Flüchtlinge : „Hilfe, die Roma sind weg!“

Erst wollen sie mit Flüchtlingen nichts zu tun haben. Dann freundet sich das Ehepaar Hermes mit seinen neuen Nachbarn an. NDR-Reporterin Julia Saldenholz erzählt uns die Geschichte.

Die Fenster müssen regelmäßig geputzt werden. Nasse Wäsche gehört nicht auf den Balkon, die Fahrräder sind ordentlich in Reihe aufzustellen. Harald und Christa Hermes kennen die Hausordnung ihrer Wohnanlage in Hamburg-Lokstedt sehr genau. Sauberkeit und Ordnung sind ihnen wichtig. Seit mehr als 40 Jahren wohnen die beiden Rentner in der Siedlung im Grandweg.

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Die Kuh ist ein Geschenk der Autorin und ihrer Freunde.

Als im Sommer 2014 Flüchtlinge in die leerstehenden Wohnungen einziehen sollen, sind sie, wie viele andere Bewohner, entsetzt. „Wir wissen ja, dass Diebstahl und Einbruch und alles hier zunimmt“, erzählt Herr Hermes „das kommt ja nicht davon, weil die Deutschen hier schlechter geworden sind – sondern weil wir hier Zuwanderung haben.“

So denken viele in der Siedlung. Die Anwohner – meist ältere Menschen – protestieren gegen den geplanten Einzug von Flüchtlingen. Für die Reportage im NDR dokumentieren wir die Angst der Menschen vor Ausländern. Ein halbes Jahr später besuchen wir Christa und Harald Hermes noch einmal. Wir wollen wissen: Wie ist das Leben mit den Flüchtlingen? Ist tatsächlich alles so schlimm geworden wie befürchtet?

Direkt über den Hermes’ ist eine sechsköpfige Romafamilie aus Serbien einquartiert worden. Das Ehepaar hört das Getrampel der Kinder, ärgert sich über eine ständig laufende Zentralheizung und über die Wäsche, die vom Balkon tropft. Frau Hermes erzählt, dass sie hochging, um sich zu beschweren.

Oben öffnet ihr Rosie Radenkovic (Name geändert). Hinter ihr stehen zwei kleine Mädchen mit Zöpfen, ein kleiner Junge tobt durch die Wohnung, ein Baby schreit im Hintergrund. Rosie Radenkovic lächelt freundlich und bittet Frau Hermes herein. „Dann haben sich alle ganz nett vorgestellt“, erzählt Christa Hermes uns. „Das fand ich schon seltsam, dass die so freundlich waren.“

In der Wohnung der Flüchtlingsfamilie sieht sie, dass die Kinder keine Bettdecken haben und die Radenkovic’ deshalb die Heizung ständig aufdrehen. Es gibt keine Waschmaschine, kein Geschirr. Frau Hermes ist überrascht. So hat sie sich das Leben der Flüchtlinge nicht vorgestellt. Sie sucht in ihren Schränken nach Haushaltsgegenständen, die sie doppelt hat, schleppt Kissen, Bettdecken und Kochtöpfe hinauf.

Rosie bedankt sich mit selbst gebackenem Kuchen, die beiden Frauen trinken Kaffee zusammen, freunden sich an. Frau Hermes hilft bei Arztbesuchen und bei Behördengängen. Auch ihr Mann macht mit. Er erkennt seine Frau kaum wieder. Sie war oft krank in den vergangenen Jahren, hatte sich einsam gefühlt, nachdem die Kinder aus dem Haus und die Enkel erwachsen waren. Jetzt sprüht sie vor Tatendrang.

Das Glück währt nur kurz

Die skeptischen Blicke der Nachbarn ignorieren die Hermes’. Sie sind nach wie vor nicht glücklich darüber, dass 150 Flüchtlinge in ihrer Wohnsiedlung untergebracht sind, doch die Familie Radenkovic haben sie in ihr Herz geschlossen.

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Die Familie Radenkovic vor ihrem baufälligen Haus.

