Christiane Hörbinger : „Ich hatte selbst Existenzangst“

Christiane Hörbiger war die Gräfin von Guldenburg, spielte lange in heiteren, aber harmlosen Komödien. Nun spielt sie eine Hamburgerin, die es aus der gutbürgerlichen Eigentumswohnung auf die Straße verschlägt. Ein Gespräch über ihre Rolle und über Obdachlose in Wien.

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Christiane Hörbiger in ihrer Rolle als Obdachlose. Links im Bild: Hinz&Künztler Marian Madrys – er hat eine Statistenrolle übernommen. Foto: ARD Degeto / Svenja von Schultzendorff

Christiane Hörbiger sitzt auf einer Bank an der Binnenalster und schaut auf das Panorama der Innenstadt. Sie trägt einen weiten, recht schäbigen Mantel, auch ihr weinroter Rollkoffer neben ihr hat bessere Zeiten gesehen. Gleich wird ihr ein Jogger auffallen, der seine Getränkeflasche achtlos in einen Papierkorb wirft, bevor er weiterläuft. Christiane Hörbiger wird zum Papierkorb stürzen, sie wird nach der Flasche wühlen und in einen heftigen Streit mit einem Flaschensammler geraten.

Christiane Hörbiger spielt die 75-jährige Hanna Berger in dem ARD-Fernsehfilm „Auf der Straße“. Er erzählt vom tiefen Fall einer gutbürgerlichen Frau: Denn als Hanna Berger eines Tages gut gelaunt vom Einkaufen zurückkommt, trifft sie ihren Mann an, wie er schon mittags Wein trinkt.

Doch bevor er erzählen kann, was los ist, erleidet er einen Herzinfarkt. Nach der Beerdigung muss Hanna feststellen: Der Weinhandel ihres Mannes ist insolvent, die Eigentumswohnung gehört bereits der Bank. Bald lebt sie auf der Straße. Denn der Satz, mit dem sie durch ihr neues Leben gehen will, lautet: „Ich brauch keinen, der mir hilft.“

Hinz&Kunzt: Frau Hörbiger, als man Ihnen die Rolle der Hanna angeboten hat, haben Sie da gleich zugegriffen? Oder haben Sie gezögert?

Christiane Hörbiger: Ich zögere bei den Angeboten der Filmproduktion von Markus Trebitsch nie, weil ich weiß, das sind immer ungeheuer gute Produkte. Noch dazu wusste ich, dass Thorsten Näther das Buch schreiben wird – und er ist ein guter Autor. Ich hatte vor einem Jahr den ersten Aufriss des Drehbuchs bekommen und wusste ungefähr, um was es geht – und ich war glücklich, dass ich die Rolle spielen konnte.

Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet?

Indem ich geguckt habe. Ich bereite mich immer vor, in dem ich Leute beobachte, die ungefähr in diesem Umfeld leben, von dem der Film erzählen soll. Ich habe in Wien eine Obdachlose entdeckt, um die bin ich richtig herumgeschlichen: Die hat in der Roten Turmstraße gesessen und das war etwas merkwürdig: eine verhältnismäßig junge Frau, 45 Jahre ungefähr, sie hatte den Kopf gesenkt – und da merkte ich, die hat Mäschen im Haar, und ich dachte: Komisch, wenn man es sich leisten kann, dass man sich Mäschen ins Haar zieht …

Können Sie mir als Norddeutschem schnell erklären, was „Mäschen“ sind?

Oh ja: Aufhellungs- oder Sonnensträhnchen im Haar – also eindeutig beim Friseur gemacht! Jedenfalls: Ich guckte näher, es war eine hübsche Frau, gepflegt, sie hatte ein Pappschild vor sich: „Habe zwei Kinder und kein Geld“, so ungefähr. Und ich habe mich gefragt: Was wird ihr passiert sein? Wieso sitzt sie hier? Ansonsten: Text, Text, Text – den Text lernen, natürlich.

Gab es im Drehbuch Szenen, wo Sie dachten: Na, werde ich das wohl hinbekommen?

