Sklaverei: Freiheit für Nepals Töchter

Elf Jahre lang wurde Urmila Chaudhary als Sklavin ausgebeutet – ein Schicksal, das Tausende junge Mädchen in Nepal trifft. Heute kämpft Urmila erfolgreich für die Abschaffung dieses Systems.

(aus Hinz&Kunzt 220/Juni 2011)

Mit sechs Jahren wurde Urmila von ihrem Bruder verkauft. Erst als 17-Jährige lernte sie ein anderes Leben kennen.
Mit sechs Jahren wurde Urmila von ihrem Bruder verkauft. Erst als 17-Jährige lernte sie ein anderes Leben kennen.

Über das erste „Good girl“ freute sie sich noch. „good girl“, gutes Mädchen, liebes Mädchen, sagte der Mann zu ihr, als sie ihm Tee servierte. Und Urmila Chaudhary verbeugte sich stumm und nickte. „Schließlich war ich damals eine Kamalari, ein Sklavenkind“, erklärt sie. Der Mann war Gast ihrer „Maharani“, ihrer Herrin, in deren Haus in Kathmandu sie schuften musste – meist 14 bis 16 Stunden am Tag. Vorher hatte Urmila, von ihrem Bruder als Sechsjährige „wie ein Stück Vieh“ verkauft, bereits acht Jahre der Nichte dieser Herrin gedient. „Ein anderes Leben kannte ich nicht.“ Und sie hatte kaum Hoffnung, dass es sich einmal ändern würde.
Doch beim zweiten „good girl“ war alles anders. Dieses Mal, im Frühjahr 2007, war Urmila endlich, nach elf Jahren Sklavendasein, frei. Sie stand jetzt gemeinsam mit anderen ehemaligen Kamalari-Mädchen vor dem Präsidenten Nepals, hatte ihn gerade aufgefordert, sie im Kampf gegen das Kamalari-System zu unterstützen. „Good girl“, antwortete der Präsident und tätschelte ihr den Kopf. Aber dieses Mal verbeugte Urmila sich nicht. „Nein, Sir, bitte entschuldigen Sie“, erwiderte sie stattdessen. „Ich bin kein gutes Mädchen. Ich bin ein ärgerliches Mädchen. Und ich werde so lange böse sein, bis die Ausbeutung der Kamalari endet.“
Noch ist es nicht soweit, noch hat Urmila Grund, böse zu sein. Vor allem aber hat die 21-Jährige Grund, stolz auf sich zu sein. Noch vor vier Jahren wurde sie als Sklavin erniedrigt, heute besucht sie eine englische Privatschule in der Nähe ihres Heimatdorfes und kämpft als Präsidentin eines Forums ehemaliger Sklavenmädchen mit Protestaktionen und Aufklärungsarbeiten erfolgreich für die Abschaffung der Mädchen-sklaverei. Zwei Bezirke im Süden Nepals wurden bereits als Kamalari-freie Zonen ausgewiesen, bei zwei weiteren ist es voraussichtlich in ein paar Jahren soweit. Es ist eine bewegende, zutiefst berührende und auch mutmachende Geschichte, die Urmila Chaudhary jetzt gemeinsam mit der deutschen Journalistin Nathalie Schwaiger aufgeschrieben hat.
Dass sie, Urmila, die noch vor wenigen Jahren „wie Dreck behandelt“ wurde, nun auf Lesereise in Deutschland ist, für Zeitungen interviewt, fürs Fernsehen gefilmt wird, begreift sie kaum. „Ich freue mich, dass sich so viele Menschen für das Schicksal der Kamalari interessieren“, sagt sie leise. „Aber ich bin doch nur Urmila.“ Sie lächelt, schaut verlegen zu Boden, streicht ihr farbenfrohes, prächtiges Kleid glatt. Es ist eine traditionelle Tracht der Tharu, des Volksstamms in Nepal, zu der Urmilas Familie gehört.