Aber das Glück währt nur kurz. Als Christa und Harald Hermes eines Tages aus dem Urlaub zurückkommen, ist die Wohnung über ihnen leer. Die Familie Radenkovic ist abgeschoben worden nach Serbien. Mitten in der Nacht. Ein paar Tage später erreicht sie ein verzweifelter Anruf. Robert und Rosie sitzen mit ihren vier kleinen Kindern auf einer Bank im Flughafen Belgrad. Rosie schluchzt. Sie wissen nicht, wohin. Auch Frau Hermes weint.

Nachdem die Familie Radenkovic Unterschlupf auf einem kleinen Hof gefunden hat, beginnen die Hermes Hilfspakete zu packen. Sie sammeln Kleidung und Spielzeug, kaufen für mehrere hundert Euro Lebensmittel und schicken sie nach Serbien.

Übers Internet halten sie Kontakt. Doch die Kommunikation ist schwierig. Die Radenkovic’ sprechen nur wenig Deutsch, die Hermes’ kein Serbisch. So bleibt immer ein Rest Unsicherheit. Kommt die Hilfe wirklich an? Wie ist die Situation vor Ort tatsächlich? Werden sie vielleicht doch ausgenutzt? Bekannte fragen das Paar schon länger, ob sie es nicht übertreiben mit der Hilfe.

Im April 2015 ist es so weit. Frau Hermes will ihre Flugangst überwinden und zusammen mit ihrem Mann für eine Woche zu Familie Radenkovic nach Serbien fliegen. Es wird das Abenteuer ihres Lebens.

Wir sind beeindruckt, dass die beiden Rentner trotz ihrer Skepsis gegenüber Fremden diese Reise wagen. Uns fasziniert die Freundschaft zwischen diesen so unterschiedlichen Familien, und wir möchten wissen, wie es den Flüchtlingen geht, die aus Deutschland abgeschoben werden und ohne Geld und Unterstützung neu anfangen müssen. Bereits auf der Fahrt zu Familie Radenkovic sehen wir die Armut: bröckelnde Fassaden, ärmliche Häuschen, gespenstisch aussehende Industrieruinen.

Zwei kahle Zimmer als zuhause

Rosie und Robert begrüßen uns überschwänglich. Mit Deutschland verbinden sie – trotz der grauenhaften Abschiebung – überwiegend Positives. Ein bisschen verschämt zeigen sie ihr neues Zuhause. Es sind zwei kahle Zimmer und eine kleine Küche. Sechs Menschen leben hier auf rund 50 Quadratmetern. Jeweils zwei Kinder teilen sich ein zum Bett umgebautes Sofa. An den Wänden kleben Fotos aus glücklicheren Tagen: Rosie mit Frau Hermes auf dem Balkon, Familie Radenkovic mit Familie Hermes am Elbstrand.

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Christa Hermes spielt mit Anastasia.

100 Euro Kindergeld bekommt die Familie. Davon zahlen sie die Miete für ihren kleinen Hof. Das Geld für Essen, Kleidung und Schulbücher müssen sie irgendwie auftreiben. Als Rosie uns davon erzählt, kommen ihr die Tränen. Oft weiß sie nicht, was sie ihren Kindern zu essen geben soll. Robert ist gelernter Kfz- Mechaniker, doch Arbeit zu finden ist aussichtslos.

Mehr als jeder Vierte in Serbien ist ohne Job. Die Menschen überleben nur, weil aus fast jede Familie irgendwer im Ausland lebt und Geld schickt. Robert und Rosie haben niemanden im Ausland. Dass sie Roma sind, macht die Situation noch schwieriger, denn Roma werden in Serbien offen diskriminiert.

Christa und Harald Hermes nutzen die Zeit vor Ort. Sie malen, basteln und spielen mit den Kindern. Christa kocht mit Rosie die mitgebrachten Nudeln mit Fertigsoße, trinkt den mitgebrachten Tüten-Cappuccino und freut sich, dass sich nach ein paar Tagen alles so anfühlt wie in Hamburg. Obwohl sie selbst nicht viel Geld haben, kaufen die Hermes’ der Familie Radenkovic eine Waschmaschine, eine Kommode und einen Kleiderschrank.

