Kongress : Kinderarmut bekämpfen

Armut ließe sich viel wirksamer bekämpfen, wenn der politische Wille dafür da wäre: Das meint der Sozialwissenschaftler Johannes Richter. Er ist einer der Experten, die ab Donnerstag auf einem Kongress in Hamburg Rezepte gegen Kinderarmut suchen.

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Professor Dr. Johannes Richter ist Vorstandsmitglied des Hamburger Kinderschutzbundes und lehrt seit 2010 an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie Hamburg.

Hinz&Kunzt: Herr Professor Richter, in Stadtteilen wie der Veddel oder Steilshoop leben mehr als die Hälfte der Kinder in Armut. Hat der Staat versagt?

Professor Johannes Richter: „Versagt“ ist ein etwas zu starkes Wort. Es gibt ja seit den 1980er-Jahren vor allem stadtteilbezogene Bemühungen, Armut zu bekämpfen. Die werden aber konterkariert durch eine Wohnungsbaupolitik, in deren Folge es immer weniger Sozialwohnungen gibt. Ein regionaler Ansatz bei der Armutsbekämpfung ist vernünftig. Doch der Bau von mehr preiswerten, guten Wohnungen ist das wichtigere Thema.

Auf dem Kongress zur Kinderarmut geht es ab Donnerstag auch um gute Projekte, die Vorbildcharakter haben. Welche kennen Sie in Hamburg?

Mir fallen drei ein. Das Projekt „nullbisdrei“ des Abendroth-Hauses in Langenhorn hilft einerseits Familien bei der Alltagsbewältigung und unterstützt gleichzeitig Eltern, eine gute Bindung zu ihren Kindern aufzubauen. Das ist ein sehr gutes Beispiel früher Hilfe. Bei „Flohbuy“ von Basis und Woge bekommen Jugendliche, die aus dem Hilfesystem rausgefallen sind, die Chance, ein paar Euro zu verdienen und sich gleichzeitig mit Arbeitsstrukturen vertraut zu machen. Und in den Quartieren leisten viele Kinder- und Familienhilfezentren mit bescheidenen Mitteln hervorragende Arbeit: Sie fördern nachbarschaftliche Unterstützung, stärken Selbstbewusstsein und Solidarität und bekämpfen so auch Armut.

Derzeit wächst allerdings jedes fünfte Kind in Hamburg in einem Hartz-IV-Haushalt auf. Warum gibt es in einer reichen Stadt wie Hamburg so viele arme Kinder?

Meiner Einschätzung nach ist das die in Kauf genommene Folge neoliberaler Politik. Materielle Unterstützungsleistungen sind in Misskredit gebracht worden. Wer sie beziehen muss, gilt als problematisch. Und um Sozialabbau zu rechtfertigen, braucht es absurder Weise einen Sockel von Kinder- und Erwachsenenarmut. So wird die Mittelschicht permanent daran erinnert, dass es abwärts gehen kann, wenn man nicht permanent Leistungsbereitschaft zeigt. Oder anders gesagt: Nur mit dem ständigen Vorführen des unrasierten, untätigen Langzeitarbeitslosen lässt sich der Rückbau von Sozialleistungen und die Steigerung von Kontrolle als „gerecht“ verkaufen. Es wird ja regelmäßig und gerne über Kinderarmut gejammert. Aber was dann auf Regierungs- und gesamtgesellschaftlicher Ebene passiert, ist viel zu wenig und vor allem viel zu kurzfristig angelegt. Wer Kinderarmut wirksam bekämpfen will, muss auch an arbeitsmarkt- und familienpolitischen Schrauben drehen. Das aber würde viel Langmut und Geld erforderlich machen.

Wer muss was tun, um Kinderarmut wirksamer zu bekämpfen?

Ich finde es falsch, immer nur auf Politiker zu schimpfen – obwohl ich es selbst gerade gemacht habe. Wir Sozialwissenschaftler und Sozialarbeiter sollten uns auch selbst an die Nase fassen und fragen: Pädagogisieren wir Armutsprobleme nicht zu sehr und schaffen uns so neue Aufgabenfelder? Die Fokussierung auf die frühe Kindheit zum Beispiel, die derzeit beliebt ist, halte ich für problematisch. Wir geben damit ja auch ein Versprechen an die Politik, nach dem Motto: Wenn wir uns früh kümmern, gibt es weniger Probleme und ihr spart eine Menge Geld. Gleichzeitig geraten andere Felder aus dem Blick, etwa Armut unter Jugendlichen. Das ist ein großes Thema und wird sich mit dem Zuzug von Flüchtlingen noch verschärfen. Und über die Kluft zwischen Arm und Reich, über strukturelle Probleme also, spricht so gut wie niemand mehr.

Interview: Ulrich Jonas
Fotos: Stephan Wallocha und Monkey business/ fotolia.com

Professor Dr. Johannes Richter, 47, hat als Sozialarbeiter in der Drogenhilfe, in Familienhilfeteams und in der Elternbildung gearbeitet. Mit Frau und Kindern lebte er über 20 Jahre lang im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel.

Kongress „Kinderarmut bekämpfen! Chancen und Grenzen der Kinder- und Jugendhilfe, Donnerstag, 12.11. ab 13 Uhr, 13.11. ab 9.30 Uhr, Rauhes Haus, Beim Rauhen Hause 21, mehr Infos und Anmeldung unter www.dkhw.de.