschaftlich geteilten Ort leben, aber ich werde bald 30 Jahre alt und langsam geht es mir auf die Nerven, ständig dreckig zu sein (lacht). Es wäre toll, mal keine schimmlige Dusche zu haben. Es wäre toll, im Winter mal nicht zu frieren in der WG. Wie gesagt, ich habe noch nie auf der Straße geschlafen und in vielerlei Hinsicht habe ich unglaublich Glück gehabt in meinem Leben. Wenn ich ausziehen musste, hatte ich genug Geld, um für ein neues Zimmer die Kaution zu hinterlegen. Ich bin nicht arm gewesen, wenn man das mit den Standards anderer Leute vergleicht. Aber das Leben in London ist so knallhart und so teuer. In Großbritannien hat sich die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen fünf, sechs Jahren verdoppelt. Zum Teil weil die Mieten in astronomische Höhen gestiegen sind, niemand hat es kontrolliert. Die Löhne sind gesunken und Arbeitsplätze wurden abgebaut.

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In Hamburg werden Obdachlose nicht offiziell gezählt.
Ich glaube, im Silicon Valley gibt es diesen Spruch ‚Was Du zählst zeigt, was für Dich zählt’. Wenn der Senat die Obdachlosen nicht zählt, bedeutet das, dass es ihnen gleichgültig ist. In San Francisco, wie überall in den USA, gibt es so viele Obdachlose. Die haben wahnsinnige Probleme dort damit. Die Menschen dort dürfen nur wählen gehen, wenn sie einen festen Wohnsitz haben. Obdachlose werden also automatisch entrechtet.

Die meisten Obdachlosen auf der Straße sind Männer, viele der Frauen leben versteckt obdachlos. Nicht selten übernachten sie bei Bekannten gegen sexuelle Gefälligkeiten.
Ich kenne selbst Menschen, die das gemacht haben. Das ist sehr traurig. In vielen Gesellschaften läuft es ja nicht so, dass du an einem Tag einen sicheren Platz zum Leben hast und am nächsten schläfst du auf der Straße. Da gibt es ein großes Spektrum von Ungewissheit, das dazwischen liegt. Eine Frau, die mit jemandem schläft, damit sie nicht auf der Straße landet, ist total abhängig von dieser Person. Wenn sie plötzlich keinen Bock mehr hat, was dann? Ist diese Frau dann obdachlos? Vielleicht ja, vielleicht nein.

„Menschen entwickeln eine Art Mitleidsmüdigkeit“

Sie schreiben viel über unsichtbare Frauen: arme, schwarze, alte, dicke Frauen, die von der Gesellschaft ausgeblendet werden. Das Gleiche gilt für Obdachlose. Viele wissen sich nicht mehr zu helfen und blenden diese Menschen aus, quasi aus einer Art Selbstschutz um sich vor dem Leid zu schützen.
Für San Francisco trifft das auf jeden Fall zu. Die Stadt hat einen enorm großen Obdachlosenanteil. Es kommen all diese jungen Menschen in die Stadt, die ihr Glück im Silicon Valley machen wollen. Die Menschen dort steigen morgens über Obdachlose, wenn sie in ihre Tech-Start-Up-Büros gehen. Die erste Frage ist: Wie können wir diesen Menschen helfen und das Problem lösen, aber die Frage ich auch, was bewirkt diese Missachtung der Obdachlosen bei diesen jungen Menschen selbst? Mitgefühl ist etwas, was die meisten Menschen nur in begrenztem Ausmaß zur Verfügung haben. Wenn du die Straße runterläufst, gibt du ein Lächeln oder Geld dem ersten Obdachlosen, der dir begegnet, vielleicht auch noch dem zweiten – aber was ist mit dem zehnten? Dem elften, dem zwölften? Die Menschen entwickeln eine Art Mitleidsmüdigkeit. Um sich selbst zu schützen, entscheiden sie sich, wegzusehen. Sie sagen sich, dass das eben normal sei und sie ohnehin nichts dagegen tun könnten.

Wir kriegen von unseren Hinz&Künztlern immer wieder das Feedback, dass es einen Riesenunterschied macht, ob sie da sitzen und betteln oder ob sie auf Augenhöhe eine Zeitung verkaufen. Es ist eigentlich verrückt, dass es eine Zeitung braucht um den Mensch dahinter wieder sichtbar zu machen.
Absolut! Ganz gleich, ob jemand obdachlos ist oder nicht, es gibt dieses soziale Stigma, wenn jemand nichts zu verkaufen hat. Nichts anzubieten hat. Die allgemeine Sichtweise ist ja die, wenn du einen Job hast, und wenn es ein Straßenmagazin verkaufen ist, dann bist du automatisch wieder mehr Mensch. Das finde ich schon traurig, dass wir überhaupt so denken. Aber es geht ja auch um die Kraft der Begegnung. Und die Kraft von Journalismus. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich einmal den Gründer von The Big Issue habe sprechen hören, es war zu meiner Schulzeit, als John Bird in unsere Schule kam. Ich erinnere mich noch immer an vieles, was er gesagt hat. Nicht nur, dass es den Menschen erlaubt ihre Würde zu bewahren, sondern auch, wie mächtig Journalismus und die Geschichten in einem Straßenmagazin sein können. Es ist nie nur ein Informationsüberbringer, auch das Format ist wichtig. Ich bin daher sehr stolz, dass ich dieses Interview mit Hinz&Kunzt führen kann.

Wenn ihnen eine Fee morgen einen Wunsch freigeben würde, welchen wählen sie?
Die komplette Zerstörung des Lohnsystem und die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens für alle! Wobei ich nicht glauben, dass es das drängendste Problem ist aber das, wovon am meisten Menschen profitieren würden.

Interview: Simone Deckner
Foto: Andreas Hornoff

„Babys machen und andere Storys“, Edition Nautilus, 176 Seiten, 19,90 Euro. www.laurie-penny.com

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