Hinz&Künztler : „Ich hab nicht gedacht, dass sich alles zum Guten wendet“

Horst Breforth hat eine besondere Verbindung zu Hinz&Kunzt: Das Straßenmagazin und der Verkäufer haben beide am 6. November Geburtstag. Zu unserem 20. Jubiläum feiert Horst 72 Jahre, in denen er vor allem gelernt hat, dass es irgendwie immer weiter geht.

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Horst und Hinz&Kunzt verbindet eine ganz besondere Beziehung: Beide haben am 6. November Geburtstag.

Ah, endlich Feierabend! Obwohl es noch gar nicht Abend ist. Hinz&Kunzt Verkäufer Horst Breforth streckt seine müden Beine aus, nimmt einen Schluck Kaffee: Von zehn bis 15 Uhr verkauft er Hinz&Kunzt. „Hört sich nach wenig an, aber wenn du all diese Stunden auf dem harten Boden stehst, das geht ganz schön in die Knochen“, sagt er. Er steht seit diesem Sommer vor dem Einkaufszentrum in der Schweriner Straße, beim Bahnhof Rahlstedt um die Ecke. Dass er Hinz&Kunzt verkaufen könnte, auf diese Idee hat ihn ein Freund gebracht, der Hinz&Künztler ist.

Horst ist Rentner, doch seine Rente reicht hinten und vorne nicht: Schon Mitte des Monats wird es knapp, muss er jeden Cent umdrehen. Er hofft, dass er mit seinem Zuverdienst gelassener durch die Tage kommt.Dass sie nicht genug zum Leben haben, das geht immer mehr Menschen so – längst nicht mehr nur Obdachlosen. Seit 2009 dürfen deswegen bei Hinz&Kunzt auch Menschen als Verkäufer anfangen, die eine Wohnung haben – wenn sie sehr wenig Geld haben und ihnen deswegen vielleicht sogar der Verlust der Wohnung droht.

Es hat ein bisschen gedauert, bis Horst in Rahlstedt als der örtliche Hinz&Kunzt-Verkäufer angenommen wurde: „Am Anfang dachten viele, ich verkaufe den „Wachturm“, denn die Wachtürmer stehen ja hier auch“, sagt er. Aber mit denen hat er sich unterdessen geeignet, dass sie an unterschiedlichen Stellen stehen und nicht mehr verwechselt werden.

Was ihn neben dem Verkaufen der Zeitung mit Hinz&Kunzt verbindet: Er hat am selben Tag Geburtstag, an dem Hinz&Kunzt gegründet wurde: am 6. November. Und um zu verstehen, warum das etwas wirklich Besonderes ist, muss er ein wenig ausholen. „Na, was soll ich sagen? Wo soll ich anfangen?“, sagt Horst und beginnt zu erzählen.

Vom Niederrhein nach Südafrika

Geboren wird er 1941 in einem abgeschiedenen Ort am Niederrhein. Seine Eltern haben kleinen einen Hof: „Zehn Kühe, Schweine, 800 Hühner und natürlich Land.“ Seine Mutter stirbt früh, der Vater wird die Haushälterin heiraten, die man von Amts wegen in die Familie schickt, was nicht unüblich ist damals. Horst macht den Realschulabschluss, lernt Huf- und Wagenschmied. „Als einer der letzten im Kreis Dinslaken“, sagt er und ein leichter, rheinischer Singsang mischt sich in seine Stimme – wie immer, wenn er von früher erzählt. Nach der Lehre geht er zur Bundeswehr. Er will technischer Offizier werden: „Aber ich bin nicht dran gekommen. Die haben viel versprochen, aber wenig gehalten“, sagt er heute. Und überhaupt: „Das mit mir und der Bundeswehr hat kein so ganz gutes Ende genommen.“ Er winkt ab. Er wird im Laufe des Gesprächs noch manchmal abwinken.