Die Tharu leben im Südwesten Nepals, die meisten von ihnen sind bitterarm. Jahrzehntelang mussten die Tharu als Leibeigene Großgrundbesitzern dienen, heute schuften sie auf Feldern von sogenannten Landlords und bekommen als Lohn nichts weiter als die Hälfte von dem, was sie ernten. Viele Tharu verkaufen deshalb ihre Töchter, um die restliche Familie ernähren zu können – eine Tradition, die bis vor Kurzem nie in Frage gestellt wurde. Denn Mädchen sind hier weniger wert als Jungen, gelten als Ballast, werden vernachlässigt.
Obwohl die Sklaverei in Nepal seit 2000 offiziell abgeschafft ist, werden zu „Maghi“, dem Neujahrsfest der Tharu, bis heute regelrecht Märkte abgehalten, bei denen Familien ihre Töchter in reiche Haushalte verkaufen. Die manchmal gerade erst Vierjährigen werden dadurch zu Kamalari – übersetzt: hart arbeitende Frau. Sie müssen bis zu 18 Stunden am Tag putzen, waschen, kochen, bekommen selbst nur das Nötigste zu essen, viele werden geschlagen oder sexuell misshandelt. „Mir wurde die Kindheit gestohlen“, sagt Urmila. „Spielen, lachen, unbeschwert sein – das alles hatte ich nicht.“
Ihr Sklavendasein beginnt, als sie sechs Jahre alt ist. Es beginnt ausgerechnet mit einem Paar Flip-Flops, einem harmlosen Paar Schuhe. Drei gut gekleidete Herren kommen am Neujahrsfest in Urmilas Heimatdorf, einer von ihnen will Urmila als Kamalari für seine Tochter mitnehmen. „Aber ich habe doch nicht einmal Schuhe“, sagt Urmila. Daraufhin gibt der Mann Urmilas Bruder Geld für ein paar billige Latschen. „Wenn ihr noch 4000 Rupien drauflegt, kommt Urmila mit euch“, verspricht Urmilas Bruder. 4000 Rupien. Das sind 40 Euro. Für Urmilas Familie ein Vermögen.
Und so muss Urmila mitgehen, neue Flip-Flops an den Füßen, Angst und Trauer im Herzen. Acht Jahre lang schuftet sie für die Familie ihrer ersten Maharani. Die Kinder der Familie muss sie als Prinz und Prinzessin anreden. Sie trägt jetzt kurze Haare und westliche Kleidung, wie in Nepals Hauptstadt Kathmandu üblich, magert durch die Arbeit stark ab. Als sie nach vier Jahren zum ersten Mal ihre Eltern besuchen darf, erkennt die Mutter sie anfangs nicht. „Sie dachte, ich wäre irgendein Junge.“
Urmila will bei ihrer Familie bleiben und endlich zur Schule gehen. Denn Lernen ist ihr größter Wunsch. „In Nepal sagen wir: im Schülerleben ist das Buch der Schlüssel zur Welt, das Heft ist die Seele des Schülers, und der Stift bringt den Schüler zum Ziel.“ Aber Urmila muss zurück nach Kathmandu, ihre Familie ist auf den geringen Verdienst, den sie für Urmilas Arbeit dort bekommt, angewiesen. Urmila fügt sich, erst weitere vier Jahre später darf sie ein zweites Mal ihre Familie besuchen.
