20 Jahre trocken : „Das berühmte Klick habe ich nie gespürt“

Seit 20 Jahren hat Holger H. keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Die Geschichte eines Mannes, der sich sein Leben versaute und irgendwann einfach damit aufhörte.

(aus Hinz&Kunzt 254/April 2014)

1_HK254_INNach dem Gespräch mit Holger H. weiß ich, dass ich nichts weiß. Höchstens: wie klischeehaft und unrealistisch meine Vorstellungen darüber waren, wie ein ehemaliger Säufer tickt. Denn wegen seiner überwundenen Alkoholsucht treffe ich den 68-Jährigen.

Ich will erfahren, wie er es geschafft hat, 20 Jahre lang keinen Tropfen mehr anzurühren. Eine relevante Geschichte – ist sie doch für schätzungsweise vier Millionen Alkoholabhängige in Deutschland interessant. Ich hatte mir alles so schön überlegt: Wie wir über sein Leben sprechen würden. Über die Kindheit und Jugend und über die sicherlich vorhandenen Brüche in seiner Biografie. Über die kleinen und großen Katastrophen, die schließlich dazu führten, dass er begann, mehr zu trinken, als ein Mensch trinken sollte, wenn er halbwegs unramponiert durchs Leben kommen will.

Vor allem aber wollte ich mit Holger H. über den Moment sprechen, in dem er erkannt hat, dass es so nicht weitergehen kann. Über den Moment, in dem es „Klick“ gemacht hat. Wenn es gut lief, würden wir lange und intensiv darüber sprechen. Schließlich können sich andere Betroffene an Holger ein Beispiel nehmen. Seht her, das ist einer, der hat sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen! Guckt hin, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!

Was ich hörte, war eine andere Geschichte. Eine, die mich noch mehr aufwühlte. Sie beginnt mit einer Katastrophe: „Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben“, sagt Holger H. Als wolle er sich für den Schock entschuldigen, die diese Information bei mir auslöst, schiebt er schnell ein „Tja …“ mit einem Schulterzucken hinterher. Der eigene Geburtstag auf ewig verbunden mit Trauer und Schmerz. Die nicht nur er spürt, sondern auch der Vater. Womöglich verachtet der seinen Sohn auch deshalb, weil er ihm nicht verzeihen kann, dass er lebt, seine Frau aber tot ist. „Mein Vater hat immer zu mir gesagt: ‚Du bist ein Versager, und du wirst immer ein Versager bleiben.‘“

„Zu meinem Kind hatte ich nur besoffen Kontakt“

Zuerst sieht es jedoch danach aus, als ob aus dem Jungen, der auf St. Pauli groß wird, ein anständiger Kerl wird. Nach der Schule macht er eine Ausbildung zum Bürokaufmann im altehrwürdigen Alsterhaus. Alles läuft in geordneten Bahnen, bis Holger H. mehr will, als er dort kriegen kann: „Es war mir wichtiger, schnell Geld zu verdienen.“ Er bricht ab. Und jobbt stattdessen als Mädchen für alles im legendären Starclub auf dem Kiez. „Für jede Nachtschicht gab es 80 D-Mark, das war damals verdammt viel Geld“, erinnert er sich.

Bei der Arbeit, nach Feierabend fließt reichlich Alkohol. Nie käme er zu diesem Zeitpunkt auf die Idee, dass er ein ­Alkoholproblem hat. Alle Kollegen trinken. Im Nachhinein glaubt er jedoch, dass damals seine Suchtlaufbahn begann – schleichend und unbemerkt.

1973 sieht es kurzzeitig so aus, als würde das Leben von Holger H. doch in geordneten Bahnen verlaufen: Er heiratet, wird Vater eines Sohnes. Aber er säuft weiter, immer mehr. „Im Nachhinein hört sich das schrecklich an, aber zu meinem Kind hatte ich nur besoffen Kontakt“, sagt er. Nach nur viereinhalb Jahren Ehe lässt sich seine Frau scheiden. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Holger H. Bier und Korn auch zum Vergessen herunterkippt. „Ich fiel in ein tiefes Loch. Und trank immer mehr.“

„Wenn die morgens Spindkontrolle gemacht haben, fielen bei mir die ganzen leeren Bierdosen raus.“

Der Job im Starclub ist da längst weg. An geregelte Arbeit ist ohnehin nicht mehr zu denken. Ab und an malocht Holger H. am Hafen als „Unständiger“. Dass er in seiner Stammkneipe anschreiben kann, hilft nicht. Die Stütze vom Arbeitsamt reicht vorn und hinten nicht. Holger H. klaut Whiskey bei Aldi und verscheuert ihn. Für eine schwangere Bekannte stiehlt er ein Umstandskleid. „Ich war natürlich besoffen und wurde erwischt.“ Weil noch andere Delikte aktenkundig sind, muss er für vier Monate in den Knast.