Danach geht er auf die Thyssenhütte, aber sein Leben will er dort nicht verbringen: „Ich wollte kein Thyssenknecht werden, nee, wirklich nicht.“ Er geht lieber auf Montage. Flickt Kesselanlagen in Heizkraftwerken, überall in der Bundesrepublik. Auch im damaligen Kohlekraftwerk im Hamburger Hafen arbeitet er. Hamburg gefällt ihm sofort; immer wieder liebäugelt er damit, dass Hamburg doch ein netter Flecken zum Leben sein könnte. Aber noch ist es nicht soweit.

Erstmal geht es Anfang der 70er ins Ausland – zuerst nach Südafrika. „Das war noch zur Zeit der Rassentrennung, das war keine einfache Zeit. Wenn du dich da als Weißer falsch verhalten hast, bekamst du Probleme.“ Nach drei Jahren schickt ihn seine Firma weiter – nach Chile. „Ich war bei den Vorarbeiten für das Weltraumteleskop in der Atacamawüste dabei.“ Das Land gefällt ihm. Sehr sogar. Horst sagt: „Wenn ich noch mal so könnte, wie ich wollte – also Chile, das wäre was!“ Er schweigt einen Moment, fragt dann: „Schon mal was von den blauen Nächten gehört?“ Also: Wenn der Wind vom Pazifik her wehe, dann trage er den Sand hoch – und das Salz, was mitgetragen wird, lasse die Luft wunderbar blau schimmern. „Aber nur Nachts. Und nur bei Vollmond!“ Horst schaut, als blicke er weit, weit weg in die Ferne: „Wahnsinn!“

Von Surinam nach Mümmelmannsberg

Aber auch in Chile sind alles andere ruhige Zeiten. General Pinochet und seine Junta regieren das Land mit eiserner Härte. Horst bekommt Kontakt zu der berüchtigten Colonia Dignitad, der streng abgeriegelten Siedlung des deutschen Sektenführers Paul Schäfer, der seine Gemeindemitglieder wie Gefangene hält und in dem das Pinochet-Regime seine Gegner foltern lässt. Horst wiegt den Kopf: „Wir haben da ein paar Leuten geholfen, dass sie da raus kommen …“ Was da genau war und wer „wir“ war – Horst winkt ab. Heißes Thema. Jedenfalls verlässt er besser das Land, es geht weiter nach Venezuela, dann nach Surinam. Und schließlich kehrt er wieder nach Deutschland zurück. Arbeitet in Frankfurt am Main auf dem Flughafen, wo gerade um die Startbahn West gestritten wird: „Ich hab noch den Steinewerfer Fischer erlebt“, lacht Horst laut.

Aber dann Anfang der 90er-Jahre kommt der große Einbruch: Horst erkrankt schwer. Ein ganzes Jahr liegt er im Krankenhaus; muss mehrere Operationen wegstecken. Seine Prognose: zehn Jahre. Höchstens 15, wenn alles gut läuft. Horst arbeitet nebenher weiter so gut er kann. 2008 sind die Ersparnisse aus den Auslandsjahren aufgebraucht. „Und ich war immer noch putzmunter. Ich hab mich zuerst geärgert, aber dann dachte ich: Damit kannst du gut leben.“

Und das hat er auf seine Weise geschafft: Er ist nach Hamburg gezogen, er lebt in einer kleinen Wohnung in Mümmelmannsberg, ist dort in zwei Nachbarschaftsvereinen aktiv und vor allem malt er mit Leidenschaft, hat auch schon ausgestellt: „Kunst und Gesundheit, das passt gut zusammen.“ Und so ist jeder 6. November für ihn ein ganz besonderer Tag: Weil er Geburtstag hat und weil jeder Geburtstag von einem Jahr erzählt, mit dem er nicht rechnen konnte. Und so soll es weitergehen. Jahr für Jahr. Er nimmt einen letzten Schluck Kaffee und sagt: „Ich hab zwischendurch nicht gedacht, dass sich alles noch mal zum Guten wendet.“

Text: Frank Keil
Fotos: Mauricio Bustamante