Vom Ausnutzen ist keine Rede mehr. Rosie und Robert sind dankbar für die Hilfe. Vor allem sind sie dankbar dafür, dass es Menschen gibt, die Anteil nehmen an ihrem Schicksal. Rosie erzählt uns, dass Frau Hermes schon in Hamburg für sie mehr war als eine Nachbarin: „Eines Tages hat sie zu mir gesagt: ‚Ich bin deine Mutter, und das bleibt auch so für immer.‘ Ich fühle mich geborgen bei ihr – viel mehr als bei meiner eigenen Mutter. Es ist so viel Liebe, die sie mir gibt.“ Rosie weint, als sie dies sagt. Frau Hermes tröstet sie. Dabei kommen auch ihr die Tränen, wenn sie an den Abschied denkt.

Herr und Frau Hermes, die sich so gegen Flüchtlinge in ihrem Wohnblock gewehrt haben, möchten sich von Familie Radenkovic am liebsten nie mehr trennen. Rosie, Robert und die Kinder haben ihnen das gegeben, was ihnen in Deutschland so gefehlt hat: Nähe, Verständnis, das Gefühl gebraucht zu werden.

„Wir haben etwas gelernt“, sagt Frau Hermes. „Es ist schön, wenn man jemandem helfen kann. Man selbst hat das meiste davon.“ Die Hermes’ sind in- zwischen wieder in Hamburg, halten Kontakt. Unterstützen die Familie Ra- denkovic so gut sie können. Doch die Lage ist nicht besser geworden. Immer wieder fehlt Geld, um den Kindern Brot zu kaufen. Im örtlichen Laden bekommen die Radenkovic’ nichts mehr: zu viele Schulden. Die Rechnungen für Wasser und Strom stapeln sich und keiner weiß, wovon die Schulbücher für die älteste Tochter bezahlt werden sollen.

Im Januar wird die Kuh kalben

Zwei Flugstunden von Frankfurt entfernt, weiß eine Mutter nicht, wie sie ihre Kinder ernähren soll. Mich hat das tief erschüttert. Wir schieben Menschen ab in ein Land, in dem sie keine Perspektive und keine Zukunft haben. Robert und Rosie sind gefangen im Teufelskreis der Armut. Was soll die Familie machen ohne Geld? Sie kann kein Auto kaufen, um Melonen auf dem Markt zu verkaufen, sie kann kein Saatgut kaufen und keine Werkzeuge, um Haus und Hof in Ordnung zu halten.

Anastasia ist in der Schule verprügelt worden. Ab und zu fliegen faule Eier über den Zaun der Familie Radenkovic. Robert und Rosie sammeln sie schweigend auf. Sie wissen, dass sie nicht willkommen sind. Nicht in Deutschland und nicht in Serbien. Sie geben trotzdem ihr Bestes. Vor allem für die Kinder.

Sechs Wochen nach Erstausstrahlung unseres Filmes bin ich erneut in Serbien. Mit Geld – gesammelt bei Freunden und Bekannten. Davon haben wir vor Ort gemeinsam eine Kuh gekauft. Jetzt steht die schwarz-weiß gefleckte Milchkuh im Stall der Radenkovic’. Robert hat eine Tränke gemauert und Rosie hat vor ein paar Tagen die ersten Bilder mit selbst gemachtem Käse geschickt. Im Januar wird die Kuh kalben. Es ist ein kleines Stück Hoffnung für eine Familie, die täglich darum kämpft, irgendwie zu überleben.

„Hilfe, die Roma sind weg!“: Wiederholung am 14.9., 21.05 Uhr auf tagesschau24. Ein Film von Anke Hunold, Fabienne Hurst und Julia Saldenholz. Der Film ist auch in der NDR-Mediathek zu sehen.

Text: Julia Saldenholz
Fotos: Carsten Saldenholz/Filmstils: NDR