Eine eigene Wohnung hat er nicht, schläft mal hier, mal dort, meist bei Frauen. Zehn Jahre kommt er bei einer alten Dame unter, deren Sohn er aus dem Knast kennt. Die alte Dame besorgt ihm Bier, wenn das Geld vom Arbeitsamt alle ist. „Damals wurde das Geld noch bar ausgezahlt. Ich habe den vom Arbeitsamt immer schon abgefangen, oben an der Poststraße in Altona.“ Mit seinem Vater hat er nur noch selten Kontakt. Wenn er besoffen vor dessen Tür steht, lässt ihn der Vater nicht rein. „Da habe ich ihm mal vor die Tür gepinkelt. Das war nicht gut von mir. Das sind alles so Sachen, an die man nicht gerne denkt.“

Irgendwann wird Holger H. von einem Arbeitsamtmit­arbeiter zum wiederholten Mal auf seine starke Fahne angesprochen. Sie schicken ihn in die Stiftung Berufliche Bildung (SBB) zur Suchtberatung. Er gehorcht, wenn auch widerwillig. Er säuft immer noch wie ein Loch, auch in der Suchtberatung. „Wenn die morgens Spindkontrolle gemacht haben, fielen bei mir die ganzen leeren Bierdosen raus.“ Zum ersten Mal hört er das Wort Entgiftung. „Ich wusste gar nicht, was das ist.“ Nach 21 Tagen wird er aus dem UKE entlassen und landet sofort wieder in seinem alten Umfeld. „Ich habe bei ­einer Frau gewohnt, die tabletten- und alkoholabhängig war, der Rückfall war praktisch programmiert.“

„Wenn du suchtkrank bist, bist du dein Leben lang süchtig“

Das Ganze wiederholt sich noch zwei Mal: Entgiftung und Rückfall. Entgiftung und Rückfall. In der Therapeutischen Nachsorge Jenfeld trifft er 1994 auf einen Betreuer, der ihn tatsächlich erreicht. „Der hat zuerst zu mir gesagt: ‚Geh mal zum Frisör!‘“ Er bekommt ein Einzelzimmer. Das erste Mal seit Jahren empfindet er so etwas wie Sicherheit. Am 1. Februar ändert sich Holgers Leben, ohne dass er es groß beschließt. Er ist 48 Jahre alt. Seinem Betreuer verspricht er, die nächsten zehn Jahre trocken zu bleiben. Warum? Was hat diesen radikalen Entschluss ausgelöst? Holger H. zuckt wieder mit den Schultern. „Das berühmte ‚Klick‘ habe ich nie gespürt“, sagt er. „Es war einfach so.“ Er hat Leute, die sich um ihn kümmern, etwa in der Alida Schmidt-Stiftung. Fühlt sich aufgehoben. 17 Wochen lang verbringt er in einer geschlossenen Gruppe der Suchthilfe in Sprötze. ­Viele seiner Mitpatienten werden rückfällig, Holger H. nicht.

Gemeinsam mit den Weiß-braunen Kaffeetrinkern, dem alkoholfreien Fanclub des FC St. Pauli, guckt er alle Heimspiele. „Cola, Selter, Kaffee – das waren unsere Getränke, und rundherum tobte das Leben.“ Früher ging Holger H. stets sturzbetrunken ins Stadion. Nachdem er das erste Jahr ohne Alkohol überstanden hat („Das war das schwierigste.“) stabilisiert sich sein Leben langsam: Er geht regelmäßig zur Gruppentherapie, übernimmt 1998 sogar die Leitung einer Selbsthilfegruppe. Er nennt sie „meine Familie“. Zu ­seinem eigenen Sohn hat er hingegen bis heute keinen Kontakt. Weil der nichts von seinem Vater wissen will. Kurz vorm Jubiläum seiner zehnjährigen Abstinenz wird Holger H. unruhig. Zusätzlich zu seinen bisherigen Therapiegruppen sucht er sich noch weitere. Die Nacht des Zehnjährigen verschläft er ­jedoch friedlich. „Ich hatte keinen Gedanken an Alkohol.“

2006 wird bei Holger H. Rachenkrebs festgestellt. Er muss operiert werden und magert bis auf 53 Kilogramm ab. In der Reha trinken viele. „Ich habe meine Kollegen nie verurteilt. Die können das stoppen. Die sind noch nicht suchtkrank. Ich frage mich nur manchmal: Wieso konnte ich das damals nicht stoppen?“

Die Frage kann Holger H. nicht beantworten. Er muss es aber auch nicht. Seit diesem Februar lebt er 20 Jahre und zwei Monate ohne Alkohol. Das nächste Ziel sind 25 Jahre. Dann wäre er 73. Illusionen macht er sich keine: „Wenn du suchtkrank bist, bist du dein Leben lang süchtig“, sagt er. Er geht nie auf Partys. Alleine in den Urlaub fahren sei keine Option. Die Gefahr, rückfällig zu werden, sie lauert überall. „Vielleicht wollte ich es auch meinem Vater beweisen, dass er mit seiner Meinung über mich unrecht hatte“, sagt Holger H. Und dass er zufrieden sei mit seinem Leben. Nur einen Wunsch habe er noch: Dass sich sein Sohn vielleicht eines ­Tages doch noch mal bei ihm meldet.

Text: Simone Deckner
Foto: Dmitrij Leltschuk