Man muss sich in eine solche Rolle hi­neinversetzen – das ist mein Beruf. Und es ist selbstverständlich, dass man vorbereitet ist, wenn man zum Dreh kommt. Gott sei Dank spiele ich ja keine Frau, die jünger ist, als ich es in Wirklichkeit bin. Und so bewege ich mich auch: Wenn ich zum Betteln auf der Straße sitze, dann aufstehe aus diesem Türkensitz – wie wir das nennen – mit einem Bein drunter und eines ausgestellt, dann stehe ich eben auf, wie eine 75-jährige Frau aufsteht. Das kam mir sehr entgegen, dass ich nicht wie eine 45-Jährige aufspringen musste.

Wie haben Sie während der Dreharbeiten Hamburg gesehen?

Ich liebe Hamburg, so oder so! Weil es die schönste Stadt Deutschlands ist – das muss ich Ihnen ja nicht sagen. Aber ich habe schon den ungeheuren Luxus gesehen, in der Mönckebergstraße, auch in den Großen Bleichen. Wenn die Bettler dann davor sitzen – diese Diskrepanz ist in Wien nicht so zu merken.

Glauben Sie, dass die Zuschauer so einen Film sehen wollen?

Ich glaube, dass viele Zuschauer denken: „Oho – das hätte mir auch passieren können!“ Der Film erzählt ja auch von einer gewissen Form von Lebensangst. In meinen mittleren Jahren, als mein Mann gestorben war, hatte ich selbst Existenzangst. Ich war allein mit meinem Sohn und habe vom Theaterspielen gelebt. In Zürich am Theater gab es nie eine Sicherheit in Form von längeren Verträgen, sondern es ging nur von Jahr zu Jahr. In der Schweiz gibt es überhaupt keine Absicherung. Das ist ein derart kapitalistisches Land, man bekommt die berühmte AHV, die sogenannte Alters- und Hinterbliebenenversicherung, das ist erbärmlich wenig. Von einem sozialen Netz, wie es das in Deutschland und in Österreich gibt, ist dort keine Rede. Mir ging es immer ganz wunderbar, aber ich habe mir stets gesagt: „Na, mal sehen, wie lange es das Hirn noch mitmacht mit all dem Textlernen.“ Ich hatte schon Angst, was wird wohl passieren, wenn ich meinen Beruf mal nicht mehr ausüben kann.

Welche Einrichtungen kennen Sie in Wien?

Wir haben den „Augustin“, die Zeitung, die von Obdachlosen verkauft wird, so wie bei Ihnen Hinz&Kunzt. Und wir haben ein ähnliches Obdachlosenheim, wie das „Café mit Herz“, wo wir gedreht haben. Der Name klingt etwas schauerlich, es soll aber sehr, sehr gut sein: „Die Gruft“. Da gibt es Gratis-Essen, da kocht zum Beispiel an Weihnachten der reichste, wichtigste Banker Österreichs. Ich war noch nicht dort, ich möchte aber jetzt gerne hingehen.

Sie haben mal gesagt „Ich habe Sympathien für Frauen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen …“

Wissen Sie, eine Millionärin zu spielen, das ist kein besonders interessanter Stoff. Frauen, denen es nicht gut geht – das ist doch logisch, dass die einem sympathischer sind. Ich bewundere meine Trafikantin in Wien, die mit ihren 80 Jahren ab sieben Uhr in der Früh in der Trafik steht (Trafik – so sagt man in Wien zum Zeitungskiosk). Letztens zu Weihnachten hab ich sie gefragt: „Und – was machen Sie zu Weihnachten? Kommt Ihr Sohn?“ Und sie: „Ja, das weiß ich nicht, der wohnt so weit weg; nee, nee, ich bin dann allein.“ Das finde ich eine dieser so unglaublich tapferen Frauen; die sagen: „Ja, ich bin dann Weihnachten allein.“ Aber es ist nicht mitleidig gemeint! Es ist ohne Selbstmitleid! Die sagen: „Na, vielleicht kommt er am Stephanitag, also am 26. Dezember, dann werde ich ein bissel was kochen.“ Die aber nicht jammern! Diese Frauen haben meine ganz große Hochachtung!