Mittlerweile kann sie ein wenig lesen und ein paar Brocken Englisch, aufgeschnappt von den Kindern ihrer Maharani beim Lernen. Sie ist jetzt 14, selbstbewusster, wütender. Sie weiß, dass sie auch dieses Mal zurück nach Kathmandu muss, doch vorher nimmt sie all ihren Mut zusammen und verlangt von ihren Verwandten: „Versprecht mir, dass ich die letzte Kamalari in dieser Familie bin.“ „Erst haben mich alle entsetzt angeschaut“, erzählt Urmila. Doch dann bekommt sie das Versprechen. „Da habe ich vor Glück geweint.“
Für sie selbst wird die Situation allerdings schlimmer. Ihre Maharani schickt sie zu deren Tante, einer ranghohen Politikerin, deren Namen Urmila bis heute nicht nennen mag: „Ihre Familie ist zu einflussreich.“ Stattdessen sagt sie „cruel Ma’am“, grausame Frau, wenn sie von ihr spricht. „Ich war ihre Haussklavin“, erzählt Urmila. „Von vier Uhr morgens bis nachts musste ich ihr jeden Wunsch erfüllen.“ Urmila darf ihren goldenen Käfig kaum verlassen, sie vereinsamt total, erfährt nur durch gelegentliches heimliches Zeitunglesen oder Fernsehen, was da draußen in der Welt geschieht. Was ihr neben der Lektüre in dieser Zeit vor allem hilft, ist das Schreiben – obwohl sie Rechtschreibung nie gelernt hat. „Ich habe die Worte einfach so aufgeschrieben, wie ich sie ausgesprochen habe“, erzählt Urmila. „Tagebücher waren meine einzigen Verbündeten.“ Urmila schreibt aber nicht nur von ihren Erlebnissen, sie denkt sich auch Geschichten aus und sie dichtet Lieder. „Darin war ich immer frei. Ich konnte selbst über mein Leben bestimmen“, sagt sie.
Wenn „cruel Ma’am“ sie wieder einmal gedemütigt, ihr minderwertiges Essen gegeben oder zu einer Massage gezwungen hat, vor der Urmila sich so sehr ekelt, gibt ihr ein traditionelles Volkslied besonders viel Kraft. Darin heißt es: In den Augen der Blume gleicht die Welt einer Blume.“ Das bedeutet, wenn man die Welt mit dem Herzen sieht und ihr freundlich gesinnt ist, dann ist sie auch schön. „An diese Botschaft glaube ich bis heute.“ Urmila lächelt, sie redet jetzt energischer, unterstreicht ihre Sätze mit lebhaften Gesten.
Es dauert dann aber noch drei Jahre, bis Urmila mit Hilfe ihres Bruders in ihr Heimatdorf zurückkehren kann. Was er nicht ahnt: Dieses Mal wird Urmila bleiben.
Sie hat in der Zeitung von der Hilfsorganisation Plan gelesen, die in ihrem Bezirk seit Kurzem gegen das Kamalari-System kämpft und es auch älteren Kamalari-Mädchen ermöglicht, zur Schule zu gehen oder mit Mikrokrediten eigene Geschäfte zu eröffnen. Gleichzeitig bekommen Familien Unterricht in Anbaumethoden und Nutztiere zur Aufzucht, damit sie ihre Lebensgrundlage verbessern können und davon absehen, ihre Töchter zu verkaufen. „Das waren wunderbare Nachrichten“, sagt Urmila, und ihre großen Augen strahlen bei der Erinnerung. „Jetzt hatte ich endlich wieder Hoffnung. Mein ganzer Körper hat vor Aufregung gekribbelt.“
Kaum zu Hause angekommen, trifft Urmila auf eine Gruppe anderer ehemaliger Kamalari-Mädchen, die sich auf eine Demonstration vorbereiten. Urmila will sich anschließen, doch die anderen sind anfangs misstrauisch: „Ich trug westliche Kleidung, kam aus der Großstadt, konnte lesen und etwas Englisch – sie glaubten mir nicht, dass ich eine von ihnen bin.“ Doch Urmila zeigt schnell, wie viel Power in ihr steckt, wie sehr der Kampf für die Rechte von Nepals Töchtern ihre Herzensangelegenheit ist. „Vielleicht ist das meine Berufung“, überlegt sie, „mich für etwas einzusetzen und zu kämpfen.“
Urmila schreibt Theaterstücke über das Leid der Mädchensklaven, wird Sprecherin der ehemaligen Kamalari in ihrem Bezirk, fordert ihre Rechte vor Politikern ein. Und endlich geht auch ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung: Einen Monat nach ihrer Rückkehr, Urmila ist jetzt 17, besucht sie das erste Mal eine Schule. Sie bekommt eine Uniform, Stifte, Bücher – und ein paar Flip-Flops. „Mit einem Paar Kinderlatschen hatte mein Leben als Kamalari begonnen, und mit einem Paar Schuhe endete es nun. So schließt sich der Kreis.“ Die Flip-Flops hat Urmila bis heute.