Christiane Hörbiger kommt aus einer Schauspielerfamilie: Ihr Vater Attila Hörbiger und ihre Mutter Paula Wessely waren in den 30er- und 40er-Jahren Stars des deutschen Tonfilms. Sie traten auch in Propagandafilmen der Nationalsozialisten auf, wurden von Josef Goebbels hofiert. Ob und was ihr ihre Eltern über diese Zeit und ihr Mittun später erzählt haben, darüber spricht sie nicht öffentlich. Nur so viel war ihr einmal zu entlocken: „Es ist nicht so angenehm zu entdecken, wenn die Eltern keine Helden waren.“

Sie, Ihre Schwester und Ihr Mann sind Mitglieder in einem Verein gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Warum?

Ja, nun: Ich bin im Jahre 1938 geboren!

Als Hitler Österreich annektierte und die Österreicher ihm zujubelten …

Mein politisches Interesse gilt dem Jahr 38 und was die Österreicher damit angestellt haben. Ich war in allererster Ehe mit einem halbjüdischen Menschen verheiratet, der mir seine Kindheitsgeschichte natürlich erzählt hat. Ich hatte das Glück, dass ich mit Remigranten arbeiten durfte, mit großen Theaterleuten. Ich habe mit Ernst Deutsch Theater gespielt, der mit einer Heiterkeit und ohne jeden Rachegedanken aus dem Exil nach Deutschland zurückgekommen ist und der nur froh war, dass er wieder in München im „Jahreszeiten“ sitzen konnte; dass er im „Restaurant Walterspiel“ wieder seine Lieblingssuppe serviert bekommen hat, wo er den berühmten Satz gesagt hat: „So war’s gedacht.“ Und von all diesen Menschen, die zu mir mit einer Liebe und Güte waren und ohne jedes Ressentiment, habe ich gelernt und habe alles aufgesogen, was sie mir erzählt haben.

Diese Begegnungen haben sehr nachgewirkt, oder?

Ich erzähl Ihnen mal was: Bei meinem einzigen Hollywoodfilm, da spielte ich eine Kinderschwester. Es war ein Lustspiel, na ja, man kann’s vergessen. Aber ich war wenigstens dort! Ich war so unglücklich damals, ich hab dauernd in der Tasche von der Schürze dieser Kinderschwester nach meinem Rückflugticket gegriffen – weil ich so selig war, dass ich nach dem Dreh von dort wieder wegkommen würde. Und dann saß ich eines Tages während einer Drehpause – ich weiß es noch wie heute – auf den Stufen zum Hinterausgang einer Rechtsanwaltskanzlei und habe gewartet, dass ich wieder dran kam. Der Rechtsanwalt hieß mit Namen – Sonnenschein. Ich hab die ganze Zeit nur gedacht: Wie mag der hierher gekommen sein? Der musste ja noch mal auf Englisch all die Prüfungen ablegen!

Heute ist das Thema ja in vielen Büchern abgehandelt worden. Aber ich kenne die Erzählungen von Menschen, wie sie behandelt wurden, als sie nach dem Krieg aus dem Exil zurückkamen. Und ich hab’s auch noch selbst erlebt, dass man untereinander gesagt hat: „Wie gut ist’s denen ergangen, drüben in NewYork; die haben keine Bomben erlebt, so wie wir.“ Das muss man sich mal vorstellen! Unmöglich! Jedenfalls – so bin ich bei diesem Verein gelandet, wo ich ein bisschen mitreden kann.

Text: Frank Keil

Harte Arbeit

Hinz&Künztler Marian Madrys war mal obdachlos. Inzwischen hat er zumindest wieder ein Zimmer. Für eine Statistenrolle beim Dreh zum Film „Auf der Straße“ mit Christiane Hörbiger war er kurzzeitig mal wieder unter der Brücke.