2008 eröffnet sie mit zwei Freundinnen ein Fotostudio, verdient jetzt ihr eigenes Geld. Immer mehr ehemalige Kamalari machen sich mit Hilfe von Plan selbstständig, die meisten ihrer Läden, egal ob Restaurant oder Nähstube, nennen sie Lamajuni: Neues Leben, neues Glück.
Viel Zeit verbringt Urmila allerdings nicht im Fotostudio: „Der Kampf ist wichtiger, noch sind nicht alle Sklavenmädchen frei.“ Immer wieder ruft sie mit anderen Abgeordneten des Kamalari-Forums zu Aufklärungs- und Befreiungsaktionen auf. Mit der Unterstützung von Plan und anderen Hilfsorganisationen konnten so bis heute allein in Urmilas Heimatdistrikt 1700 Sklavenmädchen zu ihren Familien zurückkehren oder ins Narti-Hostel ziehen, einem Wohnheim, das Plan betreibt.
Auch Urmila lebt hier eine Zeit lang, schließt zum ersten Mal im Leben Freundschaften, darf ein unbeschwerter Teenager sein, schaut Bollywood-Filme, singt, tanzt, lacht – oder lernt. In zwei Jahren möchte sie ihren Schulabschluss machen, danach studieren und Anwältin werden. „Dann kann ich den Mädchen und Frauen in Nepal noch besser helfen“, sagt sie.
Dass sie schon so viel erreicht hat, ist ihr nicht genug. Und bekommt sie Lob, gibt sie es sofort weiter, alleine hätte sie das alles schließlich nicht geschafft: „Ein Finger, so stark er auch ist, kann ein Glas nicht umdrehen. Man braucht immer die ganze Hand dafür.“
Urmila lächelt wieder, schaut länger aus dem Fenster. Die Sonne scheint, es ist ein schöner, friedlicher Nachmittag. Ein Ausflug an die Ostsee steht heute noch an, denn Urmila hat in ihrem Leben noch nie das Meer gesehen, und das möchte sie nun unbedingt nachholen. Sie hat noch viele Träume, möchte weiter reisen, zur Chinesischen Mauer, nach Tibet. Vielleicht schafft sie es auch nach Nordindien und zum Dalai Lama, dem sie damals im Haus ihrer Maharani Tee servierte – ohne zu ahnen, wen sie da eigentlich vor sich hatte. „Ich habe ihn erst später durch ein Bild in der Zeitung wiedererkannt.“ Jetzt fände sie es spannend zu sehen, ob er auch sie wiedererkennen würde, das „good girl“ von damals. Aber konkrete Reisepläne macht sie noch nicht.
„Wer weiß schon, was die Zukunft bringt“, sagt sie. „Wer weiß, wohin mein Buch und meine Mission mich als Nächstes führen. Ich werde es sehen.“ Auf jeden Fall wird sie weiter für Nepals Töchter kämpfen. In ihrem neuem Leben, als freies Mädchen. Urmila trägt ihren Namen schließlich nicht umsonst: Er bedeutet „Neuanfang“ oder auch „zweite Chance“. Urmila nutzt sie. • XNiP: FB9AFE

Urmila Chaudharys Buch, „Sklavenkind“, ist im Knaur Verlag erschienen, 322 Seiten, 16,99 Euro.
Informationen zum Engagement von Plan Deutschland gegen das Kamalari-System sowie Spendenmöglichkeiten unter www.plan-deutschland.de

Text: Maren Albertsen
Foto: Hannah Schuh