Ein Tag wie viele andere im Vertrieb bei H&K. Ein energischer Mann trommelt eine Schar von Statisten zu einem Film zusammen. Er zeigt auf mich – ich soll einen Stadtstreicher spielen. Die Mütze mit lächelndem Gesicht vom Weihnachtspaket bringt offenbar Glück, und ich behalte sie während der Dreharbeiten auf. Die Teilnahme beim Film macht mich neugierig. Endlich keine Langeweile. „Ich verlass mich auf dich“, sagt der Mann und verschwindet aus der Tür.

Am nächsten Tag komme ich, vorbereitet auf eine gute Party. Aber nichts da, mich erwartet harte Arbeit. Ich bekomme eine hässliche Stoffhose, einen furchtbaren Mantel und unbequeme Gummischuhe. Unter einer Brücke im Filmatelier liegen dreckige Matratzen und zerrissene Decken; die Essenreste auf dem wackligen Tisch sehen echt aus. Zwei Frauen gehen sich in die Haare, es wird gekämpft um Dosen. Ich sitze in einen Traktorreifen gesteckt mit der Weinflasche, drin ist leider nur Wasser.

Etwa ein Dutzend Fachpersonal mit dem Regieassistenten mit obligatorischer Kappe dirigiert die Aufnahmen. Jede Bewegung wird auf die Sekunde genau kontrolliert, endlose Wiederholungen, dauernd Stellungswechsel und Korrekturen. Am Ende des Arbeitstages frage ich den Assistenten: „Wie viel Zeit wurde aufgenommen?“ „Etwa fünf Minuten“, sagt er lakonisch.

Am nächsten Tag machen wir einen Spaziergang am Alsterufer. Obdachlose haben viel Zeit und Bewegung. Das kenne ich von früher, wenn ich nachts in der Telefonzelle stand, das Telefonbuch war mein Kissen. Die Straße ist gesperrt, keine Passanten, nur Schauspieler und das Team, alles wird genau abgestimmt.

Szenenwechsel: Beim Rathaus ist ein Schlaflager aufgebaut, einige Obdachlose wollen sich dazusetzen, werden aber rauskomplimentiert, viele Schaulustige, viele Kameras. Ich soll im Müll wühlen nach etwas Brauchbarem, es wird von allen Seiten gefilmt – Querschnitt heißt das.

Ende – ruft der Assistent, ein frenetischer Beifall kommt. Es ist üblich, flüstert ein Kollege, wie nach einem gelungenen Konzert. Erleichtert gebe ich die Pennerklamotten ab, hoffentlich werd ich so was nie brauchen. Noch die Anwesenheitsliste unterschreiben, Stephan Karrenbauer bei Hinz&Kunzt gibt mir ein kleines Honorar im Voraus, die ARD wird später das Honorar überweisen.

Bei den Dreharbeiten begleitet uns ein Imbisswagen, (fast) alle Wünsche werden erfüllt. Deswegen habe versäumt, einzukaufen. Es ist aber Sonntag und mir bleibt nur der Weg zum Hauptbahnhof zum Jeden-Tag-Laden. Auf der anderen Seite ist eine Spielhalle und ich setze meine Minigage auf ein Minirisiko. Die Zeit vergeht schnell. Ich gehe zur U-Bahnstation, und da werden gerade die Gitter geschlossen, vom Sonntag zum Montag fährt kein Zug, irgendwann einmal verpasst jeder seinen letzten Zug. Daneben steht eine leere Bank, ich lege mich hin und schlafe ein. Laute Stimmen wecken mich. Uniformen!!!

„Was soll das“, murmele ich verschlafen. „Weg da“, sagt der eine Uniformierte. „Hier wird nicht herumgelungert.“ Sie packen mich an, wollen mich mitnehmen. „Aber ich hab doch alles: Fahrkarte und Papiere, sogar einen Wohnungsschlüssel.“ Der Mann lässt mich los. Von ihm habe ich nichts mehr zu befürchten. Schlafende Obdachlose werden nämlich oft geschlagen und beraubt, auch ein Rucksack ist eine attraktive Beute.

Mit dem ersten Zug fahre ich nach Hause, mein bescheidenes Zimmer erscheint mir jetzt wie ein Palast. Ich schalte Licht und Radio ein, damit ich im Albtraum nicht wieder im Müll lande oder geschlagen werde.

Text: Marian Madrys